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Das Vergessen existiert nicht

Interview mit dem uruguayischen Autor Mauricio Rosencof

Hierzulande wird Mauricio Rosencof nach wie vor weniger als Schriftsteller denn als ein historischer Führer der Tupamaros wahrgenommen, obwohl er diese Organisation schon lange verlassen hat. Dementsprechend wurden seine ins Deutsche übersetzten Bücher bislang zwar in der linken und linksradikalen Szene rezipiert, vom literarischen Feuilleton dagegen weitgehend ignoriert. Dabei ist Mauricio Rosencof seit seiner Entlassung aus den Kerkern der uruguayischen Diktatur vor allem Autor und längst eine der wichtigsten literarischen Stimmen Lateinamerikas. Politik ist aus Mauricios Leben nicht wegzudenken, aber seine Stärke liegt nicht in politischen Statements, sondern in einer Literatur, in der sich persönlich-politische Reflexionen und eine große Erzählkunst vereinen. Gaby Küppers und Gert Eisenbürger haben ihn besucht und sich mit ihm über sein Schreiben unterhalten.

Gert Eisenbürger
Gaby Küppers

Nachdem deine Literatur in früheren Jahren immer wieder Erfahrungen aus dem Gefängnis während der Militärdiktatur aufgreift, betreibt deine gerade in deutscher Übersetzung erschienene Erzählung „Briefe, die nie angekommen sind“ Spurensuche in der jüdischen Vergangenheit deiner Familie. Bedeutet das auch eine Wendung von der Geschichtsaufarbeitung einer ganzen Generation hin zur ganz persönlichen Erinnerung?

Nun, das mag vielleicht so aussehen. Ich glaube aber, daß für jeden Menschen das wichtigste Thema immer mit dem eigenen Leben zu tun hat. Ich habe mich immer damit beschäftigt, in allem, was ich vor, wie dem, was ich nach dem Gefängnis geschrieben habe. Ich habe da meinen Themenschwerpunkt nicht verändert. Eines meiner letzten Theaterstücke befaßt sich mit den Verschwundenen. Das hat sicher weniger etwas mit meinen Wurzeln als mit meiner Zeit im Gefägnis zu tun. Aber meine politische Entwicklung und meine Haft haben wiederum auch etwas mit meinen Wurzeln zu tun. Mir wurde das im Gefängnis bei einem unserer Klopfzeichengespräche durch die Zellenwand mit dem Ñato sehr stark bewußt. Daß wir dort gelandet waren, hatte etwas damit zu tun, daß wir in einer Kontinuität standen. Ñatos Onkel hatten die Frankisten auf einer Landkooperative in der spanischen Republik erschossen. Und ich stammte aus einer Familie, von denen einige in den Krematorien Hitlers in Auschwitz umgekommen waren, andere im Warschauer Getto und einige zu den Partisanen gegangen waren. Wir stammen also keineswegs aus dem geschichtlichen Nichts.
Meine politischen, sozialen und ideologischen Wurzeln liegen genau da. In  „Briefe, die nie angekommen sind“ erzähle ich meine Kindheit. Da war ein kommunistischer Vater; da war meine Mutter, die Strümpfe für die Internationalen Brigaden strickt. Zu meinen frühen Erinnerungen gehören auch Diskussionen im Komitee, in einer Sektion der kommunistischen Partei. Denn die Emigration der 30er Jahre war eine von armen Leuten, armen Arbeitern und Handwerkern. Meine ganze weitere Entwicklung steht in dieser Tradition. Wenn die Erwachsenen ins Komitee gingen, schickten sie uns Kinder auf die Straße, das Silberpapier aus den Zigarettenschachteln aufzusammeln, denn da war Blei drin. Wir machten dann daraus dicke Silberpapierkugeln, die nach Spanien geschickt wurden, um sie dort zu schmelzen und das Metall auszulösen und daraus Kugeln zu machen. Ich weiß nicht, ob’s stimmt, aber irgendetwas Wahres wird schon drangewesen sein. So gibt es überall Kontinuität. Die Geschichte läßt sich nicht in einzelne abgeschlossene Kapitel aufteilen. Sieh mal, man geht davon aus, daß 40% der Angehörigen der Internationalen Brigaden in spanischen Bürgerkrieg jüdischen Ursprungs waren. Im französischen Maquis sollen es 30% gewesen sein. Und das ist völlig erklärlich: Warum sollten sich Menschen einer Gruppe ohne eigenes Territorium, die über die Welt verstreut leben, nicht zu einem internationalistischen Projekt zusammenfinden? Das ist vollkommen logisch. Das ist eine ganz natürliche Identifikation. Nicht zu vergessen, daß diejenigen, die 1905 zur Kolonisierung Israels aufbrachen, Anhänger sozialistischer Ideen waren, die die zaristische Repression kennengelernt hatten.

