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Inseln des queeren Paradieses

Gender Crossing und dritte Geschlechter in Lateinamerika

Wer kennt sie nicht, die schillernden, erotischen Figuren des brasilianischen Karnevals, die jedes Jahr durch die Straßen von Rio de Janeiro ziehen und dabei eher weniger als mehr bekleidet tanzen und feiern? Aber wenige der begeisterten Festivalteilnehmenden oder Fernsehzusehenden werden sich die Frage stellen, ob es sich bei den wunderbaren Tänzerinnen um „biologische“ Frauen oder Männer handelt. Verwunderlich ist dies in Anbetracht der Tatsache, dass Brasilien eines der bekanntesten Phänomene im Hinblick auf die Diskussion zum dritten Geschlecht in Lateinamerika zu bieten hat: die travestis. Neben den travestis gibt es noch so einige andere VertreterInnen des dritten Geschlechts in Lateinamerika – was sie auszeichnet und inwiefern sie herkömmliche Geschlechterkonzepte in Frage stellen, beantwortet uns Elisabeth Tuider im folgenden Artikel.

Elisabeth Tuider

Während sich die brasilianischen travestis mit Hilfe von Hormonen und Silikon, oftmals aber auch nur mit Hilfe der zunächst billigen, später oft tödlich ausgehenden Injektion von Speiseöl einen perfekten weiblichen Körper modellieren, ist für die Einnahme einer alternativen Geschlechterposition die Veränderung des biologischen Körpers nicht immer bedeutsam. Die scheinbar logische und konsequente Ableitung einer Geschlechtsidentität und eines sexuellen Begehrens von einem „eindeutigen“ Geschlechtskörper, die weitestgehend unser Alltagshandeln, aber auch die (feministische) Theoriebildung prägt, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als kulturelle Konstruktion. Diese Ableitungslogik wird gerade durch die alternativen, d.h. über das duale Konzept „Frau“ oder „Mann“ hinausgehenden Geschlechterpositionen in Frage gestellt und seiner „universellen“ Gültigkeit beraubt.

In interaktionstheoretischen und ethnomethodologischen Geschlechterstudien wurde bereits im Laufe der 80er Jahre herausgearbeitet, dass Geschlecht nicht eine naturhafte Eigenschaft, sondern eine Vollzugswirklichkeit ist, die alltäglich interaktiv hergestellt wird. Über die Prozesse der Darstellung (Tun), der diskursiven Erörterung (Sprechen) und der körperlichen Empfindung (Spüren) und das vermeintliche „Wissen“ darüber wird Geschlecht als natürlich konstruiert. Gestik, Mimik, Kleidung und PartnerInnenwahl sind die Marker, an denen im Alltag das Geschlecht „erkannt“ wird, d. h. mittels derer mensch sich zu erkennen gibt und zu erkennen geben muss. Geschlechter, die der Norm des „entweder-oder“ nicht entsprechen, erscheinen darin als logische Unmöglichkeit. 

In westlichen Kontexten tummeln sich an den Grenzen der (hetero)normativen Zweigeschlechtlichkeit Drag Kings und Drag Queens, Cross-Dressers, FTMs („weiblich zu männlich“) und MTFs („männlich zu weiblich“), Tunten, intersexuelle, polysexuelle, transsexuelle und transgender Menschen. Seit den 90er Jahren wurde im Zuge queer inspirierter Politiken nicht nur der Zusammenhang von Geschlecht und Sexualität – und damit die heterosexuelle, im Dienste der Fortpflanzung stehende Zweigeschlechtlichkeit –, sondern auch der Zusammenhang von Geschlecht–Sexualität–Ethnizität sowie der von Kapitalismus und Sexualität ausgearbeitet. Im Rahmen queerer Kritiken wird der in westlichen Gesellschaften vorherrschenden Fundamentalkategorie „Geschlecht“ von zweierlei Seiten beizukommen versucht: Zum einen wird die Unwandelbarkeit und Eindeutigkeit von Geschlecht historisch in Frage gestellt. Zum anderen werden anthropologisch kulturvergleichende Argumente herangezogen, um die vielfältigen Geschlechterkonstruktionen in unterschiedlichen Kulturen zu veranschaulichen. 

