ila

Ich bin immer mit meinen Diplomen gereist

Jeanne Stern: Ein Leben zwischen Frankreich, Deutschland und Mexico

Erstmals kommt in den Lebenswegen eine Französin zu Wort: die Literaturwissenschaftlerin, Übersetzerin und Autorin Jeanne Stern. Gebürtig aus Südfrankreich kam sie in den zwanziger Jahren nach Berlin, um Germanistik zu studieren. Dort bekam sie Kontakt zur Linken und lernte ihren späteren Mann, den Autor Kurt Stern, kennen. Kurz vor der Machtübernahme der Nazis verließen beide Berlin und zogen nach Paris. Als 1936 General Franco gegen die spanische Republik putschte, entschieden sie sich, nach Spanien zu gehen, Kurt Stern als Kämpfer der internationalen Brigaden, Jeanne Stern als Journalistin. Nach der Niederlage der spanischen Republik flohen sie nach einem Zwischenaufenthalt in Frankreich nach Mexico. 1946/47 kehrten beide nach Berlin zurück. Obwohl Jeanne Stern gerne wieder in Frankreich gelebt hätte, folgte sie ihrem Mann, der am Aufbau eines sozialistischen Deutschlands mitarbeiten wollte, eine Idee, die auch sie faszinierte. Viele ihrer GefährtInnen in der Emigration wurden in den fünfziger Jahren in der DDR bzw. CSSR Opfer politischer Säuberungen, eine Erfahrung, die Jeanne Stern bis heute große Probleme bereitet, wie das folgende Interview von Ulrike Schätte zeigt.

Ulrike Schätte

Frau Stern, Sie sind 1908 in Südfrankreich geboren und nach dem Abitur achtzehnjährig nach Deutschland gegangen. Wie kam es dazu?

Mein Vater war Pazifist und unterstützte mich darin, Deutsch als erste Fremdsprache zu wählen; denn er dachte immer: „Ach, hätten wir uns nur verstehen können, als wir im Schützengraben waren.“ So bin ich aufgewachsen, und da ich meinen Vater sehr liebte, hat es mich beeindruckt. Ich hatte auch einen Hang zum Spanischen, weil mein Großvater mütterlicherseits, den ich ebenfalls sehr liebte, Spanier war. Ich bin zwölf Kilometer von der Pyrenäengrenze auf der atlantischen Seite in Bedous geboren. Deshalb hatte ich eine Neigung, eine Schwäche für das Spanische. So hat es sich gefunden, daß ich als zweite Fremdsprache Spanisch lernte.
An meine Lehrer habe ich eine sehr gute Erinnerung. Vielleicht hatten wir eine bessere Fühlung mit der Lehrerin dadurch, daß wir so wenig waren, die Deutsch lernten. Das war für die Lehrerin leichter und für uns auch. Man kannte sich gut, wir hatten, wenn ich mich richtig erinnere, drei oder vier  Stunden Deutsch in der Woche. Durch diese Lehrerin lernte ich eine Frau kennen, eine Frau hugenottischer Abstammung, die Leute suchte, die nach  Deutschland  fahren wollten. Ich mußte ihr aber erklären, daß ich unmöglich einen Austausch machen konnte, da meine Eltern zu der Zeit in Paris sehr beengt wohnten. Daraufhin sagte sie: „Das macht nichts, Sie können ja au pair gehen.“ So ging ich au pair nach Bad Pyrmont, einem entzückenden Städtchen in der Nähe von Hannover.
Die Frau, die mich aufnahm, hieß Frau Raydt. Sie war sehr herzlich und auch freigiebig, obwohl sie gar nicht reich war, denn sie nahm im Sommer Gäste gegen Bezahlung in ihrem Haus auf. Dadurch habe ich sehr viele Deutsche auf einmal kennengelernt. Sie hatte die Gäste um den Tisch herum, es waren meistens so zwölf. Die einen waren aus Freiburg, die anderen waren aus dem Rheinland. Und die haben mich eingeladen zu sich, so daß ich das Glück hatte, sehr viele verschiedene Gegenden von Deutschland kennenzulernen. Auch Leute aus Berlin. Das war mir das Wichtigste, ich wollte unbedingt studieren. Ich bin nach Berlin gekommen, weil ich dort Bekannte hatte, die mir sagten: „Kommen Sie zu uns, erst einmal au pair, und Sie werden sich schon einrichten.“ Ich habe dann später Germanistik studiert und meinen Lebensunterhalt damit verdient, daß ich Französischstunden gab. Auf diese Art und Weise habe ich hier in Deutschland studiert. In Berlin zu leben, war für mich die beste Möglichkeit, sowohl mein Studium zu finanzieren und zugleich meine Sprachkenntnisse zu vertiefen. In Frankreich gab es die Möglichkeit, daß man sich einschrieb und die nicht geringen Gebühren bezahlte, und dort dann die Prüfungen machte.
So habe ich auch sehr schnell mehr Einsichten gehabt als andere, die nur an den Universitäten waren. Ich habe Einsichten gehabt in das, sagen wir bescheiden, Berliner Leben. Es hat sich so ergeben, daß Berlin mein Zentrum geworden ist.