Behandelst du deine jüdischen Wurzeln erstmals in dem neuen Buch, oder gibt es andere Werke mit diesem Thema von dir?

Ich habe mich nie explizit als Jude engagiert. Von daher taucht das Thema auch nicht als Einforderung auf, sondern schlicht als Lebenserinnerung. So steht zu Beginn der Erzählung die Trauer, die beklemmende Stimmung, als der Briefträger, der die Post der Verwandten aus Polen bringen sollte, eines Tages begann, vorbeizugehen, ohne bei uns zu halten. Wer da starb, war die Mutter meines Vaters, der Vater meiner Mutter, seine Geschwister. Das ist etwas, was man als kleines Kind noch gar nicht richtig begreifen kann, aber mit der Zeit merkte ich doch, daß es um meinen Cousin ging, der mir einmal einen Brief geschrieben hatte. Das wird dann irgendwann himmelschreiend wichtig.
Ich habe das Thema auch in einem unveröffentlichten Theatertstück verarbeitet, das ich viel früher geschrieben habe: „El zapatito...“ (Das Schühchen...), das so etwas wie das Epos des Aufstands im Warschauer Getto ist. Der Protagonist, Mordejai Aniljewitsch, war derjenige, der im Alter von 24 Jahren den Aufstand organisiert hat. Es war das erste Mal, daß im Krieg die Nazis zurückweichen mußten. Dabei mußten die Gettobewohner sich alle Waffen selbst herstellen oder irgendwie besorgen. Die wenigen Waffen, die sie über die polnischen Partisanen bekommen konnten, waren nur von geringer Reichweite und teuer. Denn die Polen haben sie sich bezahlen lassen.

In der letzten Zeit sind hier in Uruguay eine Reihe von Büchern über das Exil erschienen, Erinnerungen, Forschungsarbeiten, Romane. Dein Buch aber ist nicht in Uruguay erschienen. Warum?

Ehrlich gesagt, habe ich mich nicht besonders darum gekümmert. Ich glaube, ich könnte es ohne weiteres in Uruguay veröffentlichen. Die Erzählung, so wie sie auf deutsch erschienen ist, ist nur eine von mehreren Erzählungen, die ich erst einmal insgesamt fertigstellen möchte. Bei den „Briefen...“ war es so, daß Erich Hackl sie las und ganz toll fand, übersetzte und sich für einen Verlag einsetzte. Aber ich bin bislang nicht auf die Idee gekommen, das Gleiche hier zu versuchen.

Bekannt bist du vor allem als Theaterautor. In den letzten Jahren hast du aber auch zunehmend narrative Texte publiziert. Hat das etwas damit zu tun, daß in Zeiten wirtschaftlicher Rezession auch die Lage der Theater schwierger wird und Inszenierungen ein größeres, vor allem finanzielles Wagnis darstellen?

Vom rein wirtschaftlichen Standpunkt aus gesehen kann man hier weder mit der Prosa noch mit der Lyrik noch mit dem Theater große Sprünge machen. Aber trotzdem passiert im Cono Sur weiterhin jede Menge. Ich komme gerade von einem Vortrag auf einem internationalen Theaterfestival in Argentinien; kurz zuvor war ich auf Einladung von Juan Gelman auf einem Lyrikfestival in Rosario zu einer Rezitation. Im Allgemeinen bin ich jedoch eher als Dramaturg präsent. Hier in Uruguay sind immer Stücke von mir auf dem Spielplan, im Landesinnern ebenso wie in der Hauptstadt. Ich habe Romane und Kurzgeschichten geschrieben, bin Lyriker, Theaterschriftsteller, aber wenn du mich fragst, was das Wichtigste ist, das ich gemacht habe, würde ich sagen, daß es unter den Theaterstücken „Los caballos“ (Die Pferde) ist. Es handelt von einer alten Frau, die in den Reisfeldern arbeitet, und es entwickeln sich einige phantastische Konflikte. Im Reisanbaugebiet Uruguays arbeiteten die Leute in den 50er Jahren zwölf Stunden am Tag, im Schlamm, ohne passendes Schuhwerk. Genau dort habe ich Raúl Sendic kennengelernt und mit ihm in einem Rancho gelebt. Dort brach damals dann der große Streik aus, und dort entstand unter anderem auch das Theaterstück. Von meinen Prosastücken würde ich den „Bataraz“ nennen.

