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Polizeiliche Gewaltorgie in Mexiko

Systematische sexuelle Gewalt gegen DemonstrantInnen in San Salvador Atenco

Am 3. Mai kamen Mitglieder des Volksbündnisses zur Verteidigung des Landes (FPDT) aus der Kleinstadt San Salvador Atenco Blumenhändlern im Nachbarort Texcoco zur Hilfe, die von der Polizei vertrieben worden waren. In dem nahe Mexiko-Stadt gelegenen Atenco kam es wenig später zu einer neunstündigen Straßenschlacht. Dabei schlugen die Anhänger der FPDT die Polizei mehrfach unter dem Einsatz von Macheten und Molotow-Cocktails zurück. Mehrere Polizisten wurden von der Bevölkerung festgehalten, auch verprügelt. Es gab viele, zum Teil schwer Verletzte, auf beiden Seiten. Ein unbeteiligter 14-jähriger Junge wurde erschossen. Aus nächster Nähe und von der Polizei, wie inzwischen feststeht. Am anderen Morgen marschierten 3000 Polizeikräfte in den Ort ein, um „Recht und Ordnung” wieder herzustellen. Die mexikanischen mainstream-Medien, allen voran Fernsehen und Radio, kommentierten die von einer Verhaftungswelle begleitete Strafexpedition nahezu jubelnd und ohne jegliche Kritik. Nach und nach fügten sich jedoch Zeugenaussagen, Presseberichte und zuvor zurückgehaltene Fernsehaufnahmen zu einem Horrorszenario. Viele erinnert es an die staatliche Repression gegen oppositionelle Bewegungen Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre in Mexiko.

Gerold Schmidt

Drei Wochen nach dem Konflikt in Atenco ist amtlich, was alle, die es sehen und hören wollten, bereits Anfang Mai bemerken konnten. Die nicht besonders radikale staatliche Menschenrechtskommission (CNDH) dokumentierte in einem vorläufigen Bericht das brutale und teils sadistische Vorgehen der staatlichen Ordnungshüter sowohl gegen protestierende als auch unbeteiligte Bevölkerungsgruppen aus Atenco sowie nationale und internationale BeobachterInnen des Vorgangs: Sieben Fälle von Vergewaltigung, 16 Fälle sexuellen Missbrauchs, mehr als 202 von der CNDH registrierte und geprüfte Anklagen wegen Körperverletzung als Folge „grausamer, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung“ – die Kommission vermeidet den nach zahlreichen Zeugenaussagen angebrachten Begriff der „Folter“ –, Drohungen, verweigerte oder verzögerte medizinische Hilfeleistung, illegale Hausdurchsuchungen, Sachbeschädigung und Raub. Dazu kommt der Fall eines aus nächster Nähe von der Polizei erschossenen 14-Jährigen, an den Protesten unbeteiligten Jungen. Insbesondere die Gewalt gegen die 47 am 3. und 4. Mai verhafteten Frauen wird von dem Bericht völlig unzureichend erfasst. Als offiziellem Dokument kommt ihm dennoch besondere Bedeutung zu.

Von den anfänglich 211 Verhafteten wurde ein kleiner Teil nach einigen Tagen ohne Anklage freigelassen. Gegen ursprünglich 189 Personen wollte die Staatsanwaltschaft wegen „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ vorgehen. Inzwischen (Stand Ende Mai) lautet die Beschuldigung gegen 29 nach wie vor inhaftierte Personen auf „Entführung“. 140 weitere gegen Kaution freigelassene Personen müssen sich wegen der „Blockade öffentlicher Kommunikationswege“ verantworten. Mit zahlreichen nationalen und internationalen Aktionen wird für die Freilassung der als politische Gefangene angesehenen Häftlinge protestiert. Zapatistensprecher Subcomandante Marcos hat seine im Rahmen der „Anderen Kampagne“ realisierte Rundreise durch das ganz Land zur Bündelung antikapitalistischer Kräfte unterbrochen. Er will solange in der Hauptstadt weilen, bis die Gefangenen frei sind, und nimmt eine wichtige Rolle bei den Protesten ein.