Die wissenschaftliche Theoriebildung sowie die empirischen Analysen konzentrieren sich also einerseits auf den Nachweis der Uneindeutigkeit und der historischen Veränderbarkeit von Identitäten, Körpern und Sexualitäten. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts avancierten Homosexuelle zu einer sexuellen Existenz und Hermaphroditen zur Abnorm. Damit einher ging die Etablierung des weißen, zivilisierten, heterosexuellen, reproduktionswilligen Mannes als Norm. Andererseits wird mit Blick auf nicht-europäische Gesellschaften die Vielzahl und Vielfalt der sozialen und biologischen Geschlechter betont und damit der Verweisungszusammenhang von Körper und psychosozialer Positionierung entzerrt. In den Fokus gerät aber auch der soziale Umgang mit intersexuellen Existenzweisen (z. B. in Indonesien) sowie die kulturelle Institutionalisierung des biographischen Wechsels zwischen den sozialen Positionen Frau-Mann (z.B. in Neuguinea). 

Können auch in Lateinamerika Inseln des queeren Paradieses gefunden werden? Und wie viel Verqueerung geht von den RepräsentantInnen des dritten Geschlechts aus? Oder handelt es sich dabei um eine exotisierende Idealisierung außereuropäischer Lebensformen? Reproduzieren travestis, muxés und guevedoces trotz der Irritation bei den westlichen BetrachterInnen nicht eher die hegemoniale Geschlechter- und Sexualitätenordnung, als dass sie sie unterlaufen?

Entsprechend dem imperialen Projekt der Vereindeutigung wurde im Zuge von Kolonialisierung und Missionierung das duale Geschlechterkonzept auch nach Lateinamerika transportiert und gewaltsam durchgesetzt. Der Conquistador Núñez de Balboa ließ z. B. am Hofe eines Fürsten in Panama so genannte Weibmänner, die die „schreckliche Sünde wider die Natur“ begangen hatten, von Hunden töten (vgl. Lang 1997). So wurde die Übernahme der europäischen Sozialordnung erzwungen und alternative Geschlechter und deren „Sodomie“ – was in den Augen der europäischen Eroberer und Chronisten der Analverkehr v.a. zwischen zwei Männern war – verboten und teilweise ausgelöscht. Der Ethnologe Lüder Tietz (1998: 186) nennt diesen Prozess „sexuelle Kolonisation“. Im Verlauf dieses Prozesses kam es zur Vernichtung der ökonomischen Basis der indigenen Geschlechterrollen, zum Zusammenbruch ihrer Glaubenssysteme und zur Einführung der Ideologie der Ausschließlichkeit zweier biologisch bestimmter Körper und Geschlechter. Die Frage, inwieweit es also bereits zur Zeit der Inkas, Azteken und Mayas in Lateinamerika Gesellschaften gegeben hat, in denen multiple Geschlechter existierten und/oder existieren, ist bis heute Anlass für ethnographische und historische Analysen. Fest steht, dass es bereits im frühen 16. Jahrhundert Berichte über Männer in Frauenkleidern und in der weiblichen Rolle gegeben hat, seltener über Frauen, die in der kulturell definierten Männerrolle lebten. 

Aktuell sind Berichte aus Südmexiko/Juchitán über die muxés und marimachas, aus Brasilien über die travestis und aus der Dominikanischen Republik über die guevedoces und machihembras bekannt. Die Figuren der huancas in Peru, die cultura molita in Ecuador, die geschlechtliche Arbeitsteilung der warao in Venezuela und die Figur der Machi bei den Mapuches in Chile geben zumindest Anlass für weitere Fragen in Hinblick auf die Eröffnung eines dritten Geschlechterraumes. In der Übersetzung der zum Teil traditionellen, zum Teil ethnisierten Phänomene lässt sich eine Parallelität unterschiedlichster Konzepte finden, so etwa Homosexualität, Transvestie, Intersexualität/Hermaphroditismus und auch der (institutionalisierte) Wechsel des sozialen Geschlechts. Diese unterschiedlichen Phänomene werden wiederum gerne unter der Bezeichnung „dritte Geschlechter“ subsumiert – den vielleicht (re-)traditionalisierten Umgang innerhalb der jeweiligen Gesellschaft tunlichst ignorierend. Was die Erfassung der dritten, vierten und vielleicht auch fünften Geschlechter – nicht nur in Lateinamerika – so schwierig macht, ist die vorherrschende westlich-eurozentristische Terminologie, die sich allzu oft auch in ethnologischen Beschreibungen nicht nur der Kolonial-, sondern auch der postkolonialen Zeit niederschlägt. 

