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Ein Geschenk des Lebens, Künstlerin zu sein

Eine der bedeutendsten bildenden Künstlerinnen Brasiliens: Fayga Ostrower

Fayga Ostrower, langjährig verheiratet mit dem ehemaligen KPO-Mitglied Heinz Ostrower (vgl. Lebenswege ila 175) zählt heute aufgrund ihres künstlerischen und pädagogischen Schaffens zu den anerkanntesten VertreterInnen der Bildenden Künste Brasiliens. Ihr Werk, für das sie mit zahlreichen nationalen und internationalen Preisen, darunter 1958 der Große Internationale Preis für Graphik auf der Biennale von Venedig, ausgezeichnet wurde, umfaßt vor allem graphische Arbeiten. In Brasilien gilt Fayga Ostrower als Vorreiterin und herausragende Vertreterin der brasilianischen Graphik. Neben ihrer praktischen Arbeit setzt sie sich intensiv – auch publizistisch – mit kunsttheoretischen Fragen auseinander. Fayga Ostrower wurde 1920 als Kind jüdischer Eltern in Polen geboren. 1921 siedelte sie mit ihrer Familie nach Wuppertal um. Unter dem Druck der nationalsozialistischen Judenverfolgung floh die Familie 1933 nach Belgien, von wo es dann 1934 weiterging nach Brasilien. Die Emigration nach Brasilien beendete schlagartig jede Möglichkeit zu schulischer Weiterbildung. Die mittellose Familie fand sich unversehens im Armutsgürtel von Rio de Janeiro wieder. Wie Fayga Ostrower sich aus dieser Situation befreite und schließlich den Weg zur Kunst fand, wie sich ihre Arbeit entwickelte und wie sie das Verhältnis von Kunst und Politik sieht, schildert sie in dem folgenden Interview.

Sieglinde Fiedler

Du bist vor mehr als 50 Jahren nach Brasilien gekommen. Wieso und auf welchem Wege ist das passiert?

Meine Eltern lebten in Deutschland, in Wuppertal. Sie kamen ursprünglich aus Polen, und ich selbst bin auch noch in Polen geboren, aber als ich ungefähr ein Jahr alt war, sind meine Eltern ausgewandert. Meine Geschwister sind in Deutschland geboren. Wir wohnten zuerst in Elberfeld und dann in Barmen, wo ich auch zur Schule gegangen bin. Ich hatte großes Glück und besuchte eine fortschrittliche Schule, wo ich es ganz herrlich fand. Mein Vater war sehr religiös und orthodox-jüdisch. Er war Talmudist. Ich kann mich nicht recht daran erinnern, ob er in der jüdischen Gemeinde unterrichtet oder nur diskutiert hat. Auf jeden Fall hat er sich auf irgendeine Art dort ziemlich exponiert, so daß er, als die Nazis an die Macht kamen, auf das Polizeiamt geladen wurde, wo er sich mit seinem Paß melden sollte. Anstatt sich bei der Polizei vorzustellen flüchtete er nach Brüssel, wo wir Verwandte hatten. Er ließ meine Mutter mit vier kleinen Kindern in Deutschland zurück. Sie sollte dort sein Geschäft schließen – er hatte einen kleinen Laden für gebrauchte Kleidung – und alle Sachen in Ordnung bringen. Mein Vater war ziemlich rücksichtslos in dieser Beziehung. Ich war damals zwischen zehn und elf Jahre alt, so daß ich manches nur vage erinnere, aber ich habe schon einen Eindruck von der Zeit. Wir mußten aus unserer Wohnung raus, denn es wurde gleich bekannt, daß mein Vater geflüchtet war. Wir wohnten noch einige Wochen bei Freunden oder Bekannten meiner Eltern und fuhren dann nach Köln, wo meine Mutter versuchte, ein Visum nach Belgien zu bekommen. Aber sämtliche Länder waren schon geschlossen. So fuhren wir nach Aachen, wo es offensichtlich Schmuggler gab, die die Leute über die Grenze brachten. Eines Nachts – das war noch 1933 – sind wir dann über die Grenze nach Eupen gewandert.
Mein jüngster Bruder war damals sechs Jahre alt. Er dachte, daß es sich um einen Schulausflug handelte, und er fing unterwegs an zu singen. Es war eine kleine Gruppe, und sie hätten ihn fast erschlagen. Sie konnten ihn einfach nicht zur Ruhe bringen. Auf jeden Fall waren wir am nächsten Morgen auf der belgischen Seite. Da ich die einzige war, die Französisch konnte – ich hatte das schon im Gymnasium –, wurde ich an einen Schalter geschickt, um Fahrkarten nach Brüssel zu kaufen. Es gelang mir auch, aber es war ein aufregendes Unternehmen für mich. So kamen wir damals nach Brüssel, und dort ging ich dann auch wieder zur Schule, die mir aber nicht so gut gefiel wie in Deutschland, denn es war ein ganz anderes System, das viel mehr dem brasilianischen System ähnlich ist. Ich meine, in Deutschland war die Haltung den Schülern gegenüber, die Motivation der Schüler eine ganz andere, viel weniger formal als in Belgien, wo es sich im Grunde genommen um Auswendiglernen handelte. Die Schule in Deutschland war viel, viel fortschrittlicher im Sinne des eigenen Nachdenkens und Teilnehmens. Ich lernte damals sehr gut französisch sprechen und habe später auch sehr viel auf französisch gelesen. Ich lerne gerne Sprachen und habe ein Talent dafür. Wir blieben nur ein Jahr in Belgien, denn meine Eltern bekamen keine Arbeitserlaubnis. Es gab damals verschiedene Organisationen, die sich um Flüchtlinge kümmerten und ihnen auch Visa für verschiedene Länder vermittelten. Ich habe dann später erfahren, daß es damals in Südamerika noch möglich war einzuwandern. So sind wir 1934 nach Brasilien gekommen. Ein Zufall, denn mein Vater hätte genauso gut nach Argentinien oder Bolivien gehen können.

Wie sahen deine ersten Jahre in Brasilien aus?