Hast du den Eindruck, daß die Theaterproduktion in den letzten Jahren in Uruguay rückläufig ist?

Nein, keineswegs. Hier gibt es viele neue künstlerische Produktionen. Die Theaterszene ist wirklich ein Phänomen. Und sie ist durch die Bank sozial engagiert. Wenn du dir den Spielpan in Montevideo einmal anschaust, wirst du feststellen, daß das Angebot mit Madrid absolut vergleichbar ist. Es gibt mehr als ein Dutzend Schauspielschulen, 20 Ensembles allein in Montevideo. Ich würde sogar sagen, daß es, wenn man sich die Zahl der Teilnehmenden ansieht, eine kulturelle Massenbewegung ist. Entsprechend gibt es viele Theatersäle, denn Theater hat in Uruguay eine große Tradition.

Du erwähntest deinen Übersetzer Erich Hackl. Es gibt eine Gemeinsamkeit zwischen euch beiden, die Auseinandersetzung mit der Funktion der Erinnerung. In deinen „Briefen...“ ist es der Holocaust. In „Sara und Simón“ hat Erich Hackl umgekehrt eine uruguayische Problematik aufgegriffen, das Verschwindenlassen in der Diktatur. Ihr wendet euch damit beide gegen das verordnete oder frewillige Verdrängen. Wie habt ihr euch kennengelernt?

Das erste Mal habe ich von Erich Hackl gehört, als er nach dem Erscheinen des „Bataraz“ eine lange Rezension darüber veröffentlicht hat. Als er dann hierher reiste, besuchte er mich zu Hause, und ich gab ihm das Manuskript der „Briefe...“. Dann sahen wir uns in Österreich wieder, als mich der Verlag einlud, er hatte eine Radioversion geschrieben.
Was die Erinnerung betrifft, bin ich der Meinung: Es gibt nur Erinnerung, das Vergessen existiert nicht. Was du bist, bist du aufgrund deiner Erinnerung. Wenn du keine Erinnerung hättest, wärst du ein Objekt oder ein Tier. Sicher, man kann Gedächtnislücken haben, man kann etwas vergessen, sogar für lange Zeit keine Erinnerung mehr an bestimmte Ereignisse haben, ob absichtlich oder unabsichtlich, das ist zweitrangig. Aber manchmal reicht der kleinste Anlaß, und es kommt alles wieder.
Ich will euch anhand einer Anekdote erklären, wie ich zu diesem Konzept gekommen bin. Sie stammt aus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust. In dem Zyklus gibt es einen Roman, „Die Wege des Swann“, in der der Protagonist nach Hause kommt, es regnet und ist kalt, die Mutter macht ihm einen Tee und bringt ihm ein paar Plätzchen, ein paar Madeleines. Er taucht sie in den Tee, führt sie zum Mund, und als er sie auf der Zunge zergehen läßt, überlegt er, woher er ihren Geschmack kennt. Da beginnen die Neuronen des Gedächtnisses zu arbeiten, spüren den Geschmack nach und machen sich auf die Suche. Es fällt ihm ein, daß es in seiner Kindheit eine Tante gab, welche... von dort aus entwickelt sich der gesamte Roman, und am Ende wird klar: Der ganze Roman ist entstanden, weil der Geschmack eines Plätzchens Erinnerungen wachgerufen hat.
Es kann durchaus passieren, daß das Gedächtnis für lange Zeit blockiert ist. Aber es geht nichts verloren. Und plötzlich taucht alles auf. Wie lange war und ist in Lateinamerika, vor allem in Argentinien und natürlich auch hier in Uruguay, das Thema der Verschwundenen schon präsent? Es gibt inzwischen eine Organisation der Kinder der Verschwundenen und es wird sicher auch eine der Enkel geben. Warum? Wenn 30 000 Menschen verschwinden, wird davon die Geschichte für immer gezeichnet. Und es wird weiterhin kulturelle Umsetzungen des Themas geben, Interpretationen, Gegendarstellungen, Gedichte, Lieder, Theater, Romane. Das ist eine unendliche Geschichte. Und all das ist Teil der Erinnerung.

