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Unsere Politik ist unser Leben

Besetzte Häuser in Santiago de Chile

Vor einem Jahr stürmte die Polizei von Santiago de Chile ein von jungen Santiaginos besetztes Haus und nahm sechs BewohnerInnen fest. Angeblich soll sich dort eine Werkstatt für Molotowcocktails befunden haben. Ein Beispiel für die repressiven Aktionen der chilenischen „Sicherheitskräfte“, denen sich die HausbesetzerInnenszene ausgesetzt sieht. Aktuell gibt es in Santiago über ein Dutzend „casas okupadas“ (sic!), die z. T. seit mehreren Jahren besetzt werden und sich mittlerweile zu richtigen Jugendtreffs und Kulturzentren mit Freizeit- und Dienstleistungsangeboten entwickelt haben. 

Jochen Michelbach

Als am 26. September 2006 die Polizeikräfte von Santiago – Carabiñeros und Spezialeinheiten – in der Calle San Ignacio zugriffen, fanden sie in den besetzten Wohnräumen u.a. Flaschen, Paraffin, das zum Jonglieren benutzt wurde, einen Karton mit Sand für die Katzen sowie Flyer und Transparente. Dies nahmen die Sicherheitskräfte zum Anlass, die BewohnerInnen in U-Haft zu stecken. Aus der Sicht anderer Besetzer eine billige Show, die von den Medien forciert und unter dem Stichwort „Terrorismus“ verbreitet, allerdings nach drei Tagen U-Haft aus Mangel an Beweisen wieder eingestellt wurde.

Wie in jeder anderen Metropole Südamerikas bietet die Wohnsituation in Santiago ein sehr differenziertes Bild. Im Nordosten ziehen sich die Comunas Las Condes und Lo Barnecheo am Fuß der Anden entlang und an deren Ausläufern hinauf. Hier oben, wo auch im Sommer ein angenehm kühler Wind weht, finden sich Grundstücke mit bis zu mehreren tausend Quadratmeter Fläche und in sich geschlossene Wohnsiedlungen mit eigenen Einkaufsmöglichkeiten und Freizeitangeboten. Die Mehrheit der Menschen hier lebt in Wohnungen mit 3-4 Zimmern in von hohen Zäunen und Nachtwächtern umgebenen Anlagen. Im Süden der Stadt, beispielhaft seien die Comunas San Bernardo oder La Pintana genannt, sind die Häuser zwar noch gemauert, aber es wird nicht mehr viel in den Wohnungsbau investiert. Richtung Süden sieht man über Kilometer hinaus keine Hochhäuser mehr. Oft wohnen ganze Familien in winzigen Häusern mit gerade mal 20 Quadratmetern Wohnfläche, eine bereits bessere Alternative zu den Armenvierteln am südlichen und westlichen Stadtrand, den so genannten Poblaciones wie Penalolen. Diese erkennt man schon von weitem an der dichten Aneinanderreihung von flachen Holzbaracken, unterbrochen durch das rechtwinklige Gitter staubiger, unbefestigter Straßen und Wege, überspannt von einem chaotischen Gewirr illegal angezapfter Stromleitungen. Davon mal abgesehen, suchen jeden Tag unzählige Menschen die Hospederías auf, wo Obdachlose gegen 500 Pesos Chilenos, ca. 0,70 Euro, ein Abendessen und einen überdachten Schlafplatz erhalten können.

Trotz des extremen Wohnungsmangels stehen überall in der Stadt Häuser leer. Meist sind das flache Parterrehäuser, die von den Eigentümern nicht mehr vermietet werden. Wahrscheinlich spekulieren diese mit den ständig steigenden Grundstückspreisen. Viele der Häuser verfallen mit der Zeit. Andere werden von ungeliebten Bewohnern wieder wohnlich gemacht und mit Leben gefüllt, den ocupas. In Santiago gibt es mindestens ein Dutzend besetzter Häuser. Jedes ist mit einem Namen versehen, wie La Fábrica, La Pesadilla oder El Ateneo. Sie konzentrieren sich hauptsächlich im Zentrum (fünf Häuser) und in südlichen Comunas wie La Cisterna und Lo Espejo (drei bzw. zwei Häuser). Zwischen den Häusern bestimmen informelle Kontakte die gegenseitige Unterstützung. Wenn beispielsweise eines der casas okupadas eine Veranstaltung plant, mobilisieren die anderen mit und geben Termine bekannt.

