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Dokumentation eines Verrats

Brisantes Buch über die Ermordung der mexikanischen Menschenrechtsanwältin Digna Ochoa
Harald Ihmig

Es ist still geworden um den Mord an der mexikanischen Rechtsanwältin Digna Ochoa y Plácido, die am 19. Oktober 2001 erschossen in ihrer Kanzlei aufgefunden worden war. Damals hatte die Gewalttat selbst in den USA und der EU die Aufmerksamkeit auf sich gezogen und in Mexiko neben dem Afghanistan-Krieg die Schlagzeilen besetzt. Der Versuch der Staatsanwaltschaft, den Mord als Suizid auszugeben, wird wenige überzeugt haben; zu auffällig waren die Ungereimtheiten bei der Feststellung und Deutung der Fakten, zu durchsichtig das Manöver, aus der Ermordung einer Kämpferin für die Menschenrechte den Suizid einer Kandidatin für die Psychiatrie zu machen. Aber Zweifel waren gesät, und gäbe es nicht den unbeirrbaren Einsatz der Familie für eine Revision des Verfahrens, wäre der Fall tatsächlich zu den Akten gelegt. 

So wird es überraschen, dass die renommierte kanadische Journalistin Linda Diebel, mehrfach mit dem Media Award von ai ausgezeichnete Lateinamerika-Korrespondentin des Toronto Star, ihn wieder aufrollt in einem Buch von über 500 Seiten. Das Ergebnis ihrer systematischen Recherchen und Interviews, wenige Monate nach dem Todestag begonnen und über Jahre fortgesetzt, hat sie schon im Titel mit aller Deutlichkeit formuliert: „Verraten. Die Ermordung von Digna Ochoa“. Ihre minutiöse Rekonstruktion der Ereignisse vor und nach Dignas Tod legt sich nicht nur mit der offiziellen Version an, sondern scheut sich auch nicht vor unangenehmen Enthüllungen über das Verhalten vermeintlicher Freunde in der Menschenrechtsszene. Das Buch liest sich mit seiner akribischen Spurensuche, der Verwirrung und Entwirrung der Fäden spannend wie ein Kriminalroman. Die Dramaturgie gibt nicht nur der Protagonistin, sondern auch ihren Mit- und Gegenspielern – Familie und Freunden, JournalistInnen und MenschenrechtsaktivistInnen, JustizbeamtInnen und PolitikerInnen – die Gelegenheit, sich zu erkennen zu geben. Es ist mehr als eine Biographie entstanden, eher ein Dokument mexikanischer Zeitgeschichte, miterlebt und erlebbar gemacht in Auszügen aus über 100 Interviews der Akteure an brisanten Stellen, orientiert – wie Digna selbst – an dem Unrecht, das in ihr geschieht.

Linda hat einen Sinn dafür, wer Digna war und wofür sie lebte; das unterscheidet ihre lebendige, in das politische Leben verwobene Nacherzählung von der „Historia de Digna Ochoa“, die von Margarita Guerra y Tejada, der letzten der drei die Voruntersuchung leitenden StaatsanwältInnen, zeitweise ins Internet gestellt worden war. Diese zeichnet das Bild einer krankhaft geltungssüchtigen Frau, die eine Serie von Entführungen und Bedrohungen erfindet, um sich wichtig zu machen, und schließlich sogar zu dem Mittel greift, ihr eigenes Leben für einen simulierten Mord zu instrumentalisieren. Die wilde Psychologisierung gipfelte in der „Erkenntnis“, dass ihr Sturz als Kind in einen Brunnen einen Gehirnschaden verursacht habe, der die Persönlichkeit suizidal prägte. Opfer in Täter und Morde in Selbstmorde zu verwandeln, hat in Mexiko Tradition. Wir erfahren, das M. Guerra bereits im Falle des 1995 nach Morddrohungen und Entführung geradezu hingerichteten Richters Abraham Polo Uscanga mit dafür gesorgt hatte, dass die Untersuchung im Sande verlief. Wie im Falle Dignas fanden sich übrigens am Tatort keinerlei Fingerabdrücke, und die Pistole lag unter dem Körper. Linda Diebel ist dieser ersten Linie des „Verrats“, der Rufmord-Kampagne, Schritt für Schritt nachgegangen. Diese setzt bei ihr längst vor dem März 2002 ein, als unter Renato Sales mit einem Mal die Suizid-Behauptung veröffentlicht und mit geradezu missionarischem Eifer verbreitet wurde. Dass die Tatwaffe Dignas eigene Pistole war, erklärt diese Kehrtwendung der Untersuchung nicht zureichend. Die Journalistin hat aus dem Büro von Sales ein geheim gehaltenes, nur selektiv lanciertes Dokument erstmals ans Licht gebracht, in dem zwei Amtspsychologen aus den Aussagen Dignas über die 1999 erlittenen Überfälle hanebüchene Schlüsse ziehen und ihr eine „schizoidparanoide“, antisoziale Persönlichkeit bescheinigen. Sie sublimiere ihre eigene Aggressivität in die Verteidigung der Menschenrechte von angeblich Misshandelten. 