In Berlin haben Sie dann bald Ihren späteren Mann, Kurt Stern, kennengelernt, der bereits mit achtzehn Jahren in der Kommunistischen Partei war. Hatten Sie ebenfalls Kontakt zur Arbeiterbewegung oder zur politischen Bewegung in Berlin in den zwanziger Jahren?

Ja, aber nicht so viel wie mein Mann. Durch den Einfluß meines Mannes habe ich sehr viel enger Kontakt bekommen mit der Arbeiterbewegung. Obwohl, von uns beiden war ich die proletarische und er der bürgerliche. Aber es war die Zeit der Piscator-Bühne, und da hat er sich sehr stark engagiert. Noch vor Beendigung der Mittleren Reife hat er gearbeitet, und er, der absolut antikapitalistisch war, hat komischerweise bei einer Geldschrank-firma gearbeitet, um Geld zu verdienen. Nachher hat er das Abitur in Abendkursen gemacht, um dann regulär studieren zu können, ganz normal wie die anderen auch.
Mein Mann wohnte im Westen von Berlin, aber er hatte im Norden Kontakt mit Kindern von Arbeitern. Gemeinsam mit seinem zwei Jahre älteren Bruder, mit dem er sehr gut stand, hat er eine Gruppe von Arbeiterkindern betreut. Mit dieser Gruppe ist er gewandert, hat Gymnastik getrieben, und hat versucht, sie für geistige Probleme zu interessieren. Die Kinder aus der Arbeiterschaft waren natürlich genau so begabt wie die anderen, man mußte ihnen bloß die Möglichkeit geben, sich zu entwickeln. Das tat mein Mann sehr gerne und sehr erfolgreich, er hatte lange Kontakt mit diesen jungen Menschen, nur wurde alles unterbrochen, als Hitler an die Macht kam.

Waren Sie zum Zeitpunkt der Machtübernahme von Hitler noch in Deutschland?

Nein, mein Mann hatte ein starkes Interesse für Frankreich und kam 1932 nach Paris, um an der Sorbonne zu studieren. Wir haben 1932 in Frankreich geheiratet. Darauf legte ich Wert, weil ich meine Staatsangehörigkeit dadurch behalten konnte. Da konnte man erklären, ich wünsche meine Nationalität zu behalten, und dann wurde man, was man Doppelstaatler nennt, das heißt, ich hatte sowohl deutsche als auch französische Papiere. Das war aber ganz legal, das war nicht irgendwie gemogelt, absolut nicht, das war zugelassen. So bin ich mein Leben lang Doppelstaatlerin gewesen. Es hat mich überhaupt nicht gestört. Ich maß dieser Frage der Nationalität die Wichtigkeit bei, die sie hat, aber ich sah keinen Abbruch zu meinen Beziehungen zu Frankreich, auch nicht zu meinen Beziehungen zu Deutschland. Es klingt ein bißchen pathetisch, und es wurde damals anders empfunden, aber ich fühlte mich europäisch.

Wie sah Ihr Leben nach Ihrer Rückkehr nach Frankreich aus?

