ila

In Bolivien werden Präsidenten nicht alt

Unsichere Zeiten in fast jeder Branche

Das Wort Interimspräsident hat dieser Tage in Bolivien eine Neuauflage erfahren. Carlos Mesa, der sein Amt als Präsident des Andenstaates eigentlich bis zu den Wahlen 2007 auszuführen gedachte, steht seit dem 7. Juni nicht mehr in Lohn und Brot. Nach wochenlangen Protesten und Blockaden sah er sich gezwungen, den Hut zu nehmen. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger Gonzalo Sánchez de Lozada dachte er – zum Wohle des bolivianischen Volkes – nicht daran, Waffengewalt einzusetzen, um sich im Amt zu halten. Nach seinem Rücktritt witterten sofort die traditionellen Regierungsparteien ihre Chance auf den Präsidentschaftssessel, doch einmal mehr zeigte die soziale Bewegung, wer die momentane politische Agenda des Landes bestimmt. Jetzt steht nun endlich ein neuer Übergangspräsident fest, der das Land zu den nächsten Präsidentschaftswahlen führen wird. Diese müssen laut Verfassung innerhalb von 150 Tagen – also noch dieses Jahr – stattfinden. Das Land hat sich zwar vorerst beruhigt, aber die zahlreichen Konflikte schwelen weiter und lassen für die kommenden Monate nicht nur Gutes erwarten.

Andreas Hetzer

Bereits am 8. März hatte Carlos Mesa seinen Rücktritt angeboten, weil er das Land unter den Bedingungen der ständigen Proteste für unregierbar hielt. Dieser wurde jedoch vom Parlament abgelehnt und als taktisches Manöver entlarvt, mit dem Mesa in Form einer Erpressung die Parlamentarier dazu bewegen wollte, die geforderten höheren Abgaben für die Energiekonzerne doch noch einmal zu überdenken. Die fehlende Konsequenz des Mannes an der Staatsspitze kann retrospektiv als typisch für seine Politik gelten. Einerseits sicherte er den sozialen Bewegungen eine Reform der Energiepolitik zu, andererseits sah er sich auf Druck der Konzerne und internationalen Geldgeber zu einem vorsichtigen Handeln genötigt. Er zeigte nicht die Entschlossenheit, die Agenda vom Oktober 2003 in die Tat umzusetzen. Immer wieder betonte er, dass die Erhöhung der Abgaben zur Abschreckung von Investoren führen werde, was sich Bolivien aufgrund der finanziellen Lage nicht leisten könne. In der Tat sind diese Bedenken nicht aus der Luft gegriffen: Bolivien muss allein 35 Prozent seiner Staatseinnahmen für die Bedienung der Schulden aufbringen, so dass es in besonderem Maße auf den Zufluss von Devisen angewiesen ist.

Noch Anfang Juni kündigte Mesa die Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung und die Referenden zur Autonomie der Regionen für den 16. Oktober an, um die Bevölkerung ruhig zu stellen und Zeit zu gewinnen. Allerdings verpufften diese Maßnahmen, weil sie bereits zu spät kamen. Am 7. Juni reichte Mesa seinen Rücktritt ein, der dieses Mal sofort vom Parlament akzeptiert wurde. Der Mann an der Spitze Boliviens musste sich eingestehen, dass er die brennenden Probleme des Landes nicht zu lösen im Stande war. Mit dem neuen Öl/Gas-Gesetz waren weder Investoren noch die radikale Opposition zu befrieden und die Realisierung einer Verfassunggebenden Versammlung war nach knapp zwei Jahren Amtszeit noch nicht weit vorangekommen. Die Geduld der außerparlamentarischen Opposition schien nicht weiter strapazierbar. Die Sympathiewerte Mesas waren seit seinem Amtsantritt stets im Fallen begriffen, obwohl er es verstand, ein Bild seiner Person in der Öffentlichkeit zu präsentieren, das sich von der traditionellen Politikerkaste eines Hugo Banzer oder Paz Zamora unterschied. Sein Image als charismatischer Intellektueller half am Ende jedoch wenig in der Bewältigung des realpolitischen Alltags.