In Brasilien war ich schon kein Kind mehr, denn meine Kindheit war mit der Flucht aus Deutschland zu Ende, und ein anderes Leben fing an, besonders weil wir in völlig andere Verhältnisse kamen. Meine Eltern waren sehr arm, und wir zogen gleich nach einer Woche nach Nilópolis. Für mich waren Nilópolis und diese ganzen Vorstädte von Rio der Ausdruck der größten Misere, aber nicht nur materiell, sondern auch intellektuell. Abgesehen davon, daß du kein Wasser hattest, die sanitären Umstände miserabel waren, gab es auch intellektuell gar nichts mehr. Für mich war das Ganze Staub und Schmutz. Nachts konntest du nicht schlafen wegen der Mücken und Kakerlaken. Es war einfach scheußlich. Außerdem bekam ich große Probleme mit meinen Eltern, hauptsächlich religiöse Probleme mit meinem Vater, dem es unmöglich war, eine etwas liberalere Haltung anzunehmen. Er war schrecklich in dieser Beziehung und blieb immer schrecklich, völlig egozentrisch und dogmatisch. Ich hatte die schlimmsten Auseinandersetzungen mit ihm, aber auch mit meiner Mutter, leider. Meine Mutter war eine Persönlichkeit, die ich leider erst sehr, sehr spät kennenlernte, kurz vor ihrem Tode, was mir heute sehr leid tut. Ich habe nicht verstanden und konnte auch nicht verstehen, wie unglücklich sie war, wie sehr sie vom Leben selbst zermürbt war. Sie wurde einfach stumm. Aber weil sie selbst so unglücklich war, wahrscheinlich auch in ihrer Ehe, machte sich das dann den Kindern gegenüber bemerkbar, besonders mir gegenüber, weil ich so gerne las und irgendwie immer in einer Ecke steckte mit einem Buch. Sie identifizierte diese Bücher mit meinem Vater und konnte es nicht ertragen, daß ich mich sozusagen in die Welt der Bücher rettete oder flüchtete. Ich sollte ihr im Haushalt helfen, sollte alle möglichen Sachen machen, aber eben nicht lesen. Sie selber war Analphabetin. Sie konnte nicht lesen und schreiben, aber sie war sehr sensibel. Sie war sehr, sehr unglücklich. Mit ihr hatte ich auch schreckliche Streitereien. Ich war noch nicht ganz 13 Jahre alt, als ich erklärte, ich ginge arbeiten. Dieses Leben meiner Eltern wollte ich nicht führen. Was konnte ich mit 13 Jahren machen? Ich hatte keine Erfahrung, keine Ausbildung, nichts. Das einzige, was ich zu bieten hatte, waren Sprachen. Ich sprach damals Deutsch und Französisch, und ich lernte Portugiesisch. Ich fing zunächst in einer deutschen Buchhandlung an. Die meisten Deutschen hier waren furchtbar nationalsozialistisch. Da ich mit meinen blauen Augen aber wie ein BDM-Mädchen aussah, hat mich nie jemand gefragt, ob ich Arierin bin oder nicht. Als ich merkte, daß in dieser Buchhandlung alle Nazis waren, ging ich nach einem Jahr zu einer anderen Firma, wo die Geschäftsleitung ebenfalls von Deutschen geführt wurde. Auch dort blieb ich nur ein Jahr und entschloß mich, überhaupt nicht mehr mit Deutschen zu arbeiten. Ich machte einen Kursus in Schreibmaschine, und so langsam fing damit eine Karriere als Sekretärin an, zuerst als einfache Schreibkraft, aber dann lernte ich selbst Englisch. Ich kaufte mir ein Buch, das ich bis heute kenne, weil es mir solche Schwierigkeiten bereitete, es zu lesen, und ein Wörterbuch dazu. Es war „Grand Hotel“ von Vicki Baum. Ich übersetzte es Wort für Wort aus dem Wörterbuch und bekam so eine Ahnung von der Sprache, konnte aber nicht sprechen. Mit 16 Jahren stellte ich mich dann bei einer amerikanischen Firma vor und hatte großes Glück. Ich trat in diese Firma ein und habe dann immer entweder in englischen oder amerikanischen Firmen gearbeitet. In diesen Stellungen blieb ich elf Jahre lang und machte eine großartige Karriere. Am Ende war ich Chefsekretärin des Präsidenten der General Electric und verdiente sehr gut, war außerdem Leiterin des gesamten Sekretariats.

Wann hast du angefangen, dich für Kunst zu interessieren?