In Paris habe ich in einem Institut gearbeitet, das hieß Institut für Ausländer. Da habe ich Ausländern, die nach Paris gekommen waren, um die Sprache zu lernen und sich mit der Kultur anzufreunden, Unterricht gegeben. Ungefähr 1935 bin ich in die Kommunistische Partei Frankreichs eingetreten. In Frankreich gab es damals ein Bündnis von allen linken Leuten. Die Linken fingen bei den Demokraten an, das waren auch die Kommunisten, aber auch die Sozialisten und die Demokraten, die waren sich damals alle einig.
Wir haben damals eine Tochter bekommen. Wir wollten, daß sie in ruhigen, möglichst ruhigen, Verhältnissen aufwächst, aber gleichzeitig ist man nicht immer so konsequent. Ich habe in Paris in der Agence Espagne, einer Presseagentur, gearbeitet. Mein Mann hat sich engagiert auf Seiten der Republikaner und ich auch. Meine Eltern lebten in Burgund, und da meine Tochter zeitweilig bei meinen Eltern war, bin ich auch nach Spanien gegangen. In Spanien putschte damals Franco gegen die Republik. Ich bin als Korrespondentin meiner Agentur in Spanien gewesen. Nach der Niederlage der Republik sind wir nach Paris zurückgekehrt.
Als dann der 2. Weltkrieg anfing, habe ich mich erinnert, daß ich mein Diplom hatte, ich war ja Lehrerin für Germanistik. Ich habe eine Stelle im französischen Erziehungswesen bekommen und in Saint-Aignan-sur-Cher, einer Kleinstadt an der Loire, am Gymnasium unterrichtet. Nur, als ich mich in Paris um diese Stelle beworben habe, da hat man mir gesagt: „Nun ja, ist ja gut, wir brauchen da Lehrer, aber da müssen Sie zusehen, wie Sie über die Innengrenze kommen, denn das können wir Ihnen nicht ausstellen so ein Papier, mit dem Sie legal rübergehen können. Sie müssen selber sehen, wie Sie sich da aus der Affäre ziehen.“ (1940 besetzten die deutschen Truppen den Norden und Westen Frankreichs. Lediglich das Gebiet südlich der Loire blieb unbesetzt und wurde der Regierung des mit Nazideutschland kollaborierenden Marschalls Pétain unterstellt. – die Red.) Das habe ich getan, das war aber keine Heldentat, so stellen Sie sich das bloß nicht vor; das war kein Einzelfall. Man mußte sehr aufpassen, man konnte nur an bestimmten Stellen über die Grenze gehen, d.h., man mußte das schon organisieren, aber das war keine Schwierigkeit für mich. Es ist uns sehr gut gegangen in Saint-Aignan, es war ein schönes Städtchen, die Menschen waren sehr lieb zu uns, sie kannten ganz genau unsere Situation. Sie waren wirklich ganz besonders freundlich zu uns, obwohl sie wußten, daß mein Mann ein Deutscher ist, aber sie wußten auch, daß er nicht zu den Deutschen gehörte, die Frankreich okkupiert hatten.

Sie haben Anna Seghers geholfen, als sie auf der Flucht vor den Deutschen war, die Demarkationslinie zu überqueren?

Ja, das stimmt, aber das war eine Episode. Ich hab’s gern gemacht, und ich bin froh, daß ich das gemacht habe. Aber an sich war das, wie gesagt, nicht ein Einschnitt, sondern ich hab’s gemacht und Schluß. Es traf sich so, daß ich die Gegend gut kannte. Das war meine Haupteigenschaft in diesem Fall.
Anna Seghers kannte ich schon lange. Ich habe für französische Verleger Bücher von Anna Seghers übersetzt. Zum Beispiel das letzte, was ich von Anna Seghers übersetzt habe, das ist ein Buch, das ich sehr, sehr gerne habe, nicht das „Siebte Kreuz“, sondern „Transit“, das liebe ich sehr (ist auch eines meiner Lieblingsbücher – d. Säz.), das finde ich literarisch das beste von Anna Seghers, das ist das, was ich am liebsten habe. Anna war manchmal sehr schroff, und als ich sagte: „Transit“, das ist das, was ich am liebsten von dir habe“, da sagte sie: „Ja, ja, es gibt Leute, die es am liebsten haben.“ Zum Beispiel Ehrenburg, ich erinnere mich, daß sie ihn zitiert hat, und sie hat hinzugefügt: „Aber das sind nicht die Besten, die dieses Buch am liebsten haben.“ (So ein Pech, jetzt habe ich mich dummerweise schon geoutet – d. Säz.)