Sind die brasilianischen travestis mit den Transvestiten gleichzusetzen, die auch in Deutschland auf diversen Showbühnen zu sehen sind? Sind die travestis also Männer, die sich in Frauenkleidung präsentieren? Und wie kann die Subjektposition der muxé im Spannungsfeld von Geschlecht–Sexualität–Ethnizität–Arbeit erfasst werden? Ihre Beschreibung als „Homosexuelle“ vernachlässigt vor allem ihre sozial angesehene Stellung in der juchitekischen Gemeinschaft, die sich großteils über ihre Arbeit, ihre Tätigkeit herstellt. 
Zu bedenken bleibt also, dass diese westlichen Analysekategorien immer einer binären Geschlechter- und Sexualitätenlogik unterstehen und das Abseits dieser Logik als A-Normität gekennzeichnet und oftmals pathologisiert wurde. Deswegen ist auch die Gleichsetzung bzw. die Übersetzung der guevedoces in der Dominikanischen Republik mit dem Terminus „Pseudo-Hermaphrodit“ – einer Bezeichnung, die der Sexualpathologie am Wechsel zum 20. Jahrhundert entwachsen ist – problematisch und falsch. Ebenso schwierig wäre ihre Beschreibung als „Homosexuelle“ oder „Transsexuelle“. Vielmehr gibt es in der Dominikanischen Republik einen sozialen Umgang mit Menschen mit ambivalenten Genitalien. Diese Ambivalenz äußert sich nicht immer gleich bei der Geburt, sondern manchmal auch erst mit dem Einsetzen der Pubertät. Entgegen ihrer Mädchensozialisation können guevedoces ihren Geschlechterstatus ganz oder teilweise wechseln – es ist ihre Wahl. Sie in die Konzepte „Homosexualität“ oder „Intersexualität“ zu pressen, würde gerade die „alternative“ Art und Weise, in der sich Geschlecht konstituieren kann, negieren und die sozialen Faktoren und gesellschaftlichen Bedingungen auslöschen, die den Nährboden alternativer Geschlechterkonzeptionen darstellen. Um den je spezifischen kulturellen Konstruktionsweisen zu entsprechen, gehen mehr und mehr Forschende dazu über, die aus den jeweiligen Gesellschaften kommenden Kategorien und Bezeichnungen beizubehalten. 

Wir können also davon ausgehen, dass in verschiedenen Kulturen Lateinamerikas nicht nur die sozialen Geschlechter „Mann“ und „Frau“, sondern auch der Wechsel des sozialen Geschlechts kulturell geregelt war oder – wie etwa in der Dominikanischen Republik – ein gesellschaftlicher Umgang mit genitaler Uneindeutigkeit, dem „Penis mit 12“, entstand. Aber worauf beruht die Institutionalisierung alternativer Geschlechterpositionen, wenn die Anatomie keine Rolle spielt? Wesentliche Faktoren bei der Konstitution des „dritten Geschlechts“ ist die sozial akzeptierte Möglichkeit, auf der Basis einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung die Rolle und Funktion des sozialen Geschlechts zu wechseln. Diese Neigung, die sozialen und ökonomischen Tätigkeiten und Arbeiten des „anderen“ Geschlechts auszuüben, wird zum Teil mittels Kleidung und Habitus, Gestik, Mimik und Sprache signalisiert. Diese haben somit stärkere geschlechtszuweisende Bedeutung als der Körper, der eher sekundär wird. Die Benutzung weiblicher Vornamen und des weiblichen Pronomens kann von muxés oder travestis gewählt oder auch unterlassen werden. Unterschiede kann es auch in der alltäglichen oder temporären Präsentation oder aber in einer Mischung aus weiblicher und männlicher Kleidung geben. 