Ich habe immer gerne gezeichnet, auch schon in Deutschland. Ich hatte dort eine Lehrerin für Zeichnen und Handarbeiten. Meine Handarbeiten waren miserabel, die Zeichnungen aber gut. Sie gab mir deshalb auch im Handarbeiten eine bessere Note. Auf dem Schiff, mit dem wir nach Brasilien kamen, habe ich sämtliche Leute gezeichnet. In eine Kunstschule konnte ich aber nicht gehen, denn das konnten meine Eltern nicht bezahlen. Auch die Escola de Belas Artes war mir verschlossen, denn das ist schon Universitätsniveau, und außerdem wäre es ganztags gewesen. Mit 18 Jahren aber, als ich schon mit meinen Eltern nach Rio gezogen war und etwas freier über meine Zeit verfügen konnte, trat ich in eine künstlerische Gesellschaft ein, die im Zentrum in der Avenida Rio Branco ein Atelier hatte, wo ich am Spätnachmittag oder -abend hingehen und anhand eines Aktmodells zeichnen konnte. Wenn man wollte, konnte man einen Lehrer haben. Ich fing also an, auf eigene Faust Modellzeichnungen zu machen.
Dann heiratete ich mit 21 Jahren. Ich hatte meinen Mann in einer Buchhandlung, die auch eine Leihbücherei hatte, kennengelernt. Er arbeitete dort. Wir heirateten während des Krieges. Ich als gebürtige Polin arbeitete in amerikanischen Firmen und zählte sozusagen zu den Alliierten. Mein Mann bekam als Deutscher, nachdem Brasilien im allerletzten Moment auf die Seite der Alliierten getreten war, keine Stellung mehr, später dann aber doch eine Halbtagsstelle. Ich arbeitete noch verschiedene Jahre im Büro, und nebenbei fing ich an, sozusagen für mich selbst Illustrationen für bestimmte Bücher zu machen, die mich sehr beeindruckten. Das erste war „O cortico“ von Aluízio de Azevedo, ein Buch, das in der Linie von Zola steht. Es war eines der ersten Bücher, das ich in Brasilien las und das mich sehr beeindruckte, denn es hatte mit der Realität zu tun, die ich selbst erlebte. Ich hatte die verschiedensten Phantasien über Brasilien gehabt, und die Realität war ganz anders. Ich machte Linolschnitte. In einer meiner Stellungen hatte mir ein Kollege zwei Stichel geschenkt. Mit diesen zwei Sticheln habe ich angefangen, Linolschnitte zu machen. Ich habe ein Jahr lang an diesem Buch gearbeitet. Dann habe ich ein zweites Buch illustriert, „Fontamara“ von Ignazio Silone, einem Italiener, der der Resistencia angehörte. Das Buch schildert den Einmarsch der Faschisten in das Dorf Fontamara in den Abruzzen. Ich habe es auch mit Linolschnitten illustriert, die schon viel besser als die ersten waren. Dazu muß ich noch erwähnen, daß während des Krieges hier in Rio eine ganze Gruppe von Kriegsflüchtlingen und Antifaschisten verschiedenster Nationalitäten zusammenkam: Deutsche, Österreicher, Portugiesen, Spanier, Italiener. Es war eine hochinteressante Gruppe, zu der u. a. bildende Künstler, Kunsthistoriker und Musiker gehörten. Ich lernte sie alle kennen und hatte also schon bestimmte Fäden zur Kunst geknüpft. Als ich 24 Jahre alt und auf der Höhe meiner Sekretärinnenlaufbahn war, da pochte das Schicksal an meine Tür in Form eines Zeitungsartikels, in dem ein freier Graphikkurs, in dem verschiedene graphische Techniken unterrichtet würden, angekündigt wurde. Der Kurs sollte tagsüber stattfinden und war für sechs Monate geplant. Ich besprach das mit meinem Mann und sagte, das sei etwas, was ich unbedingt machen wollte. Wir müßten uns eben sechs Monate lang einschränken und genügsam leben. Danach würde ich dann eine andere Arbeit annehmen, was bei meinen Referenzen kein Problem wäre. Das war eigentlich eine Lebensentscheidung. Ich kündigte meine Arbeitsstelle, um mich der Kunst zu widmen. Der Kursus war keine großartige Angelegenheit, aber zum ersten Mal in meinem Leben machte ich etwas, mit dem ich mich vollkommen identifizierte. Diese Sekretärinnenlaufbahn war mir fürchterlich langweilig. Tatsächlich bin ich nie wieder zurückgegangen ins Büro. Als der Kurs zu Ende war, habe ich beschlossen, ich würde irgend etwas arbeiten, egal was, solange es mit Kunst zu tun haben würde. Ich fing an, für Zeitungen zu arbeiten und die Sonntagsausgaben zu illustrieren. Damals hatten alle Zeitungen – es gab neun oder zehn in Rio, heute nur noch zwei – eine Sonntagsbeilage, die kultureller Art war. Später habe ich dann Gedichtbände der verschiedensten brasilianischen Dichter illustriert, fast von allen, die mich dann auch aufsuchten, und so habe ich eben auch diese Menschen kennengelernt, die Dichter und Musiker, und das war etwas ganz anderes, das war etwas, was mich wirklich interessierte. Ein oder zwei Jahre später habe ich angefangen, selbst zu unterrichten, und zwar zunächst praktisch, Zeichnen, Graphik und Malerei. Dann fing ich an, mich sehr viel mit Theorie zu beschäftigen, selbst zu lesen und zu studieren. Die Probleme der Theorie faszinierten mich und faszinieren mich bis heute, die Probleme der visuellen Sprache, der visuellen Sprachformen. Ich lernte durch Bücher, denn damals gab es hier keine Museen wie heute. Ich lernte aus Büchern das Werk von Cézanne kennen und bekam einen ersten Eindruck von dem, was Raumprobleme bedeuten, und das hat eine wahre Revolution in meinem Kopf hervorgerufen. Durch Cézanne kam ich auf den Kubismus, ich selbst wurde aber nicht Kubistin. Langsam änderten sich meine Zeichnungen. Ich habe sehr viel gezeichnet, bin oft in die Favelas gegangen. Es war damals überhaupt nicht gefährlich, ich nahm ein oder zwei Kilo Bonbons mit für die Kinder, und sie bildeten lange Reihen, um mir Modell zu sitzen und zu stehen. Ich habe sehr viele Zeichnungen von Favelas gemacht, hauptsächlich von Kindern und Frauen und von Wäscherinnen. Ich merkte dann aber, wie sich unter dem Einfluß von Cézanne mein Stil änderte. Er wurde zunächst immer expressionistischer, aber dann langsam abstrakter. Nach einem Zeitraum von ungefähr drei, vier Jahren wußte ich, daß meine Arbeiten abstrakt sein würden. Und das war nicht so ganz einfach, denn als ich meine erste Ausstellung mit abstrakten Graphiken machte, da bekam ich die schlechtesten Kritiken, die man sich überhaupt vorstellen kann, und nicht nur im Sinne, daß meine Arbeiten, die ja schließlich vorher für sehr interessant befunden worden waren, auf einmal als rein dekorativ gewertet wurden. Ich selbst wurde auch als eine Verräterin des Menschentums in der Kunst betrachtet, denn die meisten Kunstkritiker, die damals in den Zeitungen schrieben, gehörten der kommunistischen Partei an, und für die war der einzige Stil, der überhaupt in Frage kam, der Sozialrealismus. Abstrakte Kunst, das war ein Antichrist, das war ein Verrat an der Menschheit. Ich wurde Trotzkistin genannt. Das war die schlimmste Beschimpfung, die man mir nur erteilen konnte. Sie brachen sämtliche Beziehungen zu mir ab, Kunstkritiker und auch Künstler, die sozusagen meine Freunde gewesen waren, die aber eben der Partei angehörten. Ich wußte, daß das Blödsinn war, daß ich keine Verräterin war.

Du warst verheiratet mit einem unabhängigen Kommunisten, der Mitglied der KPO gewesen war und auch als Trotzkist beschimpft wurde. Welche Bedeutung hatten der Marxismus und diese Ehe für dich?