Was sind das für Leute, die in Santiago Häuser besetzen? „Zuerst war es ein offenes freundschaftliches Kollektiv, was sich auf der Straße getroffen hat“, so Andi vom El Ateneo. Und das war sicher nicht schwer, denn so verschieden sie auch sind, zeichnet sich doch ein relativ einheitliches Bild ab. In den casas okupadas trifft man selten jemanden, der nicht tätowiert ist. Die meisten tragen dunkle Kleidung und Piercing. Rasurfrisur ist normal. Bei uns würde man sie als Autonome bezeichnen. Sie selbst nennen sich Liberados. „Uns fehlte ein Ort, wo wir uns treffen und unsere Musik hören konnten“, so einer der Liberados, der seinen Namen aus Angst vor Repressionen öffentlich nicht genannt sehen möchte. „Einen Jugendclub oder so etwas gab es für uns nicht. Wir haben Geld gesammelt, um ein Haus zu mieten, aber das hat nicht gereicht. Außerdem waren wir zu jung und niemand hätte uns ohne Arbeit oder Ausbildung als Mieter genommen. Da haben wir uns einfach ein Haus gesucht.“ 

Die Motive für das Besetzen von Häusern sind vielseitig. Für die BewohnerInnen von La Bibliokleta in der Calle Juan Francisco Rivas in La Cisterna ist es wichtig, eine – wie sie es selbst nennen – Contra-Kultur zu pflegen. Sie wollen kulturelle, soziale und politische Arbeit machen. Das alles beherrschende ökonomische System gefällt ihnen nicht. Alle sechs BewohnerInnen haben einen Schulabschluss. Die Mehrheit von ihnen hat die Schule nach der Grundbildung von acht Jahren beendet, zwei von ihnen, Pablo und Lilly, haben zwölf Jahre absolviert und ein Studium begonnen. Aus ökonomischen Gründen mussten sie es abbrechen. 
Hauptbestandteil der Arbeit in La Bibliokleta ist die Fahrradwerkstatt. Die Liberados sammeln alte Fahrräder und setzen sie wieder instand. Auch die Räder aus dem Viertel werden unentgeltlich repariert. Zum einen, da auch die anderen BewohnerInnen von La Cisterna in der Regel über wenig Mittel verfügen, zum zweiten, um dem motorisierten Verkehr entgegenzuwirken. Denn „Autos isolieren die Menschen, sind gefährlich und zerstören die Umwelt“, so ein Flugblatt, das im Hausflur hängt. 

Eines der meistfrequentierten Häuser ist El Ateneo. Hier leben, ebenso wie in La Bibliokleta, sechs Personen ständig zusammen. Die Jugendlichen wollten sich eine Privatsphäre außerhalb des Elternhauses schaffen, ohne dafür Geld ausgeben zu müssen. Da bot sich die Gelegenheit, in der Calle General Bulnes ein leerstehendes Haus zu nehmen. Ca. 40 weitere Leute kommen regelmäßig vorbei, um die Angebote wahrzunehmen. In der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts war Ateneo der Name für die sozialen Zentren der chilenischen Arbeiter, in denen sie sich trafen, um sich weiterzubilden, und wo sie sich auch organisierten. Die ocupas in General Bulnes wollen das Konzept der Ateneos neu erstehen lassen. „Die Erfahrung von El Ateneo in seinem letzten Lebensjahr ist für uns ziemlich bereichernd gewesen“, berichtet José. „Wir haben handwerkliche Workshops, wie Stoffe bedrucken und Buchbinden, abgehalten. Es wurde ein Backworkshop und einer über vegetarische Küche realisiert. Sonntags treffen sich Leute, um Esperanto zu lernen und seit diesem Jahr wird jeden Samstag ein Theaterworkshop für Kinder angeboten.“
Das zentrale Projekt aber von El Ateneo sowie auch anderer Häuser ist seine Bibliothek. Diese Bibliothek wurde durch die Unterstützung verschiedener Leute geboren, die freiwillig Bücher spendeten, und das schon seit ein paar Jahren, als das Projekt anfänglich noch in der comuna Maipú im Westen Santiagos residierte. Die Bibliothek von El Ateneo besteht aus einer Vielfalt von Büchern von universeller Literatur bis zu historischem, politischem und sozialem Material. Insgesamt werden über 500 Medien zur Verfügung gestellt. „Die Bibliothek ist bestrebt, den NachbarInnen im Viertel zur Verfügung zu stehen, allerdings in einer kooperativen Form, eine Bibliothek für sie und mit ihnen. Sie sollen sich nähern und beteiligen“, so José. 