Besonders im Rahmen der Feste und der Riten ist es interessant, ob und welchen Platz – den männlichen oder den weiblichen oder einen dazwischen – sie einnehmen und in welcher „Tracht“ sie sich präsentieren. Hierin zeigt sich oftmals auch, worüber die gesellschaftliche Akzeptanz läuft. Als was werden z. B. muxés und guevedoces gesehen? Als Mann, der „wie eine Frau lebt“, als „weder Mann noch Frau“ oder als „zuerst Mädchen und dann Mann“? Werden sie im Hinblick auf die Einnahme einer – entweder männlichen oder weiblichen – Rolle sozialisiert oder wird ihnen ein eigener, autonomer Status zugesprochen? Und wie verläuft die Sozialisation dieser Kinder? Erhalten als Junge geborene Kinder, die ein bestimmtes Verhalten zeigen, von ihren Eltern oder besser von ihren Müttern und von ihrer Familie Unterstützung oder entscheiden sie sich gegen die Familie, vor allem gegen den Druck der Väter, travesti oder muxé zu werden? Und werden guevedoces, muxés und travestis im alltäglichen Leben diskriminiert und marginalisiert oder wird ihr ambivalenter Geschlechtsstatus mit besonderen Fähigkeiten assoziiert? Während die spirituelle Ebene der Geschlechterdefinition und damit die religiöse Funktion bei den dritten Geschlechtern Nordamerikas zum Teil und bei den indischen hijras eine ausschlaggebende Rolle spielt, ist sie für die dritten Geschlechter Lateinamerikas kaum dokumentiert. Die besondere Wertschätzung und Akzeptanz der dritten Geschlechter in den jeweiligen Gesellschaften Lateinamerikas stellt sich vielmehr über ihre Funktion als Mittler zwischen den Geschlechtern oder über ihren Zugang zu Männer- und Frauenräumen her. Ein wichtiges Moment ist dabei auch die Ausübung einer für die Gemeinschaft wichtigen Arbeit. 

Auch in der Definition von Sexualität wird nicht auf den Körper bzw. die Genitalien referiert, sondern auf die Sexualpraxis (aktiv oder passiv). Muxés und travestis beschreiben sich – meistens – als sexuell passiv und damit in einer als weiblich kategorisierten Position und als solche haben sie legitimen Sex mit Männern. Es ist also nicht die Unterschiedlichkeit der Körper – wie im Modell der Heteronormativität –, die sexuelle Beziehungen legitimiert, sondern die unterschiedliche Ausrichtung des sozialen Geschlechts. Damit handelt es sich oftmals gar nicht um eine kulturell akzeptierte oder gar institutionalisierte Homosexualität, sondern – aufgrund des vorhergehenden, kulturell akzeptierten Geschlechtswechsels – um eine „heterosexuelle“ Mann-Frau-Beziehung. Letztendlich wird durch die dritten Geschlechter auch die auf dem Modell der Zweigeschlechtlichkeit beruhende Einteilung in Hetero-, Homo- oder Bisexualität bedeutungslos. 

Deutlich wird, dass die Formel: „Körper + Sexualität = Geschlecht“ unzureichend ist. Die „dritten Geschlechter“ – nicht nur Lateinamerikas – weisen uns vielmehr darauf hin, dass Körper und Identität nicht in Einklang miteinander stehen müssen, sondern Körpergeschlecht und soziales Geschlecht einander entgegenstehen können. Die in der feministischen Geschlechterforschung übliche Trennung in sex (biologisches Geschlecht) und gender (soziales Geschlecht) erfährt damit ihre Begrenzung. Denn Weiblichkeit und Männlichkeit sind weder biologisch determiniert, noch machen sie das Wesen eines Menschen aus, sondern sie sind Produkt alltäglicher, performativer Praktiken. Ergebnisse kulturvergleichender Analysen weisen Geschlecht zudem als eine instabile Kategorie mit unsicheren Grenzen aus, denn Geschlecht wird je nach kulturellem Kontext und historischem Zeitpunkt unterschiedlich konstruiert. 

Die „dritten Geschlechter Lateinamerikas“ verwirren die binäre Geschlechterordnung, sie weisen über eine duale Geschlechterkonzeption hinaus – und dies sowohl auf der sozialen und der sexuellen, als auch zum Teil auf der biologischen Ebene. Aber die binären Geschlechter- und Sexualitätenkategorien werden von muxés, travestis und guevedoces nicht nur überschritten, sondern auch reinstalliert: Gleichzeitig markieren sie die herkömmlichen Geschlechtergrenzen, indem sie sich auf die Pole „Frau“ und „Mann“ beziehen – dadurch, dass sie sich im Dazwischen positionieren.

Dr. Elisabeth Tuider arbeitet als wissenschaftliche Assistentin am Institut für Soziologie der Universität Münster. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind feministische und Queer-Theory, Cultural- und Postkolonial-Theory, Transgenderthematiken. Sie ist im Vorstand der Gesellschaft für Sexualpädagogik und hat die Film- und Vortragsreihe „XYZ-Geschlechterzeichen ungelöst“ organisiert.