Das hatte eine große Bedeutung für mich, denn als ich meinen Mann und seine Haltung und Vergangenheit kennenlernte, da war er für mich ein Held... Wir hatten dann aber auch Meinungsverschiedenheiten. Ich denke, man müßte einen Unterschied machen zwischen meiner politischen Haltung den gegenwärtigen Verhältnissen gegenüber, die zweifellos der Haltung meines Mannes entspricht, und dem Politischen auf die Kunst im allgemeinen bezogen. Das ist schon eine andere Sache, denn ich war mit verschiedenen Stellungnahmen gar nicht einverstanden, wie z. B. der sehr häufigen Aussage, die Kunst sei der Ausdruck der herrschenden Klasse. Das geht dann zurück darauf, daß die Ökonomie die Basis oder die Infrastruktur für alles bietet, für sämtliche kulturellen Äußerungen und sogar für das Bewußtsein des Menschen. Ich will auf keine theoretischen Fragen eingehen, denn ich bin gar nicht darin bewandert. Aber diese Aussage, die Kunst ist der Ausdruck der herrschenden Klasse, ist für mich ganz unannehmbar, im Sinne, daß in gewisser Weise die Kunst wenn nicht zu einer Art Propaganda dann doch zu einer Art dokumentarischen Illustration herabgesetzt wird. Ich bezweifle z. B., daß die Fellachen in Ägypten, die ja die Pyramiden erbaut haben und die wirklichen Künstler waren, unter anderen sozialen Umständen, in einer freieren Gesellschaft nicht dieselbe Mythologie, dieselbe Weltanschauung hätten, dasselbe Weltbild und dieselben künstlerischen Formen, denn was nicht verordnet werden kann, noch indirekt durch irgendein Marketing heute beeinflußt werden kann, das ist der Stil. Das ist ganz unmöglich. Entweder das Stilistische entspricht tatsächlich einer inneren Haltung dem Weltgeschehen und der Welt gegenüber, oder es wird zu keinem Stil. Man kann das in jeder Kunstepoche anerkennen. Die Pharaonen hatten sicherlich große Macht nicht nur über das Ökonomische, sondern auch über das Geistige, sie waren ja schließlich die Vertreter der Gottheit. Sie waren ja sogar über die Hohen Priester gestellt, aber trotzdem können sie keinen Stil verordnen. Das ist ganz unmöglich, denn sie müßten imstande sein zu sagen, du mußt so glauben und nicht anders.
Um noch ein anderes Beispiel zu geben. Wenn man sich die Bilder von Vermeer ansieht, kann man doch nicht sagen: Vermeer, das ist eine Verherrlichung des bürgerlichen Wohlstandes im 17. Jahrhundert in Holland. Damit geht man völlig an dem vorbei, was seine Bilder bedeuten. Hat er da etwa nur die Möbel dargestellt, die sich die Bürger leisten konnten und die er sich nicht leisten konnte? In seinen Bildern ist etwas von einer hohen Poesie, von großer Stille und Harmonie enthalten. Vermeer ist für mich der Mozart der Malerei. Da kann man doch nicht sagen, sein Bild ist eine Verherrlichung der Werte der herrschenden Klasse. Natürlich, es sind immer dieselben Teppiche und Möbel, die er malt. Aber ist das die Kunst? Diese direkte, mechanistische Art, das Ökonomische in Verbindung zu stellen mit dem sogenannten geistigen Überbau, mit den inneren Werten des Menschen, kann ich nicht annehmen. Da wird von dem Marxismus völlig übersehen, daß erst nach der Französischen Revolution eine Situation entsteht, in der die Künstler die existenziellen Werte der Gesellschaft zumindest diskutierten, wenn nicht gar verleugnen. Die Romantik ist die erste künstlerische Bewegung, die diese Werte in Frage gestellt hat. Bis dahin hat kein Künstler die Werte der Gesellschaft in Frage gestellt. So etwas gibt es überhaupt nicht in der Weltsicht eines Leonardo da Vinci, auch nicht eines Rembrandt. Da wird nicht protestiert. Stilistisch gibt es keinen Proteststil. Um eine wirkliche Protestkunst zu schaffen, muß man ein Goya sein. Man muß in der Lage sein, die ganze Sprache zu erneuern, um mit der Erneuerung der Sprache noch einen Protest auszudrücken. Und das gibt es erst mit Goya, und ab Goya vielleicht ein oder zwei Künstler. Das ist nicht die Aufgabe der Kunst, und es ist auch nicht das, was die Kunst ausmacht. Natürlich kann ein Protest völlig gültig sein, aber ein Protest ist ein Pamphlet, und Kunstwerke sind keine Pamphlete. Sogar die Marxisten – und das ist eine Sache, über die ich oft mit meinem Mann diskutiert habe – glauben, daß Kunst einen Pamphletcharakter hat. Das hat sie aber nicht, und als Künstlerin kann ich das auch überhaupt nicht annehmen.

Welches ist der Motor für dein künstlerisches Schaffen?

Das bist du selber. Darüber kannst du dir keine Gedanken machen. Das ist dein innerstes Ich. Der Motor bist du.

Gibt es so etwas wie ein Anliegen deines künstlerischen Schaffens?

Ich glaube, das einzige Anliegen, das der Künstler hat, ist zu versuchen, so wahrhaftig zu sein, wie er kann, und sich selbst nichts vorzumachen. Du kannst dir nicht die Aufgabe stellen, etwas Großartiges zu machen. Du nimmst dir ein gewisses formales Problem vor, indem du sagst, ich werde einen Holzschnitt machen oder ich werde malen, und ein gewisses Format, klein oder groß. All diese Dinge nimmst du dir vor, und trotzdem sind sie nicht rationalisiert. Weshalb bleibt Klee immer bei kleinen Formaten? Er hat eben gespürt, daß seine Welt eine sehr intime Welt ist und keine großen Formate erlaubt. Deshalb waren für ihn die kleinen richtig.
Meinst du nicht, daß man im Falle von Käthe Kollwitz, der du dich sehr verbunden gefühlt hast, diese Frage des Anliegens des künstlerischen Schaffens noch anders fassen kann?

Natürlich, besonders Käthe Kollwitz, die ich sehr verehrte und verehre und die mich zusammen mit Cézanne und noch vor Cézanne am stärksten beeinflußt hat – meine ersten Sachen sind sehr von ihr beeinflußt, nicht nur die Thematik, sondern auch die ganze formale Ausarbeitung. Bei Käthe Kollwitz gab es nicht nur Sympathie, sondern eine große Empathie mit einer bestimmten sozialen Schicht, deren Lebensituation, Hunger, Armut und Not. Und trotzdem würde ich heute sagen, daß ihre größten Werke nicht sozialer Natur sind. Da, wo sie über gewisse Themen spricht, die über das Soziale hinausgehen, wird sie eigentlich erst zur großen Künstlerin, wo sie sich dem Thema des Todes und ihren Selbstbildnissen zuwendet. Diese absolute Wahrheit, dieser Mut, sich selbst zu sehen, da ist sie die große Schöpferin, größer als in ihrem sozialen Werk. Es ist furchtbar schwer, diese Themen tatsächlich in Kunstsprache auszuarbeiten. Dazu muß man ein Goya sein oder ein Daumier, aber das war Käthe Kollwitz nicht. Ich finde, daß sie eine große Künstlerin war. Trotzdem wird sie für mich in ihrer eigenen Arbeit erst am Ende zur großen Schöpferin, als es nicht mehr so notwendig war, sich an diese Thematik gebunden zu fühlen, sondern wo sie sich dem Leben selbst oder den Lebensproblemen zuwenden und unabhängig von einer bestimmten politischen Ansicht künstlerisch ausdrücken konnte. Das sind ihre größten Werke. Ich empfinde es so als Künstlerin. Solange du illustrativ arbeitest, ist es eine Begrenzung für dich, welches Thema auch immer es sei. Für mich ist auch Stendhal unvergleichlich größer als Zola. Er stellt aus den Möglichkeiten der Sprache heraus Probleme, die in eine andere Art Bewußtsein führen, die viel tiefer sind als die Beschreibung von bestimmten sozialen Verhältnissen, auch wenn es bewundernswert ist, daß Zola so geschrieben und Käthe Kollwitz so gezeichnet hat. Da waren mein Mann und ich übrigens nicht immer derselben Meinung. Aber nun gut, er hat das Recht auf seine Meinung und ich auf meine.