Wie sind Sie dann nach Mexico gekommen?

Die Mexicaner, Cárdenas (Präsident von 1936-40, Vater von Cuauhtémoc Cárdenas, dem heutigen Bürgermeister von Mexico D.F.) und seine Leute, das waren sehr fortschrittliche Menschen. Sie haben uns das Visum gegeben, weil wir in Spanien damals gegen Franco Partei ergriffen haben, ich als Korrespondentin und mein Mann als Kämpfer. Sie haben für diejenigen, die sich für Spanien engagiert hatten, ihre Türen geöffnet und ihre Arme ausgebreitet.
Mein Mann ist nach Marseille gefahren und hat mit Bosques, dem Generalkonsul der mexicanischen Botschaft, gesprochen. Gilberto Bosques hat viele Menschen gerettet, ohne die Trommel zu schlagen, anzugeben oder sich zu brüsten. (vgl. Lebenswege, ila 172)
In Marseille haben wir uns eingeschifft und sind nach Afrika, nach Casablanca, gefahren. Wir haben dann in Dakar noch ein Schiff erwischt, es war ungefähr das letzte, damals haben die Unterseeboote die Küste blockiert. Irgendwo mußten wir landen und unsere Papiere zeigen, aber wir haben keine Schwierigkeiten gehabt. Wir sind auf diese Art und Weise sehr gut, ohne nennenswerte Aufregung, im Juni 1942 in Veracruz angekommen. Einer von den Emigranten war geschickt worden, um uns zu empfangen.

Wie ist es Ihnen in Mexico ergangen?

Wir sind sofort nach Mexico-Stadt gefahren, da haben wir uns etabliert. Wir waren zu dritt, mit meiner Tochter und meinem Mann: Ich habe gleich wieder angefangen, Französisch zu lehren. Es gab in Mexico, wahrscheinlich gibt es das immer noch, ein französisches Gymnasium, da habe ich gelehrt, da ich mein Diplom hatte. Ich bin immer mit meinen Diplomen gereist, weil das ein Beweis war, daß ich eine Ausbildung als Lehrerin hatte, als Gymnasiallehrerin. In Mexico habe ich also sofort Arbeit bekommen. Für die Deutschen, die nach Mexico kamen, war das viel schwieriger. Die Frauen konnten eigentlich nur als Reinemachfrauen oder so etwas ihren Lebensunterhalt verdienen. Es war Krieg, und Deutsch war nicht gefragt, und abgesehen davon ist Deutsch als Weltsprache nicht so verbreitet  wie Englisch oder Französisch. Und da habe ich mit meinem Französisch erst einmal unseren Lebensunterhalt verdient, nachher hat auch mein Mann gearbeitet. Die deutschen Emigranten in Mexico waren tüchtig, sie haben einen Verlag gegründet und Bücher herausgegeben. Im Laufe der Zeit haben die gut und gerne 20-30 Bücher herausgebracht. Sie sind wirklich, wie kann ich sagen, sehr unternehmungslustig gewesen.
Es gab in Mexico eine deutsche Kolonie, das waren alteingesessene Deutsche, die mehrheitlich mehr zu den Nazis neigten als zu den Antifaschisten. Aber es gab auch welche, die zu uns hielten und uns geholfen haben. Es gab eine Ausdrucksweise, die, wie ich glaube, sehr viel aussagt. Die politischen Flüchtlinge, nannte man „die politischen Emigranten“, und dann gab es „die Wirtschaftsemigranten“. Die Wirtschaftsemigranten waren damals Leute, die Geschäfte hatten. Aber sie waren uns, den politischen Emigranten gegenüber, durchaus nicht feindselig. Gar nicht, sondern im Gegenteil, sie haben uns unterstützt, weil sie finanzkräftiger als wir waren. Diese Wirtschaftsemigranten haben uns in der politischen Arbeit sehr geholfen, weil wir kein Geld hatten.

