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Mehrwert, Mehrarbeit, mehr Armut

Über Privatisierungen, Natur-Marxisten und Lohndruck

Zu Beginn der 90er Jahre, direkt nach der formalen Wiedervereinigung der beiden Teilstaaten DDR und BRD, wurden wir Zuschauer der größten und rasantesten Privatisierung, die je in Deutschland stattgefunden hat. In wenigen Jahren wurde das gesamte Industrie-, Verteilungs- und Geldwesen der Ex-DDR verkauft, verramscht, verschenkt oder verschrottet. Das war nicht wenig, schließlich zählte die DDR phasenweise zu den größeren Industriestaaten dieser Erde.

Gernot Wirth

Weil alles so schön war, ging es Mitte der 90er im „Westen“ weiter. Aus der staatlichen Post entstanden Telekom und die Deutsche Post AG mit der Postbank. Aus Bundesbahn und Reichsbahn wurde die (noch nicht ganz private) Deutsche Bahn AG, aus der staatlichen Fluglinie die Deutsche Lufthansa AG. Ideologisch begleitet wurde diese Abwicklung von den üblichen Lobgesängen auf die Überlegenheit der privaten Wirtschaft gegenüber staatlichen oder kommunalen Bürokratien. So was kommt an, weil einerseits die Oratorien der Mächtigen so gewaltig tönen, durchaus aber auch, weil jede Bürokratie zu fast jeder Zeit allerlei morsche oder faule Stellen in sich trägt.

Ende der 90er erklangen dann plötzlich ganz neue Töne zur bisherigen Musik: „Stärkung der Eigenverantwortung im Gesundheits- und Bildungswesen“, „Hinwendung zum Kapitaldeckungsverfahren in der Altersvorsorge“, „Senkung der Lohnnebenkosten“ und „deutliche Reduzierung der drückenden Steuerlasten“ (gemeint sind die Steuern auf große Kapitale). Und spätestens seit 2002 singt ein gut orchestrierter, vielstimmiger Chor aus Professoren, Interessenvertretern, Unternehmern, Bankern und Politikanten aus allen Lagern das Lied von den faulen und zu hoch bezahlten deutschen Lohnabhängigen, immer wieder durchdrungen von schrillen Tremoli zur Steuersenkung und Privatisierung. Die Löhne runter und die Gesellschaft radikal privatisieren lautet die Botschaft. Wo liegt das Gemeinsame zwischen den drängenden Privatisierungswünschen und dem ebenso eifrigen Kampf gegen „viel zu hohe Löhne“?

„Richtiges Geld verdienst du nur, wenn du Leut´ anstellst“, das weiß jeder kleine Bauunternehmer. Den inneren Antrieb dafür kennt er nicht, ihm genügt das Ergebnis. Mit dem Warum hat sich vor 150 Jahren bereits Karl Marx befasst. Gesellschaftlicher Mehrwert im Kapitalismus entsteht demnach über den Zyklus aus Kaufen – Produzieren – Verkaufen. Der Unternehmer, der Herr Kapital also, kauft Rohstoffe, Arbeitsmittel und Arbeitskraft (von Lohnabhängigen, die er als Personen „mietet“ und deren Arbeitskraft er für einen begrenzten Zeitraum nutzt) und verkauft dann ein im Produktionsprozess entstandenes höherwertiges neues Produkt mit entsprechendem Gewinn. Der höhere Wert ist ein durch die geleistete Arbeit dem Produkt hinzugefügter realer Zusatzwert, der entsteht, weil die Arbeitskraft den unschätzbaren Vorteil hat, mehr Arbeit abgeben zu können, als für ihre Reproduktion bezahlt werden muss.

Der Mehrwert kommt aus der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft, wie unser Naturmarxist, der eingangs erwähnte Bauunternehmer – ohne Marxstudium – weiß. In Westdeutschland haben sich die Menschen im Laufe ihrer Geschichte nach 1945 an einen Kapitalismus mit relativ mildem Antlitz gewöhnt. „Sozialpartner“ hießen damals die Unternehmer. Der Grund dafür lag in der Möglichkeit des Kapitals in dieser Phase, die Profitrate durch Ausweitung und permanente Modernisierung der Produktion zu erhöhen, ohne die Arbeitskräfte bis auf den letzten Blutstropfen auspressen zu müssen. Da hat sich inzwischen einiges geändert. Die quantitative Ausweitung der Produktion ist an reale Grenzen gestoßen, was sich entsprechend auf die Profite auswirkt. Die aktuelle Technologieentwicklung, eine weltweite politisch-ökonomische Grenzöffnung, eine rasante Akkumulation von Kapital, eine enorme Ausweitung des Einflusses der großen Konzerne und Banken und die relative Entwertung auch von Facharbeit führten zu einem weltweiten Überangebot an Arbeitskräften – und zu einer Unterauslastung vieler Produktionsanlagen. 

Weil es mit der Produktionsausweitung seit einiger Zeit nicht so recht klappt, sind die Kapitalstrategen wieder auf altbekannte Pfade eingeschwenkt. Mit dem Totschlagargument, „die Konkurrenz erzwingt's, wir müssen sonst dicht machen“, beschwören die Männer in Grau und ihre HelferInnen (auch in Bunt) gebetsmühlenhaft die Reduzierung der Lohnkosten und Steuern und die Privatisierung von allem, was noch nicht privat ist. Die Profitrate durch Druck auf die Löhne erhöhen und bisher nicht kapitalisierte Bereiche privat-profitabel zu machen lautet die Devise – von der Übergabe der Umlagefinanzierung der Renten- und Krankenversicherung an private Wertschöpfungsorganisationen bis hin zur Privatisierung von Energie, Wasser, Straßen oder Genen, vielleicht auch bald schon der Luft zum Atmen.

Der Profit wird zum Weg und zum Ziel zugleich, der Markt wird total, während Gesellschaft und Natur zum totalen Objekt reduziert werden. Eine solche Entwicklung kann nicht gut gehen. Zwar vermögen private Wirtschaft und private Initiative so einiges, besonders gut sind sie in der Entfaltung jener Produktivkräfte, deren produktiver Ausstoß verkäuflich ist. Allerdings auch nur in diesem begrenzten Bereich. Alle gesellschaftlichen Fragen und Probleme außerhalb der Profitsphäre kann und will privates Kapital nicht lösen. Nicht im Umweltschutz, nicht im ethischen Bereich, nicht im sozialen Bereich und schon gar nicht im Bereich der zukünftigen Energieversorgung.

Die Gesellschaften sind gefordert, zu vorsichtiger, aber entschiedener Re-Regulierung zurückzukehren und die öffentliche Bereitstellung elementarer Dienstleistungen zu verteidigen. Die ideologische Vorbereitung zur Demontage der gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung läuft seit Jahren auf vollen Touren, die Wasser- und Gasversorgung ist vielerorts noch in kommunaler Hand, steht aber gleichfalls unter privatem Dauerbeschuss. Dagegen können und sollten wir vorgehen – bald und massiv!

Literaturempfehlung:
Die Privatisierung der Welt. Reader des wissenschaftlichen Beirates von Attac. VSA-Verlag 2004.
GATS lokal. Privatisierung in der Kommune und die Rolle des GATS. WEED-Arbeitspapier von Christina Deckwirth, Dominik Fette und Werner Rügemer, 2004 • www.weed-online.org/publikationen/bestellung