Heißt das, daß die wirkliche Kunst unpolitisch ist?

Wenn du damit meinst „an der Tagespolitik teilnehmend“, dann ja. Unpolitisch im Sinne von der polis ist sie aber nicht, denn das Erleben des Stadtstaates, wo die polis das Erleben des Sozialen und des Menschlichen bedeutet, geht sicherlich in die Kunst mit ein. Mit Politik im Sinne der Tagespolitik hat die Kunst jedoch nichts zu tun. Es gelingt noch einem Picasso, ein Bild gegen den Krieg zu malen mit seinem Guernica, aber Picasso ist kein Maler, der jederzeit vorkommt, und außer diesem Bild ist es ihm auch nicht gelungen.

Hast du selber deine erste Phase der figürlichen Darstellung, wo du dich der sozialen Thematik gewidmet hast, abgeschlossen, weil du meintest, du würdest dich durch diese Thematik zu sehr binden?

Tatsache ist, daß es verschiedene Ursachen hatte. Ich bin in die Favelas gegangen, zwar nicht um direkt einen Appell zu schaffen, aber weil mich das Thema, das Soziale sehr angesprochen und berührt hat. Dann bin ich langsam auf Cézanne gekommen und habe mich in die Kunstsprache, in die Kunstprobleme einführen lassen und habe gesehen, daß das Motiv eine Sache darstellt. Der Ausdrucksgehalt eines Werkes wird aber nicht vom Motiv gehalten, sondern von der inneren Struktur des Werkes, und diese ist abstrakt. Sie ist nicht mehr beschreibend, sondern eine Abstraktion. Ich selbst bin in einem bestimmten Moment an den Punkt gekommen, wo sich das in mir klarer darstellte und auch intellektuell zum Ausdruck kam. Bis dahin bewegte sich das ganze auf einem nicht intellektuellen Niveau, und ich war mir gar nicht im klaren darüber, was diese inneren Konflikte überhaupt bedeuteten. Ich war mit einem Holzschnitt beschäftigt, dessen Thema eine soziale Thematik darstellte, und zwar die retirantes, die Flüchtlinge aus dem Trockengebiet des Nordostens. Mein Holzschnitt wurde immer abstrakter und abstrakter, und ich dachte, das ist doch Unsinn, ich gehe ja vom Thema weg. Das hat mir sehr viel zu schaffen gemacht. Ich selber war bestürzt darüber. Ich dachte, ich gehe ja den falschen Weg, ich gehe ja gar nicht mit diesen retirantes mit. Es kamen mir dann sehr große Zweifel, ob in gewissen Situationen, ich würde sagen Grenzsituationen der menschlichen Existenz wie z. B. Hungersnöte, Konzentrationslager, Atomkrieg, jemand ein Kunstwerk gestalten kann. Ich denke übrigens, daß Picasso mit Guernica das letzte Protestbild geschaffen hat. Das war noch vor dem Atomkrieg. Da konnte er noch menschliche Gestalten darstellen, zwar fragmentiert und zerstückelt, aber es waren immer noch Gestalten, ein Stier, ein Pferd, eine Mutter mit ihrem Kind. Ich zweifle sehr, ob irgendjemand ein Kunstwerk über Hiroshima gestalten kann. Was kannst du noch ästhetisch über eine Atombombe sagen, die nur noch ein bißchen Staub hinterläßt und über alle menschlichen Proportionen hinausgeht und die ganze Existenz des Planeten selbst gefährdet? Kannst du die Atombombe in einen herrlichen Pilz verwandeln und zeigen? Bedeutet das irgendetwas? Stilistisch hat die Kunst keinen Protestcharakter. Sie sagt niemals nein. Die Kunst sagt immer ja zu irgendetwas. Vor einer Atombombe kannst du nicht mehr ja sagen, zu nichts. Ich bin der Meinung, daß Picasso Guernica noch schaffen konnte, weil es die Bombardierung einer kleinen Stadt war und nicht das Ausrotten von 200 000 Menschen in einer Sekunde. Als ich damals vor meiner eigenen Arbeit saß und versuchte, sie formal zu lösen im Ausdruck, aber auch als Bild, da habe ich gedacht, die Vergasungslager, der Atomkrieg, das sind menschliche Situationen, an die man überhaupt nicht mehr herankann, noch nicht einmal dokumentarisch. Man kann überhaupt nicht mehr sagen, was das eigentlich bedeutet. Es geht über alle Dimensionen der menschlichen Werte hinaus. Ich konnte damals meine Arbeit letztendlich nicht lösen und habe sie liegen gelassen.

Gibt es deiner Meinung nach auch keine Kunst aus Konzentrationslagern oder den Ghettos heraus?

Ich kenne keine. Ich habe vieles gesehen, was man mir als Kunst vorgesetzt hat. Es sind natürlich sehr pathetische Sachen, aber künstlerisch ist es gar nichts. Ich war vor zwei Jahren in Prag im Museum für Theresienstadt. Natürlich ist es pathetisch für dich, wenn du dahinkommst und siehst die Zeichnung eines Kindes von 8, 10 oder 12 Jahren. Ich habe auch viele Zeichnungen von Leuten gesehen, die es überlebten und die versucht haben, das Erlittene künstlerisch auszudrücken. Sie bringen aber das Ungeheuerliche nicht zum Ausdruck. Wenn du nicht von vorneherein weißt, daß diese Leute den Holocaust überlebt haben, ist nichts mit ihren Bildern gesagt, ich meine nichts, was dem entspricht. Dagegen hat ein Expressionist wie Munch z.B. in seinem Bild „Der Schrei“ sehr vieles über das Leiden gesagt, und er hatte nichts mit Konzentrationslagern zu tun. Diese Zeichnungen kommen nicht an Munch heran. Er hat viel stärkere Sachen gemacht als diese Zeichnungen, aber er war auch ein großer Künstler. Also künstlerisch kenne ich nichts, wo ich wirklich sagen könnte, das ist durch das große Leiden entstanden und bringt es irgendwie zum Ausdruck. Ich glaube, daß gewisse Situationen nicht mehr ästhetisch verarbeitet werden können. Daraufhin habe ich dann gedacht, daß ich tatsächlich keinen anderen Weg als den der abstrakten Kunst habe. Das ist etwas, was mich innerlich zutiefst interessiert und wo ich glaube, daß ich wirklich wachsen kann.