Woher kamen die „Wirtschaftsemigranten“?

Aus Deutschland, aus Österreich, manche kamen aus der Tschechoslowakei, aber es waren deutschsprachige Emigranten. Unter den Wirtschaftemigranten waren die meisten jüdischer Herkunft. Und die haben, ganz egal ob Jude oder Nichtjude, dazu beigetragen, daß wir eben zum Beispiel den Verlag „El libro libre“ gründen konnten, in dem auch mein Mann als Redakteur gearbeitet hat.
Walter Janka hat den Verlag geleitet. Er hatte bis dahin überhaupt keine Möglichkeit, dieses Talent zu beweisen, auch sich selbst nicht, aber er hat sich da als sehr guter Verleger gezeigt. Er wußte, welche Bücher in Frage kämen, er kannte ja nicht nur alle Schriftsteller, sondern er wußte auch, in welcher Auflage man diese Bücher herausgeben konnte. Er hat Beziehungen zu den Deutschen geschaffen, die in anderen Ländern Lateinamerikas lebten. Er hat außerordentlich gut gearbeitet, der Walter Janka. Und seine Frau, die war eine Deutsche, die wunderbar Französisch konnte. Sie hat gearbeitet, ich weiß nicht mehr, ob als Sekretärin oder irgendwas, und hat auch ihren Lebensunterhalt verdient.
Also die Leute, die in Amerika waren, ich meine damit, in den Vereinigten Staaten, haben es, glaube ich, schwerer gehabt als diejenigen, die nach Mexico gekommen sind. Wir haben Mexico sehr geliebt. Es war nicht nur ein Land, das uns geholfen hat, sondern es war ein Land mit alter Kultur. Sie hatten die spanische Kultur und die aztekische Kultur, und es ist ein so interessantes Land, ein Land mit Pyramiden zum Beispiel oder ein Land mit einer bewegten und einer lebhaften Politik in diesen Jahren. Als wir nach Mexico kamen, gab es dort einen Präsidenten namens Cárdenas, der sehr bekannt war. Cárdenas hatte die Bestrebung, die Emigranten auch deshalb nach Mexico zu bringen, weil er meinte, es gibt da einen Kern, der den Wurzeln nach spanisch ist. Und er meinte damit auch europäisch. Es gab einen neuen Zufluß, aber nicht von ungefähr, sondern wir hatten bereits eine Verwandtschaft mit den Leuten, die da vor uns gewesen waren. Auf jeden Fall war es sehr schön, wie die Mexicaner uns geholfen haben. Aber was mir auch gefällt, ist, daß die Emigranten, die dahin gekommen sind, nicht nur sich retten wollten, sondern daß sie auch dem Land nützlich waren. Das sind gute Erinnerungen, das war ein Geben und Nehmen gleichzeitig.

In Mexico gab es eine starke kommunistische Parteigruppe, die sich zum Teil personell mit dem Verlag „El libro libre“, dem „Heinrich Heine-Klub“ und der Monatszeitschrift „Freies Deutschland“ überschnitt. Waren Sie in dieser Gruppe?

Ja, natürlich. Wir waren eine Gruppe – natürlich, wie immer in der Emigration, gab es Reibereien. Aber es gab nicht nur Reibereien, sondern man hat sich gefühlt als eine Gruppe. Trotz Reibereien, verstehen Sie? Man hat also viel mehr zusammengehalten, als man es normalerweise tut, wie die Mexicaner es zum Beispiel selbst gemacht haben. Wenn ich in Frankreich bin, habe ich nicht das Bedürfnis, mein Franzosentum zu betonen. Gut, ich gehöre einfach dazu. Das ist alles, aber das ist sehr viel. Und so war es auch in Mexico für uns. Aber in einem besonderen Zusammenhang, man wußte, es gab so eine Parole, die die Deutschen sagten: „Mit dem Gesicht nach Deutschland“. Also immer daran denken, daß man nach Deutschland zurückkehrt und Deutschland wieder auf die Beine hilft. Mein Mann war ein sehr bewußter politischer Mensch, und es gibt ein französisches Zitat, das heute auch für mich einleuchtend ist, nämlich: Ein Glaube, der sich nicht in Taten umsetzt, kann nicht ehrlich sein. Das ist kein Glaube. Mein Mann hatte diesen Glauben an Deutschland, es gab natürlich Diskussionen noch und noch, nicht alle waren einer Meinung. Manche waren auch den Deutschen böse, daß sie sich nicht gegen Hitler empört haben. Aber andere haben verstanden, daß es nicht einfach gewesen sein kann, es war ja eine Diktatur. Und folglich konnte man nur etwas tun, wenn man auf das Ganze ging und bereit war, sich kaputtzumachen.

