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Morsche Balken

Interview mit dem cubanischen Sozialwissenschaftler Haroldo Dilla

In der ersten Hälfte der neunziger Jahre gab es bei Teilen der cubanischen Intellektuellen eine Debatte über die Zukunft des Sozialismus. Orte dieser Diskussionen waren beispielsweise die großen Zentralinstitute, wie das „Zentrum für Lateinamerikastudien“ (CEA) oder das „Zentrum für Europastudien“ (CEE). Ab 1996 wurden diese Debatten von oben abgewürgt, Teile der MitarbeiterInnen der Institute entlassen. Darunter war Haroldo Dilla Alfonso, Soziologe und Ex-Koordinator des Zentrums für Lateinamerikastudien in Havanna. Nach seinem Ausschluss aus der Kommunistischen Partei sah sich Dilla im Jahr 2000 gezwungen, Kuba zu verlassen. Er arbeitet seitdem in der dominikanischen Hauptstadt Santo Domingo als Koordinator der Forschungsgruppe „Städte und Grenze“. Wir führten mit ihm ein E-Mail-Interview über die politischen Perspektiven in Cuba.

Gaby Küppers

Wie sehen Sie die aktuelle wirtschaftliche und politische Situation in Cuba?

Wirtschaftlich gesehen gibt es eine Wiederbelebung, begleitet allerdings von einer bürokratischen Rezentralisierung. Den wirtschaftlichen Aufschwung verdankt Cuba der besseren Positionierung auf internationaler Ebene (vor allen durch die Beziehungen zu Venezuela und China) und der Tatsache, dass wahrscheinlich größere Ölvorkommen im Golf von Mexiko gefunden wurden. Auf der politischen Ebene gibt es zwei bemerkenswerte Vorkommnisse bzw. Herausforderungen. Erstens das physische Verschwinden Fidel Castros, zumindest teilweise, in einem Moment, in dem die politische Führung tiefe Risse zeigt, und zweitens die mögliche Auflösung der US-amerikanischen Blockade durch das Interesse an den Ölfunden. Ohne Fidel und ohne Blockade wird die politische Klasse in Cuba in dem traurigen Dilemma stecken, sich eine andere Art von Politik auszdenken zu müssen, und das unter starken sozialem Druck.

Zunächst zur Wirtschaft: In den letzten Jahren sind in vielen lateinamerikanischen Ländern linke oder Mitte-links Parteien und Bewegungen an die Macht gekommen, etwa in Argentinien, Bolivien, Brasilien, Haiti, Uruguay und Venezuela. Alle diese Regierungen haben die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Cuba intensiviert. Was bedeutet das für die cubanische Entwicklung und was hat die Bevölkerung davon?

Das bedeutet zunächst mal mehr Sicherheit für Cuba, vor allem wenn man bedenkt, dass in den USA eine ultrarechte, widersprüchliche und fundamentalistische Regierung an der Macht ist. Wirtschaftlich gesehen hatten jedoch nur die Beziehungen zu Chávez größere Auswirkungen, der eine sehr großzügige Unterstützung mit Erdöl im Austausch gegen medizinische und Bildungsdienstleistungen gewährt hat. Das hat zwar positive Auswirkungen auf den Konsum der Massen, doch ich fürchte, dass die Überschüsse dieses Konsums in eines der typischen fantastischen (fantastisch im Sinne von Phantast) Projekte von Fidel Castro fließen werden, im Stil des staatlichen Programms zur „Energierevolution“ (vgl. den Beitrag zur Energiesituation in dieser ila), und dass somit ein trügerischer, vorübergehender Wohlstand entsteht, der in der Konsequenz die Umsetzung ökonomischer Reformen lähmt. 

Für Cuba ist auch die wachsende Präsenz Chinas sehr wichtig, vor allem durch die gigantischen Investitionen in die Ausbeutung der Nickelvorkommen. In dieser Beziehung, China-Cuba, gibt es keine sozialistische Solidarität, da geht es nur um den Markt. Von Bedeutung sind jedoch die geopolitischen Auswirkungen, denn was wir nicht wissen, ist, ob China seine wirtschaftlichen Aktivitäten in Cuba vorher mit den USA verhandelt hat, denn der chinesische Pragmatismus stört normalerweise mächtige Nachbarn nicht in ihren Hinterhöfen.

Die wirtschaftliche Erholung ist ein wichtiger Faktor für die politische Stabilität auf der Insel. Glauben Sie, dass – wenn Sie die Gegenwart mit dem Beginn der 90er Jahre vergleichen – die cubanische Wirtschaft die „Spezialperiode“ überwunden hat?