Und was ist mit Celan und den anderen, die in der Poesie sehr schreckliche Dinge aufgegriffen haben?

Ich glaube, Celan ist ein sehr großer Dichter, aber ich spreche über die Bildenden Künste, über das Visuelle. Worte sind ja schon viel abstrakter als das Visuelle. Es gibt Anklänge, Wortverbindungen usw. Aber ich kenne Celans Arbeiten nicht so gut, als daß ich sagen könnte, ja, er hat alle diese Schrecken wirklich zum Ausdruck bringen können. Ich kann nur von der bildenden Kunst sprechen, und in den bildenden Künsten sehe ich überhaupt nichts. Da ist für mich die Grenze des Politischen. Es ist eine Sache, wenn du eine Position einnimmst gewissen sozialen Verhältnissen gegenüber, in denen du lebst und wo du vielleicht handeln könntest. Künstlerisches Handeln aber ist etwas anderes. Das ist eben so. Die Kunst hat zutiefst etwas mit Sublimierung zu tun, und wenn du nicht sublimieren kannst, dann kannst du auch keine Kunst schaffen.

Welches sind die Themen, die dich beschäftigen. Welches ist die Achse deines künstlerischen Schaffen?

Man muß in der Kunst einen Unterschied machen zwischen einer Thematik, die von vornherein gestellt wird, sagen wir ein Motiv, ein künstlerisches Motiv, sei es ein soziales Motiv oder sei es ein Blumenstrauß, und dem Ausdrucksgehalt, der entsteht, der das eigentliche Thema der Kunst ist, denn du kannst mit einem Blumenstrauß einen sehr lyrischen Inhalt ausdrücken oder auch einen sehr dramatischen. Ein soziales Thema kannst du einfach beschreiben, aber du kannst auch einen tragischen Inhalt daraus schaffen. Das alles hat mit der abstrakten Struktur zu tun. Ich bin von einer sozialen Thematik ausgegangen, von Sympathien. Dadurch, daß ich meinen Stil zum Expressionismus wandte, wurde der Ausdrucksgehalt dramatisch, so daß auch die abstrakten Arbeiten der ersten Jahre ziemlich dramatisch sind. Sie enthalten viele Kontraste, sehr viele visuelle Kontraste. Langsam hat sich für mich dann aber – im Rückblick gesehen, denn das kann man sich nicht vornehmen – eine andere Lebenshaltung oder eine andere Weltsicht ergeben und zwar eine viel, viel lyrischere. Meine Thematik ist in diesem Sinne viel lyrischer geworden, nachdem sie am Anfang viel dramatischer war, viel mehr Konflikte hatte. Aber wie gesagt, der Stil ist etwas, was man sich nicht vornehmen kann. Es ist etwas, das sich aus der Arbeit selbst heraus ergibt und aus deiner eigenen Haltung dem Leben gegenüber.

Du hast eine Zeitlang Kurse für Arbeiter gemacht, bist in die Fabriken gegangen. Worum ging es in diesen Kursen und gab es damals auch andere Künstler in Brasilien, die in dieser Richtung aktiv waren?

Nein, gab es nicht. Ich habe, kurz nachdem ich meine künstlerische Laufbahn anfing, begonnen zu unterrichten, zunächst Praxis, aber bald danach auch Theorie. Ich unterrichte schon über 30 Jahre. Während der schlimmsten Zeit der Militärdiktatur – ich unterrichtete damals im Museum für moderne Kunst – wurde ich vom Direktor eines mir bekannten Verlages eingeladen, die Arbeiter der dem Verlag angeschlossenen Buchbinderei praktisch zu unterrichten. Ich lehnte das sofort ab und sagte, ich könnte nur Theorie unterrichten, und zwar um die Sensibilität der Menschen zu vertiefen und zu fördern. Aber auch das wollte ich mir noch überlegen, denn es gab verschiedene praktische und auch politische Probleme; es waren die Medici-Jahre, die Jahre der schlimmsten Verfolgung. Was mich aber am meisten beschäftigte, war das Problem, mich vor diese Arbeiter hinzustellen und ihnen etwas von Kunst zu erzählen. Ich wußte, daß sie wahrscheinlich gar nicht einmal das Geld hatten, um sich das Brot für den nächsten Tag zu kaufen, und auf einmal fange ich an, über geistige Werte zu sprechen. Aber wenn man nicht über geistige Werte spricht, kann man auch nicht über Kunst sprechen, denn Kunst nur als Technik, das interessiert überhaupt niemanden. Ich überlegte mir wochenlang, wie das zu bewerkstelligen sein könnte. Ich mußte ja Beispiele geben. Wie kann ich über die Kunst des 16. Jahrhunderts sprechen, wenn die Leute nicht einmal wissen, daß ein 16. Jahrhundert überhaupt existiert hat, für die das 16. Jahrhundert überhaupt keine Wichtigkeit hat. Ich wußte also nicht, welche Referenzen ich benutzen konnte. Nun gut, ich beschloß, einen Versuch zu machen, aber ich stellte Bedingungen. Der Unterricht sollte in der Fabrik und während der Arbeitszeit der Arbeiter gegeben werden, denn sie würden ihre Freizeit nicht für irgendetwas opfern, das sie gar nicht kannten und das sie auch gar nicht verlangt hatten. Es sollte eine Gruppe von etwa 20 Personen sein, düfte aber keinerlei Tests geben. Die Leute sollten den Unterricht eine gewisse Zeit lang machen können, denn jede Woche neu anzufangen, dazu hatte ich keine Lust. Ich wollte kein Material haben, keine Lichtbilder, Filme oder ähnliches. Ich wollte nicht im Dunkeln sprechen. Ich wollte einen kleinen Raum, wo ich mich mit den 20 Leuten an einen Tisch setzen und wo ich sie direkt ansehen konnte und sie mich auch. Das alles wurde mir bewilligt, und ich fing an, diesen Kursus zu geben. Aus den zwei oder drei Wochen, die ich als Versuch annahm, wurden sieben Monate, und die Leute wollten nicht, daß es überhaupt aufhörte. Aber ich konnte auch nicht Ewigkeiten in dieser Fabrik bleiben zu jener Zeit. Es war eine sehr, sehr aufregende Sache, für mich auch, denn ich habe sehr viel dabei gelernt. Tatsächlich habe ich während jener Zeit nur mit meinen intimsten Freunden darüber sprechen können. Ich konnte weder in der Zeitung noch im Fernsehen darüber berichten. Jahre später, 1978, als die Diktatur sich etwas liberaler zu geben begann, nahm ich an einem lateinamerikanischen Kongreß teil, wo ich über Kunsterziehung außerhalb des Schulsystems sprechen sollte. Ich sprach zum ersten mal über dieses Erlebnis und bekam eine Ovation von 15 Minuten und Einladungen, in verschiedenste Länder zu fahren, um über dieses Experiment zu berichten. Natürlich konnte ich das nicht machen, aber ich versprach, eines Tages darüber zu schreiben. 1983 habe ich das dann in meinems Buch „Universos da arte“ getan, in dem ich z. T. über diesen Kursus als konkretes Experiment spreche, auch pädagogisch-didaktisch, d.h. wie man vorgeht, um etwas sehr Kompliziertes mit einfachen Worten darzustellen, ohne es zu popularisieren.