Haben Sie und Ihr Mann Kontakt zu Verwandten in Deutschland gehabt?

Mein Mann hatte seine Eltern in Deutschland. Die Eltern haben nicht überlebt. Es gibt sehr viele, die umgekommen sind. Wir haben in Mexico versucht, etwas zu erfahren, aber es ist uns nicht gelungen. Meine Schwägerin lebte in den Vereinigten Staaten, die hat von dort aus versucht, von den Eltern zu hören, ebenfalls vergeblich. Später haben wir erfahren, daß meine Schwiegereltern deportiert wurden und im KZ gestorben sind.

Sie sind 1946 zunächst nach Frankreich zurückgekehrt. Fiel Ihnen der Abschied von Mexico schwer?

An sich hatten wir in Mexico eine beinah leichte Emigration. In so einem interessanten Land, das war nicht jedem gegeben. Doch wir hatten es eilig nach Europa zurückzukehren, weil mein Mann den Eindruck hatte, er müßte beim Aufbau dabei sein. Sie wissen, wie zerstört Deutschland war. Aber an sich sind wir, ich möchte beinahe sagen, mit blutenden Herzen von Mexico weggegangen. Obwohl, es so zu sagen, ist vielleicht nicht richtig. Mein Mann hielt es für seine Pflicht zurückzugehen, aber nicht für eine lästige Pflicht, er hat sie freudig übernommen, und auch ich hatte Sehnsucht nach Europa, obwohl ich Mexico sehr liebte. Trotzdem sind meine Wurzeln in Europa und nicht in Mexico.

Dachten Sie daran, in Frankreich zu bleiben?

Ja, aber mein Mann war politisch viel stärker motiviert als ich. Und das habe ich anerkennen müssen. Er war ein politischer Mensch. Er hatte den Eindruck, wir können nicht erst nach Deutschland zurückkehren, wenn alles schon in Ordnung ist, sondern wir müssen dabei sein, wenn Deutschland wiederaufgebaut wird. Das habe ich verstanden. Das hat mir eingeleuchtet. Ich war nicht so begeistert, ich wäre lieber in Frankreich gewesen, aber wiederum war diese Motivierung meines Mannes so stark, daß ich absolut nicht versucht habe, ihn davon abzubringen, absolut nicht.

Wann sind Sie nach Deutschland zurückgekehrt?

Wenn ich mich richtig erinnere, war das 1947. Mein Mann war sofort 1946 nach Deutschland zurückgegangen. Aber er hatte Pech. Vielleicht weil Mexico so hoch liegt oder sein Zimmer in Berlin ohne Fensterscheiben war, ist er gleich krank geworden. Aber es kann auch sein, daß die Menschen im kaputten Deutschland nicht nur krank wurden, wenn sie physisch, sondern auch wenn sie moralisch bedrückt waren. Wie dem auch sei, mein Mann ist sofort krank geworden. Wir haben zuerst in Frohnau, im französischen Sektor, gelebt. Ich hatte natürlich auch Kontakt mit meinen Landsleuten, dadurch ist er in den Schwarzwald geschickt worden, der damals zur französischen Zone gehörte. Da hat man mehrere Monate versucht, ihn aufzupäppeln. Es ist auch gelungen, er ist einigermaßen gesund geworden im Schwarzwald und hat danach im Kulturbund gearbeitet.
Ich habe hauptsächlich als Sprach- und als Literaturlehrerin am Französischen Gymnasium gearbeitet. Ich hatte ja meine Prüfungen, ich konnte meine Qualifizierung beweisen. Ich glaube, dadurch daß ich Französisch konnte, habe ich unsere Emigration leichter gemacht. Das war für uns ein Plus. An dem Gymnasium habe ich mehrere Jahre unterrichtet, aber nachher habe ich angefangen zu übersetzen. Mein Mann hat auch übersetzt. Er hat zum Beispiel eine damals sehr bekannte Novelle, „Das Schweigen des Meeres“, von Vercors aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt. Sie ist im Aufbau Verlag erschienen. Er hat noch weitere Erzählungen von Vercors übersetzt, auch andere Novellen. Aber „Das Schweigen des Meeres“ war damals sehr bekannt in Deutschland. Wir haben auch Erzählungen geschrieben, und dann haben wir angefangen, Filme zu schreiben.