Cuba hat es geschafft, wirtschaftlich wieder auf die Beine zu kommen, wobei das nicht nachhaltig passiert. Wir haben es vielmehr mit einer gespaltenen Ökonomie zu tun, die neben sehr effizienten Sektoren auch völlig ineffiziente Bereiche aufweist. Wenn es diese Dichotomie noch immer gibt, dann aus zwei Gründen, weil es politisch so gewollt ist und weil es einen permanenten Konsummangel gibt. Beides sind aber notwendigerweise temporäre Erscheinungen.

Die cubanische Gesellschaft ist schlicht gezwungen, ihre Wirtschaft anzupassen. Das betrifft auch die erdrückende Anzahl staatlicher Angestellter, die nichts Produktives leisten. Um das zu tun, muss die Politik kleinen und mittleren Unternehmen Anreize bieten, und kollektive Formen wie Kooperativen erheblich unterstützen. Und es muss ein System der sozialen Sicherheit aufgebaut werden, das Arbeitslosigkeit und Armut auf klare und einfache Art bekämpft. Heute wird alles hinter einem morschen Baugerüst aus bürokratischen Kontrollen versteckt, das sie Sozialismus nennen.

In den letzten Jahren schien die cubanische Regierung permanent zwischen der Gewährung von mehr Freiheiten und einer verstärkten Zentralisierung zu schwanken, sowohl wirtschaftlich als auch sozial. Das deutet auf interne Machtkämpfe innerhalb der kommunistischen Partei. Welche Gruppen und Meinungen stehen sich da konkret gegenüber? Und wer wird Ihrer Meinung nach auf mittlere Sicht die Oberhand behalten?

Es stimmt, dass über wirtschaftliche Freiheit und vor allem über die Rolle des Marktes viel diskutiert wurde. Das war eine permanente Auseinandersetzung zwischen den Militärs, die für eine Öffnung des Marktes eintraten, und der orthodoxen Fraktion in der Kommunistischen Partei während der gesamten 90er Jahre. Fidel Castro selbst war mit seinem Herzen immer auf Seiten der Orthodoxen, obwohl er verstanden hat, dass es Reformen geben musste, und den Militärs erlaubte, einige einzuführen. Fidel Castros Taktik war es, zu verhindern, dass die verschiedenen Fraktionen, die für eine Marktöffnung waren, zusammenkamen. Das erklärt auch, warum die zivilen Technokraten ernsthafte Auseinandersetzungen mit den Militärs hatten, ein Beispiel sind die ständigen öffentlichen Demütigungen von Raúl Castro in Richtung Carlos Lage, obwohl sich beide strategisch einig waren, wie die Wirtschaft dirigiert werden sollte. 

Die politische Klasse hat nie eine politische Liberalisierung ins Auge gefasst. Die wenigen Fortschritte zwischen 1990 und 1996 waren eher dem Nichtvorhandensein einer Politik als einer gewollten Toleranz in Richtung offenere Gesellschaft geschuldet. Als sich dann die Wirtschaft wieder erholte, wurden nicht nur die ökonomischen Reformen eingestellt, sondern auch jedes kritische Denken unnachsichtig verfolgt, einschließlich der Linken. Auf mittlere Sicht werden die Militärs sich durchsetzen. Sie sind aufgrund ihrer internationalen und nationalen Rolle eine angesehene politische Kraft und eine gefestigte Institution.

Viele BeobachterInnen sind der Meinung, dass ein politischer Wechsel in Cuba die sozialen Errungenschaften zerstören würde. Wie könnten politische Veränderungen aussehen, die die sozialen Errungenschaften beibehalten? Wer könnte sie unterstützen?

Ich denke, dass die Zerstörung der sozialen Errungenschaften nicht Folge einer politischen Öffnung sein wird, sie wird vielmehr von der Wirtschaftspolitik abhängen. Unter einer autoritären Caudillo-Zentralisierung können diese Errungenschaften aber auch nicht beibehalten werden. Die beste Garantie, dass sie weiter existieren, wäre ein System von autonomen Basisorganisationen, die bereit sind, ihre selbst erkämpften Errungenschaften zu verteidigen und ein politisches System, das diesen Organisationen beträchtliche politische Macht (ab)gibt und Spielräume einräumt. Dasselbe gilt für die Eigentumsfrage, das System von genossenschaftlichem Eigentum (Kooperativen) und die Mitbestimmung der ArbeiterInnen muss beträchtlich erweitert werden. Das alles schafft natürlich auch Probleme, aber es ist trotzdem besser als ein zentralisiertes und bürokratisiertes System. Aus meiner Sicht hat die cubanische Führung mit der Weigerung, genau dies zu tun, die letzte Möglichkeit für das Überleben einer sozialistischen Ordnung verspielt. 