Hast du später noch ähnliche Experimente unternommen?

Ja, mit vielen Leuten, die im Grunde genommen nichts mit Kunst zu tun haben. Und weißt du, es ist kein großer Unterschied, ob es Arbeiter sind oder Kunststudenten oder Lehrer oder höhere Angestellte und Direktoren. Ich wurde von multinationalen Konzernen eingeladen, um ihren Direktoren Kurse zu geben. Es gibt nicht den geringste Unterschied, nicht in der Sensibilität der Menschen, denn an die richte ich mich ja und nicht an ihr universitäres Wissen. Das ist eine andere Sache. Natürlich kann das Universitätsstudium bereichern, aber die Sensibilität ist noch etwas anderes. Du kannst Universitätsprofessoren finden, die überhaupt keine Sensibilität haben. Mit denen kannst du nicht über Kunst sprechen. Das ist ganz unmöglich. Sie können Chemiker sein oder Ärzte und überhaupt kein Gefühl haben, für nichts. Das ist genau dasselbe bei den Arbeitern. Du hast einen gewissen Prozentsatz von Menschen, die sensibel sind, und von Menschen, die weniger sensibel sind. In dieser Beziehung ist kein Unterschied zwischen den Gruppen. Das habe ich gelernt in diesen Jahren. Du kannst mit den Arbeitern genauso sprechen wie mit den Universitätsprofessoren. Die Fragen sind dieselben, und die Reaktionen sind dieselben.

Du hast als Kind in Wuppertal gelebt und bist vor einigen Jahren von der Stadt Wuppertal eingeladen worden, dort eine Ausstellung zu machen, bist geehrt worden. Wie ist es dazu gekommen?

Wie es dazu gekommen ist, das ist eine lange Geschichte, die fast wie ein Kriminalroman ist. Das Ganze wurde verursacht von einer Mitschülerin aus dem Gymnasium in Wuppertal, die sich an mich erinnerte und dann versuchte, mich irgendwo auf dieser Welt wiederzufinden. Sie hat sich an alle möglichen Institutionen gewendet, aber nirgendwo Auskunft erhalten, bis ihr eines Tages jemand riet, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung eine Anzeige aufzugeben, in der nach mir unter meinem Mädchennamen geforscht wurde. Ein Bekannter meines Mannes bekam diese Zeitung und rief eines Tages bei uns an und fragte, ob mein Mädchenname Krakovski sei und meine Eltern früher in Wuppertal gelebt hätten. Er schickte uns dann die Anzeige und ich schrieb nach Frankfurt, von wo aus ich die Anschrift einer gewissen Ruth Broschki in Schleswig Holstein erhielt. Ich wußte gar nicht, was ich damit anfangen sollte, denn ich hatte keine Ahnung, wer diese Person war, denn sie war inzwischen verheiratet und hatte einen anderen Namen. Aber ich konnte mich sowieso an nichts erinnern, auch an sie selbst nicht. Von Frankfurt aus wurde meine Anschrift an diese Ruth weitergeleitet, und ich wartete ganz einfach ab. Nach kurzer Zeit erhielt ich einen Brief, in dem sie mir ein Schulfoto schickte. Sie schrieb mir, wir wären die besten Freundinnen gewesen und ich hätte immer ihre Hand gehalten, und wir wären auf dem Foto in der und der Reihe zu sehen. Sie selbst hätte geheiratet, hätte drei Kinder und ob sie mir irgendwie helfen könnte. Ich war sehr erstaunt und auch gerührt über diesen Brief. Ich antwortete ihr, daß ich ihr dankte, aber ich hätte auch meinen Lebensweg, hätte ebenfalls geheiratet, auch zwei Kinder und sei Künstlerin geworden und würde ihr einen Katalog schicken. Sie erzählte mir dann später, daß der Katalog früher ankam als der Brief und welche Aufregung das verursachte. Da kam ein Katalog auf portugiesisch an, den keiner verstehen konnte. Schließlich kam mein Brief, der die Geschichte erklärte. Diese Ruth rief sofort in Wuppertal bei einem Stadtverordneten an, der selbst einmal zur Frage der Flüchtlinge aus Deutschland gearbeitet hatte. Von ihm erhielt ich einen Brief, in dem er mich bat, etwas über meine Eltern zu berichten, was ich auch tat. Ich bekam dann zahlreiche Anrufe aus Wuppertal und wurde schließlich eingeladen, eine Ausstellung in Wuppertal zu machen und dort selbst eine Woche zu verbringen. Ich kehrte also nach 50 Jahren nach Wuppertal zurück und war mehrere Tage lang Schlagzeile in verschiedenen Zeitungen. Ich selbst fühlte mich irgendwie wie in einem Traum. Es war sehr merkwürdig für mich. Ich war wirklich sehr, sehr gerührt, auch über die Menschen. Es ergab sich ein ganz merkwüdiges Klima. Ich war ein Opfer und war auch kein Opfer. Schließlich habe ich auch mein Leben gelebt. Und nicht nur das, ich war auch ziemlich erfolgreich, eine internationale Künstlerin. Tatsächlich drehten sich dann die Beziehungen, die ich mit den Menschen in Wuppertal aufnahm, um Kunst und nicht um mich als Opfer des Nazismus. Das lag hinter mir. Ich war auch noch zu sehr Kind, als ich aus Deutschland wegging. Die Tatsache, daß Deutsch meine Muttersprache ist, war aber immer äußerst wichtig für mich, obwohl ich mich vollkommen als Brasilianerin fühle, denn ich bin ja schon als Kind hierhergekommen.