Drehbücher?

Ja, ich weiß nicht, wie es jetzt funktioniert, aber damals gab es verschiedene Phasen. Drehbuch, das war das Ende, das war vor dem Drehen. Aber wir haben auch Filme erfunden, erdichtet. Mit dem Regisseur Martin Hellberg haben wir viel und gerne gearbeitet, lieber noch mit Slatan Dudow. Das hat uns einfach Spaß gemacht. Mein Mann hat sehr gerne diese Art Arbeit gemacht. Ja, ich glaube, das ist ungefähr unser Werdegang gewesen. Wir haben auch ein Buch geschrieben „Schauplatz Paris“. Wir haben sehr viel und sehr gern miteinander gearbeitet.

In den fünfziger Jahren bekamen einige Ihrer mexicanischen ExilgefährtInnen in ihren sozialistischen  Heimatländern Schwierigkeiten. Als „Westemigranten“ wurden sie der Spionage und des Verrats am Sozialismus verdächtigt. Können Sie sich an die Zeit noch erinnern?

Ja, ich kann mich an die Zeit erinnern, aber wir haben keine Schwierigkeiten gehabt. Keine. Warum, weiß ich nicht. Es gab eine trübselige Periode, in welches Jahr das fiel, kann ich gar nicht mehr auswendig sagen. Aber in der Tat, Janka und Merker und all diese Geschichten... Gleichzeitig gab es in der Tschechoslowakei zum Beispiel, wo wir auch Freunde hatten, sehr gute Freunde, mit denen wir in der Emigration und in Paris gearbeitet hatten, Schwierigkeiten politischer Art. Die Leute wurden verhaftet, verdächtigt und zum Teil sogar kaputtgemacht, physisch.

André Simone?1

Ja, zum Beispiel. Das war für mich vielleicht die schlimmste Periode meines Lebens. Mit André Simone habe ich jahrelang in der Agence Espagne gearbeitet. Er hat die Agence Espagne gegründet. Und ich habe damals nicht verstanden, was man ihm vorgeworfen hat. Erst habe ich natürlich versucht, mir Erklärungen zu geben. Das waren Erklärungen, die mir niemals richtig eingeleuchtet haben. André Simone war ein sehr begabter Journalist, und er hatte natürlich als Journalist Fühlung gehabt mit vielen anderen Journalisten und Politikern, die nicht seine Farbe hatten, die anders waren. Irgendwie, er war am Rande, wenn Sie wollen. Und da habe ich immer gedacht, als er sehr tragisch endete, er ist wahrscheinlich auf Leute gestoßen, die nicht ganz sauber oder die fragwürdig waren, das weiß ich nicht. Das ist eine Sache, die für mich unklar war. Aber es hat dies in mehreren Ländern gegeben. Es ist mir bis heute rätselhaft geblieben, wie sich das entwickelt hat. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, daß zum Beispiel André Simone irgend etwas gemacht hat, was nicht in Ordnung war. Das konnte ich mir nicht vorstellen, weil ich mit ihm gearbeitet habe. Und ich hatte absolutes Vertrauen zu ihm.

Haben Sie auch von Lenka Reinerová (vgl. Lebenswege, ila 210) Nachricht gehabt? Wußten Sie von ihrer Verhaftung?