Das Buch baut auf einer doppelten Erinnerungsleistung auf: Du erinnerst dich an dich, wie du als Junge warst, der Junge wiederum holt mit den Briefen das Schicksal der toten Verwandten zurück ins Gedächtnis. Warum schreibst du aus der Perspektive des Jungen und nicht aus der des zurückblickenden Erwachsenen, der du ja bist?

In den meisten meiner Stücke kommt ein Kind vor. In mehreren Theaterstücken hat ein Kind eine tragende Rolle, außerdem mache ich Kinderbücher, und ich versetze mich dabei in ihre Welt. Zunächst einmal ist das ein literarisches Mittel, das mir liegt. Ich arbeite gern mit ihnen, und mir gefällt einfach ihr unverdorbener Zugang zu den Dingen.
Aber was bedeutet dieser Rekurs? Zum einen ist kein Werk das endgültige oder das beste, man muß sie vielmehr in einem Zusammenhang sehen. Der einzelne (Künstler) drückt seine Vision der Dinge aus, und das mit Hilfe des jeweiligen Themas, das er in dem einen oder anderen Werk aufgreift.
Sieh mal, beim Hereinkommen sprachen wir von dem Preis, den ich gerade in Havanna für das Drehbuch für den Film „La Margarita“ bekommen habe. Wenn ich euch erzähle, wovon das Drehbuch handelt, merkt ihr, das alles simultan ist.
„La Margarita“ ist eine Sammlung von Gedichten, die im Gefängnis unter ganz besonderen Bedingungen entstanden sind. Wir befanden uns damals unter der Erde und waren in Zellen eingesperrt, die gerade einmal 1,80 m mal 60 cm groß waren. Wir waren insgesamt zweieinhalb Jahre an diesem Ort. Eines Tages fragte mich einer unserer Bewacher, ob ich der Schriftsteller sei. Ich antwortete, ja, der bin ich. Da befahl er mir, seiner Braut/Verlobten einen Brief zu schreiben. Das tat ich, begann, Gedichte für ihn zu schreiben, und der Sargento hatte Erfolg. Seine Braut war begeistert, die beiden heirateten. Bald war ich richtig im Geschäft. Denn meine Gedichte hatten Tauschwert: mal ein hartgekochtes Ei, mal zwei Zigaretten. Manchmal haben sie mir nach dem Auftrag die Kugelschreibermine dagelassen. Und dann konnte ich mit dieser Mine für mich schreiben. Zu den Dingen, die ich zu Papier brachte, gehören die Gedichte der Margarita.
Sie bilden die Liebesgeschichte von zwei jungen Leute aus dem Barrio, ein Romeo-und-Julia aus einem Armenviertel in Montevideo, in gewisser Hinsicht übrigens autobiographisch. Die Gedichte, die die Geschichte erzählen, schrieb ich in fünf, sechs Tagen nieder – Sonette –, versteckte sie im Saum von einem Hemd, das ich später meiner Familie zum Waschen mitgab. So überlebten die Gedichte.
Irgendwann viel später nahm Jaime Ross, einer der bekanntesten Musiker des Rio de la Plata, die Gedichte und vertonte sie. Sie wurden ein Riesenerfolg. Hier und in Buenos Aires wurden sie mit einer Goldenen und einer Platinschallplatte ausgezeichnet. Damit wurden natürlich auch die Bedingungen bekannt, unter denen die Gedichte entstanden waren. Beides zusammen rief wiederum weiteres Interesse hervor, und das war dann der Ausgangspunkt für das Drehbuch. Darin wird die Geschichte eines Menschen im Gefängnis erzählt, dem es dort sehr dreckig geht, der aber Gedichte schreibt und mit seiner Einbildungskraft die Türen seines Gefängnisses durchbrechen kann und auf dem Hof eines Tanzlokals landet, wo er mit seiner compañera einen Tango tanzen kann. Das heißt, er verändert die gesamte Wirklichkeit mit dem, was aus ihm herauskommt.

Ein weiteres Thema deines neuen Buchs ist die Emigration nach Lateinamerika, die Anstrengungen zur Integration, die kleinen Beobachtungen aus dem Alltag. Am Ende des Buchs steht der Holocaust in Europa. Die Hauptperson, der kleine Ich-Erzähler, und sein Freund sitzen traurig auf der Straße. Ist das Davongekommensein, die Emigration etwas unrettbar Trauriges?