Hast du dich denn in Brasilien jemals im Exil gefühlt?

Nein, niemals. Das ist eine Sache, die großartig ist hier in Brasilien. Du wirst nicht als Ausländer behandelt wie in Europa. Abgesehen davon, daß ich wirklich noch sehr jung war, als ich hier ankam. Meine Ausbildung, meine Entwicklung zur Künstlerin, das alles hat in Brasilien stattgefunden. Ich habe mich niemals im Exil gefühlt, niemals. Jemand ist chinesischer Abstammung, ist er eben Chinese. Jemand kommt aus der Türkei, ist er eben Türke. Das hat hier in Brasilien nichts zu bedeuten. Die Menschen kennen sich gar nicht ihrer Abstammung nach, jedenfalls jetzt nicht, nach dem zweiten Weltkrieg. Möglicherweise war das vorher anders, denn da gab es noch die deutschen Gesellschaften und die englischen Clubs, wo nur Engländer eintreten konnten. Aber die gibt es nicht mehr. Die Leute haben geheiratet, sind Brasilianer geworden. Ich habe diese Epoche auch nicht mehr miterlebt. Was ich aus Deutschland habe, ist die Sprache und die Kultur. Die deutsche Kultur ist mir sehr nahe, insbesondere das 19.Jahrhundert. Die Musik ist mir sehr nahe, oder sagen wir, ich identifiziere mich damit. Ich habe sehr, sehr viel gelesen und lese immer noch sehr viel und fühle mich sehr verbunden, aber nicht in dem Sinne, daß ich mich nicht auch Brasilien verbunden fühlen würde. Da gibt es keine Konkurrenz.

Hast du jemals überlegt, nach Deutschland zu ziehen oder war es immer klar, daß du in Brasilien bleiben würdest?

Ich glaube, das war der erste Streit zwischen mir und meinem Mann, denn ich wollte nicht nach Deutschland ziehen. Das war mir klar.

Wie hat Brasilien dein künstlerisches Schaffen geprägt?

Als ich anfing, künstlerisch zu arbeiten, fing die moderne Kunst in Brasilien an. Mein eigenes Arbeiten ist also eng verwoben mit der Entwicklung überhaupt der Kunst in Brasilien. Da ich noch unterrichtete die ganze Zeit und jedesmal hunderte von Schülern hatte, kenne ich einfach alle Künstler, die in Brasilien arbeiten, und sie kennen mich. Das ist auch etwas, was mir das Gefühl gibt „nun, hier bin ich eben aufgewachsen“. Tatsächlich hat meine Entwicklung hier stattgefunden und nicht in Europa, und das hat auch etwas mit der Kunst zu tun, mit den Formen der Kunst. Wenn z.B. meine Eltern das Geld gehabt hätten, in der Schweiz zu leben und ich mich dort zur Künstlerin entwickelt hätte, wäre es sicherlich nicht dasselbe gewesen wie hier in Brasilien, denn das Land und die Menschen haben schon sehr viel damit zu tun, wie deine inneren Erlebnisse aussehen. Nicht, daß es unbedingt mechanisch geformt ist, aber es ist nicht unbedeutend, daß es Brasilien ist und nicht die Schweiz oder die Vereinigten Staaten. Es hat schon sehr viel damit zu tun, wie sich in mir zum Beispiel ein bestimmtes Gefühl für das Sensuelle entwickelt hat. Die Sensualität in Brasilien ist etwas äußerst Wichtiges, das man nicht übersehen kann. Sie existiert keineswegs in derselben Form in den Vereinigten Staaten. Die Leute sind dort absolut nicht so sinnlich wie hier, und das ist sehr wichtig für die Kunst, denn die Kunstsprache selbst, sämtliche Kunstsprachen, sind ihrem Charakter nach sinnlich. Du kannst sie nicht in gedankliche Sprachen übersetzen. Du kannst weder das Visuelle in Gedanken übersetzen noch Musik oder Architektur. Das alles muß sinnlich erfahren werden. Das Sinnliche in Brasilien, das ist nicht nur, daß die Landschaft so großartig ist, sondern das Verhalten der Menschen, der Kontakt der Menschen selbst ist von einer Sinnlichkeit, die du in Europa so nicht findest. Ich finde, das ist ein Reichtum Brasiliens, daß diese Sinnlichkeit sozusagen so offen ist, daß sich die Menschen sehr spontan in dieser Sinnlichkeit verhalten. Ich habe das erst empfunden, nachdem ich Künsterlin geworden bin. Das Künstlerische hat mich also erst dazu erweckt zu empfinden, wie wichtig das ist im menschlichen Erleben. Also, es ist nicht dasselbe, wenn ich in der Schweiz oder in Deutschland aufgewachsen wäre, wo die Verhaltensformen andere sind. Das hat gewisse Konsequenzen in der Ausdrucksweise oder auch im eigenen Empfinden der Dinge. Ich meine, das Sinnliche ist größer als nur das Erotische. Es ist das Sinnliche selbst des Empfindens, das hier so äußerst stark ausgeprägt ist. Und ich finde das phantastisch, eine wunderbare Sache. Es ist in Brasilien ein Klima, das nicht so leicht woanders anzufinden ist.

Gibt es so etwas wie eine kulturelle Heimat für dich?

Die Kunst ist meine kulturelle Heimat, mehr als irgendetwas anderes, mehr als irgendeine geopolitische Heimat. Besser gesagt, sie ist zu meiner Heimat geworden. Es ist etwas, das ich wirklich tief innen in mir fühle. Nicht nur daß ich fühle, daß es mein Leben ist, sondern ich empfinde es als ein ausgesprochenes Geschenk des Lebens, Künstlerin zu sein.

 

Das Gespräch führte Sieglinde Fiedler im August 1994 in Rio de Janeiro. Es fand auf deutsch statt.

Buchveröffentlichungen von Fayga Ostrower: „Criatividade e Processos de Criação“, Petrópolis, 1978, Editora Vozes, 10. Auflage „“Universos da Arte“, Rio de Janeiro, 1983, Editora Campus, 9. Auflage „Acasos e Criação Artística“, Rio de Janeiro, 1990, Editora Campus, 2. Auflage