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Triste Perspektiven

Hans-Jürgen Burchardt sieht schwarz für Lateinamerika (Buchbesprechung)
Ronald Köpke

Hans-Jürgen Burchardt, Mitarbeiter am Hamburger Institut für Iberoamerika-Kunde und Hochschuldozent in Bremen, ist vor allem als kritischer Analytiker der cubanischen Transformationsprozesse bekannt. Auf den ersten Blick erscheint der Wurf „Zeitenwende – Politik nach dem Neoliberalismus“ etwas sehr breit geraten zu sein. Allerdings ist der Titel nicht esoterisch, sondern wirklich produktiv gemeint. Bei dem Buch handelt es sich um einen Versuch, unter Bezugnahme auf die Fallbeispiele Venezuela und Cuba mögliche Konturen einer nachliberalen Politik darzulegen. Gleichzeitig werden die Erwartungen an systemüberwindende Politik in deutlichen Grenzen gehalten. Nach Burchardt ist ein zentrales Erfordernis an eine antisystemische Politik nach dem Neoliberalismus, „Demokratie und Markt zusammen zu denken“ (S. 279). Dabei rücke die Frage nach den Zielen des Gesellschafts- und Wirtschaftssystems wieder in den Vordergrund der allgemeinen politischen Debatten.

Eine Grundvoraussetzung für den Erfolg des Neoliberalismus in Lateinamerika war das Scheitern des Entwicklungsstaates der Importsubstitution. So unterschiedlich auf der einen Seite die prekäre Staatlichkeit in Ländern wie Kolumbien oder Peru und in korporatistischen Ländern wie Mexico und Argentinien entwickelt war, so hatte der Neoliberalismus durchaus differenzierte Entwicklungspfade zu bieten (39), die erfolgreicher waren, als seine Kritiker wahrhaben wollen (so so – d. Säz.). Die katastrophalen Resultate im Bereich der endogenen Entwicklung und Armutsentwicklung lassen ihn jedoch nun von Experten der Weltbank, CEPAL bis hin zu Wirtschaftseliten wieder in Frage stellen. Zur Entwicklung eines analytischen Rasters für die nachfolgende Ära gehe es vor allem um das Begreifen „der sozialen Machtkonstellationen auf den Märkten und um die spezifischen Produktionsverhältnisse eines real existierenden oder gewollten Systems“ (S. 277). An die Fallbeispiele Cuba und Venezuela stellen sich davon ausgehend zwei Kernfragen: 1. Liegen dort bereits zukunftsweisende Impulse für Lateinamerika vor? 2. Machen sich die Veränderungen der Rahmenbedingungen dort bemerkbar? Beides mündet eher in einem Nein.

Burchardts Bilanz und Aussichten für das Projekt des Linksbündnisses in Venezuela sind eher düster: Das venezolanische Laboratorium Chávez sei im Zerfall des Ancien Regimes verwurzelt, insbesondere mit den Strukturanpassungsunruhen des Jahres 1989. Gleichzeitig aber sei es weiterhin der Idee des Petrodollar finanzierten Entwicklungsstaates verhaftet. Immerhin werde „Armutsbekämpfung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe und Verantwortung wahrgenommen“, und gleichzeitig „als eine interdependente Determinante von Wirtschaft und Politik insgesamt“ (203). Letzteres ist ein wesentliches über den Zustand des Neoliberalismus hinausweisendes Element. Der notwendige Tiefgang der Reform-Revolution sei jedoch für ein erfolgreiches Projekt nicht gegeben: „Dank der institutionellen Inkohärenz des Staates (bspw. der Gewaltenteilung etc.) seien zentrale Projekte wie die Reform der Sozialgesetzgebung Makulatur“ (208), „die Bodenverteilung werde sich nicht konsolidieren“, „die Armutsbekämpfung hänge am Erfolg der Wirtschaftspolitik“ und die wiederum einzig am Petrodollar: Chávez' rentenökonomische Wirtschaftsstrategie konzentriere sich primär auf die Erdölreserven statt auf die Entwicklung von alternativen produktiven Sektoren und verstärke die Abhängigkeit von den USA. Der Bolivarianismus spiele sich eher auf der Verlautbarungsebene ab: „Die bolivarianische Performance ist entweder neoliberal oder sozialistisch oder eine Mischung aus beidem“. „Dahinter stecke vor allem die Rhetorik eines endemischen Nationalismus“. Das ganze Projekt ist also insgesamt Ergebnis eines vom Neoliberalismus angefressenen abhängigen Entwicklungsstaates, keinesfalls jedoch ein geeignetes Fragment nachliberaler Alternativen. Ein hartes Urteil, das man nicht teilen muss, das jedoch jenseits vom antikommunistischen Wahn und jenseits unkritischer Lobhudelei liegt.

Last but not least widmet sich Burchardt dem Fall Cuba: Auch hier ist der Nationalismus in eigentlich unrevolutionären Zeiten Motor der Entwicklung. Spannend sind dabei vor allem die zu erwartenden Szenarien: Davon bietet Burchardt zwei an: Das eine als karibischer Tiger, „als gelegentlich knurrender Bettvorleger“ (192), im günstigeren Falle erfolgreich nach den Vorstellungen der Wirtschaftsplaner um Carlos Lage. Das wahrscheinlichere Szenario sei jedoch ein nachholender Neoliberalismus auf Basis eines Neopopulismus nach Fidel Castro. Die Angebote für Venezuela wie auch für Cuba sind gleichsam trist und haben mit der Zeitenwende nur insofern etwas zu tun, als das sie Zerfallsprodukte dieser Periode sind. Keine bequemen Aussichten, aber es ist zu befürchten, dass Burchardt recht behält.

Burchardt, Hans-Jürgen, Zeitenwende, Politik nach dem Neoliberalismus, Schmetterling Verlag (Juli 2004), 320 Seiten, 16,80 Euro