Ja. Aber soviel ich weiß, ist sie nicht gefoltert worden. Man hat immerzu versucht, von ihr ein Schuldgeständnis zu erpressen. Aber sie hatte keine Schuld und hat durchgehalten. Die Lenka hat sich nicht erpressen lassen, das hat sie mir selbst gesagt. Das glaube ich ihr. Sonst hätte sie nicht darüber gesprochen. Ich bin absolut sicher, daß sie mir die Wahrheit gesagt hat. Aber es war wahrscheinlich nicht leicht durchzuhalten. Es ist sehr schwer, wenn sie vor einem Menschen stehen, wahrscheinlich stehen, ich weiß es nicht, ich bin Gott sei Dank nicht in diese Lage gekommen, aber ich nehme an, Sie stehen vor einem Menschen, der Sie mit einer Lampe blendet, und Sie müssen sich möglichst mit aller Geistesklarheit verteidigen. Das ist bestimmt nicht leicht.
Das sind wirklich ganz trübsinnige Geschichten, die ich heute noch nicht begreife. Ich kann nicht glauben, daß ein Mensch wie Walter Janka irgendwas Unsauberes getan hat. Für mich selbst brauche ich keine Beweise, ich bin absolut überzeugt, daß Walter Janka aufrichtig war und die Lenka Reinerová auch.

Haben Sie sich in Anbetracht dieser Ereignisse überlegt, die Partei oder auch das Land zu verlassen?

Nein, das habe ich nicht überlegt. Es wäre wie ein Geständnis der Schuld gewesen. Verstehen Sie? Wenn man nur eine Überzeugung hat, aber eine Überzeugung, die man nicht beweisen kann, was kann man damit machen? Das nützt gar nichts.

Wieso wäre es ein Geständnis der Schuld gewesen, wenn Sie das Land verlassen hätten?

Das Land zu verlassen, wäre natürlich ein Geständnis der Schuld gewesen. D.h., ich will gar nichts mehr damit zu tun haben, ich bin keine Sozialistin mehr, ich bin im luftleeren Raum. Das ist vielleicht auch das, was mich erschreckt hat, dieses Gefühl, daß ich nicht zu einer verschworenen Gemeinschaft gehöre. Eine Gemeinschaft, wo einer für den anderen aufkommt, also in dem Sinne, „Der ist in Ordnung“. Man kann nicht leben, ich könnte nicht leben, wenn ich den Menschen mißtrauen würde. Ich muß als Eingangssituation annehmen, der Mensch, der mir gegenüber sitzt, mit dem ich zu tun habe, dieser Mensch ist ehrlich. Das ist der Ausgangspunkt. Natürlich kann man sich immer irren. Aber das Vertrauen nützt für einen Dritten nicht. Wenn ich sage, ich habe Vertrauen. Du hast Vertrauen und Y hat kein Vertrauen. Das nützt nicht.

Wie ist Ihr Leben danach weiter verlaufen?

Mein Leben in der DDR war eigentlich nicht besonders dramatisch, gar nicht. Ich habe ungefähr so gelebt, wie Sie das heute sehen. Man kann nicht immer und immer wiederkäuen, was einem schwerfällt. Man kann das nicht, aber wiederum kann man auch nicht ein für alle mal sagen, darüber will ich überhaupt nicht mehr nachdenken. Das kann man nicht. Also, das ist in der Tat so, es gibt Gedanken, die einen so absolut beherrschen, daß man sie nicht abschütteln kann. Ich lebe ziemlich normal. Aber wenn ich plötzlich von Trauer überfallen werde, weiß ich auch, woher das kommt. Das sind so alle diese Sachen, die man in sich selbst sammelt, ohne daß man sie so ein für alle mal erledigen kann, das gibt es nicht.

  • 1. André Simone (eigentlich Otto Katz), deutschsprachiger Kommunist aus Prag, gehörte zur KPD-Gruppe in Mexico. Nach der Rückkehr aus dem Exil ging er in die CSSR. 1952 wurde er dort im Zuge stalinistischer Säuberungen verhaftet und im sogenannten Slansky-Prozeß als „zionistischer Agent“ zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Das hier abgedruckte Interview entstand auf der Basis von zwei Gesprächen, die Ulrike Schätte am 24. 7. und am 21. 8. 1996 in Berlin führte.