Die Details des menschenverachtenden Vorgehens der Polizei während der „Einnahme“ von Atenco und während des mehrstündigen Transportes der Festgenommenen zu Haftanstalten im Bundesstaat Mexiko sind inzwischen breit von den Opfern selbst dokumentiert. Nicht nur von den mexikanischen Betroffenen, sondern ebenfalls durch die fünf verhafteten, misshandelten und abgeschobenen AusländerInnen, darunter die deutsche Samantha Dietmar.1 Genauso skandalös ist aber das Verhalten der Verantwortlichen für den Polizeieinsatz, angefangen von Präsident Vicente Fox und mehreren hochrangigen Funktionären der PAN-Regierung über Enrique Peña Nieto, den PRI-Gouverneur des Bundesstaates Mexiko, bis hin zu seinem Sicherheitsbeauftragten Wilfredo Robledo und seinem Innenminister Humberto Benítez Terviño. Mit Nuancen verteidigen sie bis heute den Polizeieinsatz und sind allenfalls bereit, „Exzesse“ zuzugeben, und dies nur angesichts der erdrückenden Beweislast. Jede Anschuldigung wird so lange geleugnet, bis sie einfach nicht mehr zu widerlegen ist. Von Bedauern für die Opfer keine Spur. Durch ständige abfällige und ihre Glaubwürdigkeit hinterfragende Bemerkungen verhöhnen die staatlichen Autoritäten die Opfer ein zweites Mal. 

Ein Beispiel ist Miguel Ángel Yunes, Staatssekretär für Prävention und Bürgerbeteiligung im Bundesministerium für Öffentliche Sicherheit. Er weigerte sich, von Vergewaltigungen zu sprechen, sondern gestand allenfalls „anstößigen Missbrauch“ durch die Polizisten ein. Damit bezog er sich auf erzwungenen Oralsex sowie die Penetration der Frauen mit Metallgegenständen und anderen Objekten. Auch im mexikanischen Gesetz sind diese Delikte seit langem der Vergewaltigung „durch die Penetration des männlichen Gliedes“ gleichgesetzt – mehrere Frauen erlitten mehrfach beide Formen dieser Vergewaltigung.2 Gouverneur Peña Nieto preist sich in Werbespots stolz als Gouverneur mit harter Hand an. Rücktrittsforderungen weist er für sich sowie für seine Untergebenen weit von sich. Es sieht ganz danach aus, dass er mit dieser Haltung durchkommen wird. Ein paar Sündenböcke werden sich finden lassen. Beschämend auch das Verhalten der oppositionellen PRD und ihres Präsidentschaftskandidaten Andrés Manuel López Obrador. Auf die Versuche von PRI und PAN, die PRD für die Proteste in Atenco verantwortlich zu machen und ihren Kandidaten als Bündnispartner des Subcomandante Marcos darzustellen, reagierten sie mit heftiger Distanzierung. Abgesehen von kaum hörbaren Aufforderungen zu einer Dialoglösung besteht die Reaktion der PRD-Oberen vor allem im Ausklammern des Atenco-Konfliktes. Entsprechend gibt es keine Solidarität mit den Opfern. Hinter dieser Haltung steht offensichtlich die Angst, wenige Wochen vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 2. Juli potentielle Wähler zu verstimmen, die gegen die spezielle Art von „law and order-Politik“ in Atenco nichts einzuwenden haben.

Bundes- und Bundesstaatsregierung verlegen sich darauf, einzelne Auswüchse zuzugeben. Die lesenswerte Analyse „Atenco und der schmutzige Krieg“3 des mexikanischen Historikers und Schriftstellers Carlos Montemayor legt dagegen eine andere Sichtweise nahe. Zeitpunkt, Massenverhaftungen, allgemeine Vorgehensweise und das Übermaß an Gewalt einschließlich der Demütigungen stünden bei solchen Operationen in einem engen Zusammenhang. Sie seien nicht zufällig und improvisiert, sondern frühzeitig geplant und normalerweise zwischen verschiedenen Sicherheitskräften koordiniert (in Atenco handelte es sich um eine gemeinsame Aktion der Präventiven Bundespolizei (PFP) und Polizeieinheiten des Bundesstaates Mexiko). Montemayor, indirekt immer mit Bezug auf den schmutzigen Krieg vor dreieinhalb Jahrzehnten gegen die militärische und zivile Opposition in Mexiko, weist auf ein weiteres Element dieser Operation zur „Massenkontrolle“ hin: „Es gibt keine Trennung zwischen polizeilich-militärischer und politischer Entscheidung.“ Angesichts des erheblichen politischen Risikos dabei hebt er hervor: „Die soziale Botschaft, die solche Interventionen verkörpern, hat so eine Bedeutung, dass sie nicht ohne ein Mandat der politischen Autoritäten durchgeführt werden können.“ Stimmt die Analyse von Montemayor, beschreibt die in diesen Tagen vielfach vorgebrachte Klage, die vergewaltigten Frauen seien „Kriegsbeute“ gewesen, die Situation nicht ausreichend. Die brutale und auf Demütigung ausgehende Gewalt wäre in der Logik der staatlichen Aggressoren ein notwendiger Faktor zur Einschüchterung des sozialen Widerstands. Nicht umsonst gab es von offizieller Seite wütende Reaktionen und Verleumdungen gegenüber dem international bekannten mexikanischen Menschenrechtszentrum Miguel Agustín Pro Juárez. Das Zentrum präsentierte ein Video mit drei nicht erkennbaren an dem Atenco-Einsatz beteiligten Polizisten, die eindeutig aussagen, von ihren Vorgesetzten zu einem Höchstmaß an Brutalität aufgefordert worden zu sein.