Ob dieses „Profil“ eine kausale Wirkung auf den Fortgang des Verfahrens hatte und, wie die Autorin meint, als „key piece of evidence“ gelten kann oder nicht, nach diesem Fund ist es nicht mehr zu bestreiten, dass die Suizid-Hypothese von Anfang an mit einer älteren Strategie einherging, Dignas Person und Wirken zu entpolitisieren und zu pathologisieren. Seitdem zieht sich pseudopsychologischer Unfug durch eine „Justiz-Charade“. Für die Nachforschung nach Tätern hätten nicht nur die zahlreichen Drohbriefe, die Gewaltakte und die delikaten Fälle, die Digna als Rechtsanwältin übernommen hatte, sondern auch Beobachtungen am Tatort selbst und die von Maribel Gutiérrez publizierten konkreten Hinweise auf die ausführenden Organe eines Komplotts reichlich Anlass gegeben. Sie lag jedoch außerhalb des Interesses und wurde trotz gegenteiliger Beteuerungen nie gründlich betrieben. Stattdessen wurde das Intimleben Dignas bis in ihre Kindheit hinein nach Belegen abgesucht, die für das längst feststehende Ergebnis verwendbar schienen, um dann, passend zugerichtet, das Verdikt zu unterfüttern, mit dem im Juli 2003 M. Guerra den Fall in der Pose der Scharfrichterin abschließen zu können meinte.

Linda Diebel hat nicht nur diese Linie des Rufmords und einer von R. Sales initiierten, von M. Guerra vollendeten Entpolitisierung kritisch verfolgt, sondern auch noch einmal die Fakten geprüft, über die sie sich hinwegsetzen musste: so das zweifellos nachträgliche Arrangement des Tatorts, die Spuren einer Auseinandersetzung, der Schuss in den Schenkel, die Beobachtung einer verdächtigen Person zur Tatzeit, Drohbriefe mit männlicher DNA, Verabredungen für den nächsten Tag und, nicht zuletzt, die Aussagen aller Personen, die Digna nahe standen, dass sie keineswegs in einer depressiven Phase steckte, sondern verliebt war, voller Lebenslust und Tatendrang, ihre neuen Aufgaben anzupacken. Schwester Brigitte von der dominikanischen Kongregation, der Digna acht Jahre lang angehört hatte, fasste zusammen: „Selbstmord ist Verzweiflung… Aber davon gab es nichts in Dignas Charakter – überhaupt nichts. Es ist barbarisch, so eine Richtung zu erfinden und dann die Untersuchung darauf auszurichten“. 

Zu welch grotesken Annahmen die Staatsanwaltschaft zugunsten ihrer Lieblingsthese bereit war, belegt die Demonstration von Sales gegenüber der Autorin, wie Digna sich mit der rechten Hand mit verdrehter Pistole in die linke Schläfe geschossen habe. Oder seine Suche in der katholischen Martyrologie, um – natürlich vergeblich – Vorbilder für den Suizid von Nonnen zu finden, womöglich als Mord getarnt.
Linda Diebel verfolgt noch eine zweite Linie des „Verrats“ , eine Spur von Misstrauen, Missgunst und heimlichen Verdächtigungen im Freundeskreis. Sie manifestiert sich noch postum in Interviews von kaum verhohlener Feindseligkeit bis hin zu den Manövern, Dignas eigene Bedeutung im „Team“ oder unter „Hunderten von Menschenrechtlern“ verschwinden zu lassen. Es gibt Hinweise, dass die Annahme der – gelinge gesagt – Unglaubwürdigkeit Dignas bis dahin, ihr einen Selbstmord zuzutrauen, in Kreisen des Menschenrechtszentrums Prodh gestützt, wahrscheinlich sogar der Staatsanwaltschaft souffliert worden ist. Die Theorie von Sales „hatte, meiner (Lindas) Meinung nach die moralische Unterstützung hoch angesehener Jesuiten, die das PRO-Zentrum gründeten und leiteten“. Vom Tatort aus erging bereits die obskure Meldung, Digna habe sich umgebracht. Gegen den Willen der Familie hat Prodh die Assistenz im Verfahren (coadyuvancia) übernommen und viel zu lange ausgeübt (unter Berufung auf einen einzelnen Verwandten und den Drohbrief am Tatort, dem aber nie nachgegangen wurde). Der Leiter, Edgar Cortez, hielt noch an R. Sales fest, als dessen Besessenheit, seine Suizid-Idee unter die Leute zu bringen, ihn längst unmöglich gemacht hatte. Dass Digna sich im Unfrieden von Prodh getrennt hatte, wurde lange verschwiegen.