Offizielle Nachfolger Mesas waren der Hardliner Hormando Vaca Diez aus der Provinz Santa Cruz, der wohl auch der Wunschkandidat der USA war, und der Parlamentspräsident Mario Cossio. Dass Vaca Diez durchaus Ambitionen auf eine Präsidentschaft hatte, verbreitete sich unter den AnhängerInnen der sozialen Bewegung wie ein Lauffeuer. Für sie ist er die Personifikation einer neoliberalen Politik ohne Rücksicht auf die Ärmsten des Landes. So wurde innerhalb weniger Stunden in die offizielle Hauptstadt Sucre mobilisiert, wohin das Parlament aufgrund der Proteste in La Paz ausgewichen war. Nach gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Polizei und DemonstrantInnen kam ein Bergarbeiter ums Leben, so dass schließlich beide Präsidentschaftsanwärter auf ihre Berufung verzichteten. Am 9. Juni wurde dann zügig der Verfassungsrichter und Präsident des Obersten Gerichtshofes Eduardo Rodríguez als Übergangspräsident vom Parlament angenommen. Er gilt als politisch unbeschriebenes Blatt, wohl einer der Hauptgründe, weshalb sich die konträren Lager im Parlament auf seine Person einigen konnten. Als unparteiischer Statthalter der Macht versprach er, sich voll und ganz um die vorgezogenen Präsidentschaftswahlen zu kümmern, ohne weitere Programmpunkte zu nennen. Ob sein Versöhnungsappell an die bolivianische Bevölkerung ausreichen wird, um den dampfenden Kessel etwas abzukühlen, ist jedoch mit Skepsis zu betrachten. Denn sowohl die indigene Opposition des Hochlands als auch die separatistische Bewegung im Tiefland wollen Kapital aus der Situation schlagen.

Im Tiefland sind es besonders die Organisationen Unión Juvenil Cruceñista (UJC) und die Nación Camba. Erstere ist eine paramilitärische Vereinigung mit klandestinen Strukturen, die schon mal durch extrem gewalttätige Aktionen auf sich aufmerksam macht, so geschehen bei bewaffneten Übergriffen auf AnhängerInnen der Movimiento Sin Tierra (Landlosenbewegung), die sich auf einem Gebiet niedergelassen hatten, welches für die Agroindustrie von Bedeutung ist. Die UJC entwickelt sich zu einer nicht-staatlichen, bewaffneten Eingreiftruppe. Bisweilen kommt es vor, dass Anhänger auf Kundgebungen die Arme zum Führergruß in die Luft strecken. Das zwingt den gemäßigteren Flügel der SeparatistInnen dazu, sich von Zeit zu Zeit von den jungen Wilden öffentlich zu distanzieren, um die Reputation ihres rassistischen und chauvinistischen Projektes zu wahren. Ideell sind sich beide jedoch sehr einig. Auf der Website der Nación Camba liest sich das so: „Die Ethnien Aymara und Quetschua, miserabel und zurückgeblieben, wo eine Kultur des Konflikts herrscht ... und deren bürokratisches Zentrum (La Paz) einen abscheulichen, kolonialen Staatszentralismus praktiziert, der seine ‚internen Kolonien' ausbeutet, sich unsere ökonomischen Überschüsse aneignet und uns eine Kultur der Unterentwicklung diktiert, ihre Kultur.“

Bei so viel Verwirrung ist es dann auch weniger überraschend, dass die indigenen Völker als schmutzig und faul gelten. Ihre Forderungen beziehen sich auf die Autonomie der Region Santa Cruz bis hin zu der Idee eines eigenen Staates. Da die derzeitige Anhängerschaft nicht mehr als drei Prozent der Bevölkerung Santa Cruz' ausmachen dürfte, lehnen die SeparatistInnen eine demokratische Verhältniswahl zur Verfassunggebenden Versammlung ab. Sie schlagen ein Wahlverfahren vor, in dem Körperschaften und Interessenverbände (Unternehmer, Gewerkschaften, Studierende, ethnische Gruppen, soziale Verbände etc.) unabhängig von einer freien Wahl ihre VertreterInnen in die Versammlung delegieren. Die Bewegung ist v.a. deshalb nicht zu unterschätzen, weil sie eine enorme politische und wirtschaftliche Macht in sich vereinigt und auf die Unterstützung ausländischer Investoren zählen kann. Schließlich dienen die Autonomiebestrebungen primär dazu, die Gas- und Ölressourcen eigenständig auszubeuten und die Gewinne einer kleinen Unternehmerschicht zukommen zu lassen. „Der größte internationale Erfolg der neofaschistischen Cruceños ist die Verbreitung der Lüge, dass die Indígenas eine radikale Idee haben, gewalttätig und gegen das Unternehmertum sind“, konstatiert Juan Ramón Quintana Taborga, Direktor des Observatoriums für Demokratie und Sicherheit.