Wenn von „politischer Öffnung“ in Cuba gesprochen wird, haben wir oft das Gefühl, dass damit vor allem kapitalistische Reformen gemeint sind. Es wird wenig von der Demokratisierung der Gesellschaft und der Ökonomie gesprochen. Gibt es in Cuba Gruppen, die für eine „sozialistische Demokratie“ eintreten?

Es stimmt, dass die Diskussion über „politische Öffnung“ meist von liberaler Seite und von denjenigen geführt wird, die für eine kapitalistische Gesellschaftsordnung eintreten. Vor zehn Jahren gab es noch mehr Räume für eine sozialistische Debatte (Nichtregierungsorganisationen, akademische Einrichtungen, innerhalb der Parteibasis usw.), aber die wurden leider durch die staatliche Repression seit 1996 dezimiert. Es sind sehr wenige dieser Diskussionsmöglichkeiten geblieben, einige davon wurden nur als schmückendes Beiwerk erhalten und sind völlig vom System abhängig. Es ist deprimierend in dieser Szene einige Söhne und Töchter der politischen Elite zu sehen, die sich als Teil dieser vereinnahmten Linken kritisch gebärden.

Auf jeden Fall kann die cubanische Gesellschaft nicht länger unter einem derart autoritären Regime leben, u.a. deswegen, weil die Revolution ein gebildetes soziales Subjekt hervorgebracht hat, das seine Fähigkeit nur unter demokratischen Spielregeln entwickeln kann. Auf der politischen Agenda in Cuba steht daher die Frage der öffentlichen Freiheiten, der Partizipation, der Wahl der Führungsriege und des Umgangs mit der erzwungenen Verbannung eines Teils der Bevölkerung. Entweder werden diese Widersprüche gelöst oder sie werden unter den Händen von Fidel Castros Nachfolger explodieren.

Ich glaube zwar, dass es in Cuba eine große Sympathie für „sozialistische“ Lösungen geben wird, zur Verteidigung des sozialen Wohlstandes und für die Gleichheit, aber ich glaube nicht, dass sie groß genug sein wird, um ein System dieser Art zu erhalten. Und das wissen die politischen Akteure, die zum Sprung auf den post-revolutionären cubanischen Staat ansetzen, und vor allem die technokratische Unternehmer-Elite innerhalb der kommunistischen Partei. (Das entspräche der Entwicklung in den ehemals realsozialistischen Ländern Osteuropas, vor allem der Sowjetunion, wo sich viele ex-kommunistischen Fabrikdirektoren nach der Wende die Betriebe angeeignet haben – die Red.)

Manche KritikerInnen der cubanischen Regierungspolitik schlagen ein sozialdemokratisches Modell à la Cuba vor, ein Mehrparteiensystem mit einem relativ starken Staat und garantierten Sozialleistungen. Das erinnert an das europäische sozialdemokratische Modell der 60/70er Jahre des letzten Jahrhunderts. Allerdings steht die Sozialdemokratie heute in Europa für die Privatisierung von öffentlichen Unternehmen und Dienstleistungen, Kürzungen des Sozialstaats und Unterstützung von neoliberalen Reformen. Was könnte Cuba von einer solchen Politik erhoffen?

Ich sehe das insgesamt auch so, dass die Sozialdemokratie heute eine pro-kapitalistische Kraft mit einer starken neoliberalen Tendenz ist. Das, was in Cuba passieren wird, hängt von sehr unterschiedlichen Faktoren ab, davon, wie viel ökonomische Überschüsse verfügbar sind, von den Kräfteverhältnissen zwischen den politischen Akteuren, von der internationalen Lage und vom Grad der Organisierung und Mobilisierung der Bevölkerung. Auf jeden Fall wird die Tatsache, dass es in Cuba eine Revolution gegeben hat, eine wichtige Rolle spielen. Und wenn im Ergebnis die postrevolutionäre cubanische Gesellschaft eine „sozialdemokratische“ Gesellschaft würde, so wie sich das die gemäßigten sozialistischen Köpfe im Land vorstellen, wäre das schon ein großer Erfolg.

Für uns SozialistInnen ist das alles eine große Herausforderung, die weder mit politischen Slogans noch mit irrigen Vorstellungen von der cubanischen Realität gelöst werden kann, sondern nur in dem Bewusstsein, dass jede Lösung neue Probleme mit sich bringt.

Haroldo Dilla hat die Fragen der ila per E-Mail beantwortet. Übersetzung: Gaby Küppers