Auf die Frage, ob sie denn auch politisch aktiv seien, antwortet Andi schlicht: „Unser Leben ist unsere Politik.“ Der Alltag der ocupas ist geprägt von politischen Diskussionen und dem Ausleben eigener Ideen. Sie suchen einen Raum, der ihnen ein angenehmes Leben ermöglicht ohne Autorität, ohne Machismo. Deshalb sprechen sie von ihren Häusern auch als Espacios Liberados – befreite Räume. Was sie fordern, ist, für ihren derzeitigen Lebensstil nicht bestraft zu werden, den Respekt der Gesellschaft und die Integration in dieselbe. Denn gerade die Integration der Jugendlichen in die chilenische Leistungsgesellschaft wird dadurch extrem erschwert, dass sie sich ihre berufliche Bildung teuer erkaufen müssen. Das LOCE (Ley Orgánica Constitucional de Enseñanza) macht das chilenische Bildungssystem zu einem Wunschkonzert des Neoliberalismus. Wer die Schule absolviert hat und sich die teure Universitätsausbildung nicht leisten kann, muss trotzdem tief in die Tasche greifen, um zwei Jahre schulische Berufsausbildung zu finanzieren. Nur in ganz seltenen Fällen gibt es die Möglichkeit einer dualen Ausbildung, ähnlich wie die in Deutschland. Im Falle der chilenischen ocupas, die aus den unterschiedlichsten Gründen weg von zu Hause sind, scheint eine berufliche und somit vollständige Integration vor diesem Hintergrund als Utopie. 

Ausgestoßen durch das Bildungssystem suchen und finden sie sich in einem ökonomischen Freiraum. Leerstehende Häuser werden besetzt, Strom wird „gepflückt“, Gegenstände des täglichen Gebrauchs zusammengesucht. Das Essen holen viele dann doch noch zu Hause bei den Eltern. José geht sogar täglich ein paar Stunden arbeiten. Aber das macht die Sache nicht einfacher. Was die ocupas nämlich am meisten stört, ist die Repression von Seiten der Besitzer und der Polizei und Justiz sowie die Stigmatisierung durch die Medien. „Letztes Jahr wurde ein Haus geräumt, angeblich gab´s da Mollis. Jetzt sind alle Besetzer Terroristen“, so Lilly aus La Bibliokleta. Am 9. Oktober 2007 haben die Bewohner des El Ateneo einen Räumungsbefehl erhalten. Als die Liberados die Eigentümerin, die ebenso Besitzerin eines privaten colegio ist, kontaktierten, wollte sie nicht mit ihnen sprechen. Binnen 30 Tagen müssen sie das Haus verlassen, ansonsten droht eine Zwangsräumung mit Haftstrafen bis zu mehreren Jahren. Für die eh schon an den Rand der Gesellschaft Gedrängten würde das eine weitere Stigmatisierung bedeuten. Wahrscheinlich, so sagte mir Andi, werden sie es nicht auf die Zwangsräumung ankommen lassen. Allein schon, um andere, die sich solidarisieren würden, nicht in Gefahr zu bringen. Zum Glück gibt es in Santiago noch mehr casas abandonadas…