Doch auch im Tiefland regt sich Widerstand. Die indigenen Guaraní und die Landlosen, die v.a. in den Gebieten mit den größten Gasvorkommen, dem Chaco, heimisch sind, kämpfen um ihre Landrechte in Auseinandersetzung mit den Großgrundbesitzern. Die spektakulärste Aktion war sicher die Besetzung einiger Gasfelder in Santa Cruz, um für eine Verstaatlichung der Ressourcen zu protestieren. Immer wieder nimmt auch die indigene Bevölkerung des Tieflandes die Gelegenheit wahr, ihre Solidarität mit der Bewegung des Hochlandes zu demonstrieren. Die Gemeindewahlen im vergangenen Jahr zeigten schließlich, dass das Movimiento al Socialismo (MAS) von Evo Morales auch im Tiefland zahlreiche Rathäuser erringen konnte und auch im Tiefland kein hegemonialer Diskurs der weißen Oligarchie herrscht. Damit sind wir bei der wohl führenden Oppositionsfigur im derzeitigen Kompetenzgerangel innerhalb der Linken. Er kann sich durchaus Hoffnungen auf einen Wahlsieg bei den kommenden Präsidentschaftswahlen machen, weil er als charismatische Figur gilt, die zahlreiche Gruppierungen hinter sich vereinigen kann. Zwar will dieser die Energieunternehmen nicht enteignen, wie es zahlreiche Stimmen immer wieder verlauten lassen, sondern nur höhere Abgaben einfordern. Doch gerade seine gemäßigtere und v.a. demokratisch institutionelle Linie macht seine Stärke aus. Bei einem demokratischen Wahlsieg dürfte Morales wohl noch am ehesten dazu im Stande sein, zwischen den schier unüberbrückbaren Lagern im derzeitigen Bolivien über verschiedene Zugeständnisse zu vermitteln. Denn die Gefahr eines Bürgerkriegs bei einer weiteren Radikalisierung ist immer noch nicht ausgeschlossen.

Die derzeitigen Konflikte drehen sich jedoch nicht nur um die Energieressourcen des Landes, deren Bedeutung als Einnahmequelle überschätzt wird. Selbst bei einer Verstaatlichung wäre ein Know-how- und Technologietransfer notwendig, der wahrscheinlich mehrere Jahre dauern würde, bevor sich schwarze Zahlen in den Kassen niederschlagen würden. Viel wichtiger erscheint die politische Lösung des Konflikts. Neben einem neuen Präsidenten müssten vorgezogene Parlamentswahlen abgehalten werden, die das momentane Kräfteverhältnis adäquat widerspiegeln würden. Die Politik muss wieder handlungsfähig werden, um die Spaltung zwischen Politik und Zivilgesellschaft zu stoppen und den Einfluss radikaler Minderheiten zu beschränken. Zudem „verstärkt die fehlende Lösung des ethnischen Problems die bolivianische Krise“, berichtet Quintana Taborga. „Vor diesem Hintergrund sind die ‚Kriege' der Alteños1 gegen den Billigexport des Gases und den transnationalen Wassergiganten Suez kein Ausdruck von Nationalismus, sondern eine Implosion der rassistischen Ordnung der bolivianischen Gesellschaft. Die Proteste beinhalten neben der Forderung nach der Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums vor allem die Forderung nach der Anerkennung der indigenen Mehrheit als Subjekte mit sozialen und politischen Rechten.“ (Standard, 29. März 2005) Wer dies aufgrund einer ökonomischen Fixierung aus seiner Analyse und aus zukünftigen Konzepten ausschließt, wird so schnell keine Lösung des jetzigen Konflikts zu erwarten haben.