Warum die „soziale Botschaft“ gerade in Atenco abgegeben wurde, erklärt ein Blick auf das Volksbündnis zur Verteidigung des Landes (FPDT). Die FPDT gehört nicht nur zu den Unterzeichnern der von den Zapatisten initiierten „Anderen Kampagne“. Die Organisation wurde 2001/2002 weit über die Grenzen von San Salvador Atenco hinaus bekannt. Damals war ihr Widerstand maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Regierung das Projekt eines neuen internationalen Großflughafens für Mexiko-Stadt aufgeben musste. Diesem Vorhaben wäre viel Land der Bewohner von Atenco und weiterer bäuerlicher Anliegergemeinden zum Opfer gefallen. Auf der anderen Seite zerplatzten die Träume zahlreicher Immobilienspekulanten, auch in Regierungskreisen. Die FPDT ist seitdem immer wieder bei anderen sozialen Konflikten präsent gewesen (ob dies immer angemessen war, ist in diesem Kontext belanglos) und als radikale Opposition den Herrschenden ein Dorn im Auge geblieben. Der ursprüngliche Konflikt um acht geräumte Blumenhändler in Texcoco erscheint im Nachhinein als der ersehnte Vorwand, das geplante Exempel zu statuieren.

Mit dem Atenco-Konflikt, der Haltung des Subcomandante Marcos und den nicht abreißenden Prostestaktionen hat sich die „Andere Kampagne“ repositioniert. Die Rundreise des „Delegierten Null“ fand in den vergangenen Monaten weitgehend unbeachtet von den Medien statt. Sie diente vor allem dem Zuhören und der Abstimmung in kleinem Kreis mit hunderten von Organisation, die in der traditionellen mexikanischen Parteipolitik keine Perspektive sehen. Jetzt sind die Scheinwerfer auch wieder auf die „Andere Kampagne“ und Marcos gerichtet. Letzterer muss-te sich aufgrund des mit Atenco begründeten Schwenks in seiner Medienpolitik jedoch harsche Kritik selbst von sonst wohlwollender Seite gefallen lassen. Erstmals seit fünf Jahren gab er wieder Interviews. Nachdem Marcos das erste ausführliche Gespräch der Tageszeitung La Jornada gestattete, ging er im Anschluss ausgerechnet zu einem Live-Interview in die Studios des Mediengiganten Televisa. Den Privatsender kritisierte er in der Vergangenheit nicht ohne Grund immer wieder als einen der Hauptverantwortlichen für die Desinformation der Öffentlichkeit. Die Reaktion der Zeitungskarikaturisten war beißend. Inzwischen hat der Subcomandante sein Profil wieder deutlich zurückgenommen, was durchaus wohltuend wirkt.

Zum Abschluss dieses Textes sollen noch zwei Vorgänge erwähnt werden, die als Anekdoten durchgehen könnten, wäre die Realität nicht so bitter. Zeitgleich, aber ohne ein einziges Wort zu den Vorgängen um Atenco, veröffentlichte die mexikanische Abgeordnetenkammer folgenden Anzeigentext in den Zeitungen: „Mit der Verabschiedung des Allgemeinen Gesetzes über den Zugang der Frauen zu einem Leben frei von Gewalt haben wir Abgeordneten der LIX Legislative einen großen Schritt für die Abschaffung jeglicher Handlungen getan, die einen Angriff auf Frauen darstellen... Um deinen Schutz und deine Rechte zu garantieren, werden wir entschlossen diejenigen bestrafen, die alle möglichen Arten von Gendergewalt ausüben... Weil uns deine Zukunft interessiert, verpflichten wir mit diesem Gesetz die drei Regierungsebenen, zusammenzuarbeiten, um die Genderdiskriminierung zu thematisieren, zu bestrafen und abzuschaffen sowie mehr Gleichberechtigung zu erreichen.“ Und vor wenigen Tagen vereinbarten die 
47 Mitgliedsstaaten des neu geschaffenen UNO-Menschenrechtsrates ohne Gegenstimme, Mexiko den Vorsitz zu übertragen.

  • 1. Als zwei Quellen seien hier nur der Nachrichtendienst Poonal (abfragbar über www.npla.de) und die neue website www.chiapas98.de genannt.
  • 2. Gegen Yunes selbst gibt es seit Jahren den Vorwurf der Kinderpornographie und des Kinderhandels. Ermittlungen wurden jedoch nicht weiter verfolgt.
  • 3. La Jornada, 13. Mai 2006, S.14