Ich weiß nicht. Ganz sicher war damals ein ganz verbreitetes Gefühl ein Heimweh, eine Nostalgie, die wir als Kinder der Emigration geerbt hatten, einer Emigration, die wir am Rio de la Plata mit einem Großteil der Bevölkerung teilen. Nicht zuletzt ist der Tango, die Musik des Rio de la Plata, voller Nostalgie. Ich glaube, in den Tangos, die wir als Enkel von Emigranten schreiben - ich habe übrigens auch selbst welche geschrieben - lassen wir uns aus über eine Nostalgie, die uns eigentlich gar nicht gehört, sondern die die unserer Eltern ist. Aber wir haben sie zu Hause, in der Familie miterlebt und aufgesaugt.
Man muß sich einfach einmal klar machen, daß man heute von Europa nach Uruguay oder umgekehrt von Uruguay nach Europa in 12 Stunden fliegen kann. Und so eine Reise ist wie die japanischen Uhren: Die können sich alle – oder sehr viele Leute – leisten. Aber in der damaligen Zeit mußten die Leute halb Europa durchqueren, bis Genua kommen, ein Schiff besteigen, das dann wochenlang auf hoher See war, bis man hier ankam. Da war die direkte Kommunikation, wie es sie heute gibt, absolut unmöglich. Wenn du dich irgendwo in Europa von deiner Familie verabschiedetest, wußtest du nicht, wann du sie überhaupt noch einmal wiedersehen würdest. Das Gefühl der Entwurzelung hat da also ganz reale Ursachen. Diese Traurigkeit hier dann, nun da vermischt sich vieles. Hier gab es Essen, dort nicht mehr. Die Erzählungen meines Vaters von den Hungersnöten in Polen während und nach dem ersten Weltkrieg sind schrecklich. Leber, die ja wirklich eine gute Mahlzeit abgibt, schenkten sie dir hier in den Metzgereien für die Katze. Meine Mutter dagegen, mit ihrer Vergangenheit, kochte sie für uns.
Weiterhin bildeten sich hier sehr schnell feste Zusammenhänge. Es gibt eine starke jüdische Gemeinde, eine italienische, eine spanische, die Sanatorien heißen Casa de España oder Casa de Galicia. Wenn du dir die Tänze oder Feste anschaust oder einfach mal fernsiehst, merkst du das sofort. Damit bewahren sie in gewisser Weise ihre Wurzeln, auch wenn sie hier neue Wurzeln schlagen, aber man kann die einen nicht durch die anderen ersetzen.

Du erwähnst in dem Buch auch die Arbeiterbewegung damals. Du hast einmal gesagt, daß diese Arbeiterbewegung insgesamt sehr jüdisch geprägt war...

Das muß man historisch differenzieren. Die erste Arbeiterbewegung wurde um die Jahrhundertwende zweifellos von den italienischen Anarchisten gebildet. In den 30er Jahren gab es dann eine starke jüdische Immigrationswelle. Das waren Leute, die mit linken Ideen herkamen, arme Juden. Ab da gibt es dann auch Gewerkschaftsführer jüdischen Ursprungs. Das merkt man vor allem in der Kommunistischen Partei Uruguays, wo der Anteil der Juden wirklich beeindruckend ist. Das geht sogar so weit, daß du damals in die Seccional Sur der Kommunistischen Partei, von der ich erzähle, gehen und die Leute jiddisch reden hören konntest.
Die erste linke Publikation, die in Uruguay täglich erschien, kam auf jiddisch heraus. Sie hieß „Unzer Fraint“. Ich ging damals manchmal mit meinem Vater auf den Friedhof La Paz am Stadtrand von Montevideo, wo viele meiner Angehörigen begraben liegen. Einmal führte mein Vater mich auch zum Grab von Abramovitsch, dem ersten Herausgeber dieser Zeitung. Anstelle eines Davidsterns, oder auf einem christlichen Grab ein Kreuz, sind auf seinem Grabstein Hammer und Sichel eingemeißelt. Das ist sicher der einzige Ort in Uruguay, wo sich das Symbol erhalten hat.

 In der Reihe „Lebenswege“ kam Mauricio Rosencof auch in der ila 168 (Sept. 1993) zu Wort.

Das Gespräch führten G. Eisenbürger und G. Küppers im Dez. 1997 in Montevideo.