Im August 2000 war es die „alleinige Entscheidung“ von Edgar Cortez, Digna gegen ihren Willen nach Washington zu verbannen mit der ihr gegenüber und öffentlich aufrecht erhaltenen Begründung, dies geschehe zu ihrer Sicherheit. Während er sich gegenüber Digna ausschwieg, teilte er Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit, zumindest bezüglich der letzten Bedrohung, ihren Gastgebern mit. Durch sie erfuhr Digna schließlich von den hinter ihrem Rücken gestreuten Verdächtigungen. Linda Diebel hat auch dieses falsche Spiel gründlich recherchiert und die Briefe Dignas aus Washington dokumentiert. Ich weiß selbst aus den Gesprächen mit ihr, dass nichts sie so gequält hat wie der hinterhältige Umgang ihres Chefs und anderer ihr nahe stehender Personen mit ihr, wofür sie nie eine Erklärung fand. „Wenn Ihr nur wüsstet, wie dumm und blöde ich mir jetzt vorkomme, dass ich das geglaubt habe (Mexiko aus Gründen ihrer eigenen Sicherheit verlassen zu sollen). Vielleicht war es so besser – nämlich für euch… Vor allem, warum wart ihr nicht so aufrichtig und ehrlich, von Anfang an offen mit mir zu reden?... Ich habe das Edgar gesagt und sage es jetzt dir („Chuche“ Maldonado): was mich bei alledem am meisten verletzt hat, ist, euch alle verloren zu haben, die ich liebe und als meine Freunde ansah“. Edgar brauchte bei seinem dienstlichen Besuch in Washington acht Tage, bis er sich auf Drängen der Freunde endlich zu einem Gespräch mit Digna bereit fand. Linda erspart uns auch nicht die peinliche Szene, quasi ein Abbild des Umgangs mit Digna, in der Edgar Cortez ihr gegenüber steif und fest jedweden Zweifel an Digna leugnet, obwohl sie ihm die gegenteiligen Aussagen der Washingtoner Freunde vorhält. Die Institution und ihr Leiter haben Digna offenbar die Loyalität verweigert, die sie ihnen bis zuletzt bewahrt hat. Bis heute fehlt eine Offenlegung der Vorgänge, die Digna letztlich aus der Institution drängten, durch ihren Hauptakteur, der inzwischen das größte Menschenrechtsnetzwerk Mexikos leitet. Man sollte sich fragen, ob die Tendenz zu autokratischer Leitung, verbunden mit Desinformation gegenüber den Mitarbeitern und der Öffentlichkeit, der Sache von Menschenrechtsorganisationen angemessen sein kann. 

Linda Diebel lässt die wirkliche Digna Ochoa wieder aufleben. Wir lernen sie in ihrer Familie und ihrer Liebesbeziehung kennen, und vor allem in ihrem Einsatz – im Ejido Morelia, in der Huasteca, gegen die Verfolgung der angeblichen Zapatisten, bei der Verteidigung der campesinos ecologistas und auf ihrer Reise durch die Sierra. Ihre riskanten Engagements hatten ihr schon früh vom Geheimdienst (CISEN) die – nicht so unehrenhafte – Einstufung als regierungsfeindlich, subversiv, indiofreundlich sowie polizei- und armeefeindlich eingebracht. Die Blockadehaltung desselben und des Militärs im Verfahren ist nur zu begreiflich; auch eine Staatsanwaltschaft unter PRD-Ägide hat diese mexikanischen Tabus nicht angetastet. 

Das Buch deckt detektivisch die Vertuschung auf und die Spur der Täter, der nachzugehen wäre. Die Lektüre ist ein Muss für jeden, dem an einer wirklichen Aufklärung des Falles Digna Ochoa gelegen ist. Sie ist darüber hinaus mit den Nahaufnahmen der Akteure, der Fülle an konkreten Einblicken in die Machtstruktur Mexikos, den politischen Exkursen und den bisher unveröffentlichten Dokumenten jedem zu empfehlen, der sich für das letzte Jahrzehnt dieses Landes interessiert. Dem Buch, inzwischen auch in den USA erschienen, ist sehr die Übersetzung ins Deutsche und vor allem ins Spanische zu wünschen. Linda Diebel hat eine meisterliche Studie verfasst, geschrieben mit der professionellen Kompetenz einer erfahrenen Journalistin und mit der Passion einer engagierten Frau, die Mexiko mit den Augen Dignas sehen gelernt hat – mit dem Blick auf die vergessenen Leute. Das Buch ist – nach ihrer infamen Herabwürdigung – ein würdiges öffentliches Gedenken Dignas, es un libro digno de Digna. 

Linda Diebel: Betrayed. Toronto, Harper Collins 2005; bei Amazon 24,90 Euro