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Wenn alles zur Ware wird

Die Folgen des Privatisierungsmodells für Chiles Mapuche-Indígenas

Chile gilt als ein Modell für erfolgreichen Wirtschaftsliberalismus, dessen negative soziale Folgen durch Hilfsprogramme für Arme abgefedert werden konnten. Doch nicht nur SchülerInnen und StudentInnen protestieren: In der südlichen IX. Region Chiles gären Konflikte zwischen indianischen Bauerngemeinden und Forstunternehmen. terre des hommes-Mitarbeiter Peter Strack sprach im Oktober mit Roberto Mansilla Ruiz, Direktor der Stiftung zur Entwicklung der kleinbäuerlichen Mapuche-Gemeinden FUNDECAM in Temuco, über seine Einschätzung der bisherigen Regierungszeit von Michelle Bachelet aus der Perspektive der Mapuche-Indígenas, über die Privatisierungspolitik, über staatliche Subventionspraktiken für Arme wie Reiche und darüber, wie Nichtregierungsorganisationen und indianische Kleinbauerngemeinden den Problemen zu begegnen versuchen.

Peter Strack

Was ist die Bilanz der Regierung Bachelet aus der Sicht der Mapuche-Familien?

Insbesondere im Vorfeld des entscheidenden zweiten Wahlgangs waren zwischen der Kandidatin Bachelet und den indianischen und kleinbäuerlichen Organisationen Vereinbarungen getroffen worden, die bislang nicht erfüllt wurden. Eines der unerfüllten Versprechen ist, die Politik der Vorgängerregierung fortzusetzen, von Großgrundbesitzern Land für indianische Gemeinden aufzukaufen. Hier wurde stattdessen gekürzt. Auch die Verbesserung des Landschulwesens lässt auf sich warten. Erst jetzt wird darüber wieder verhandelt. Und das Schulgesetz aus der Pinochet-Zeit ist immer noch nicht modifiziert worden. Hier geht es insbesondere darum, Schulbildung nicht dem Gewinnprinzip zu unterwerfen. Seit der Diktatur sind Bildungsangebote für die arme Bevölkerung zu einem großen Geschäft geworden. Der Staat bezahlt private Schulen für Kinder aus armen Familien, sichert aber nicht die Qualität des Angebots. In vielen Landschulen machen die Kinder nicht viel mehr als essen und spielen. 

Ein weiteres Versprechen war, das sogenannte Antiterrorgesetz aus der Zeit von Pinochet aufzuheben. Auch wenn das Gesetz heute subtiler angewandt wird als damals, ist die repressive Ausrichtung geblieben. So werden immer noch Mitglieder indianischer Organisationen ins Gefängnis gebracht, weil sie ihre Landrechte verteidigen. Sprecher indianischer Organisationen und vor allem junge Leute werden über Monate beobachtet und dann plötzlich festgenommen. Ihr Vergehen ist es, Informationen über die Rechte der indianischen Gemeinden und über Land der Mapuche, das unter Pinochet den Holzunternehmen übertragen worden war, verbreitet zu haben. Diese Böden müssten heute den Mapuche-Gemeinden zurückgegeben oder vom Staat zurückgekauft werden. 

Aber das ist doch kein Grund, jemanden festzunehmen.

Offiziell werden sie beschuldigt, Lastwagen der Forstunternehmen in Brand gesetzt zu haben. Ich glaube aber nicht, dass das diese jungen Mapuche waren, die dann festgenommen wurden. Vielmehr haben sich in ihre Organisationen Leute aus der Stadt eingeschlichen, die wohl für einen Großteil der Attentate verantwortlich sind. Verurteilt werden aber die ortsansässigen WortführerInnen der Organisationen. 

Aber einen solchen Vorwurf muss die Justiz doch beweisen.

Die Untersuchungen dauern geraume Zeit. Eine Mitarbeiterin von uns zum Beispiel, die mit einem dieser Wortführer befreundet war, blieb drei Jahre schuldlos in Haft. Mit erheblichen negativen Konsequenzen für sie persönlich. 

Was machen die VertreterInnen der großen Mapuche-Organisationen, die vor Jahren die Proteste gegen die Forstunternehmen angeführt haben? 

Sie wurden über die CONADI (den Nationalen Rat für die indianische Entwicklung) begünstigt und mit Landtiteln oder mit Projektmitteln eingebunden. Über die CONADI arbeiten sie direkt oder indirekt mit der Regierung zusammen. Und die Mehrzahl der Jugendlichen von damals ist heute im Gefängnis. Oberflächlich gesehen ist die Region derzeit befriedet. Aber die Proteste gehen unter der Oberfläche weiter. Noch am 12. Oktober, dem Jahrestag der spanischen Eroberung Amerikas, wurde in Temuco eine ganze Reihe Jugendlicher bei Protestaktionen inhaftiert. 

Viele Mapuche-Organisationen standen lange Zeit unterschiedlichen Parteien nahe. Im Rahmen von Entwicklungsprojekten wurden dann neue Vertretungsstrukturen geschaffen. Daneben gibt es aber immer noch die traditionell indianischen Organisationsformen. Wer vertritt heute die Mapuche?

Die alten Organisationen spielen heute kaum noch eine Rolle. Dafür wachsen neue Gruppen, die weder mit Parteien noch mit der Kirche oder Nichtregierungsorganisationen zu tun haben. Sie sind sehr autonom. Viele engagieren sich bei Aktionen gegen die Anlage eines Müllplatzes, einer Autobahn, einer Landepiste oder bei einer Landbesetzung. Der Nachteil bei manchen ist allerdings, dass sie selbst keine politischen Kriterien haben. Die Aktionen sind sehr spontan, kurzfristig, bleiben folgenlos und isoliert von den sozialen Prozessen in den Gemeinden. Und gerade bei solchen Aktionen werden häufig Menschen, die sich für die gute Sache engagieren, festgenommen. 

Wer vertritt dann die Bauerngemeinden?

Vor allem die Asociaciones Indígenas. Diese Vertretungsorgane wurden zwar von außen mit der Indianergesetzgebung geschaffen und dadurch gestärkt, dass sie insbesondere von den Bürgermeistern als einzig legitime Vertretungen anerkannt wurden. Die Gemeinden haben sich diese Struktur aber inzwischen angeeignet. Wenn sie sich an den Staat wenden, folgen sie der gesetzlichen Vorgabe, doch intern organisieren sie sich in Bezug auf ihre traditionellen Territorien. Diese gehen weit über die Gemeinden hinaus und beziehen sich auf einer Bevölkerungsgruppe gemeinsame heilige Stätten wie Friedhöfe oder den Festplatz des Nguilatun. Diese Organisationsformen, „Lof“ genannt, werden sich meines Erachtens langfristig auch gegenüber dem Staat durchsetzen.

Gibt es für die Mapuche nichts Positives in der bisherigen Bilanz der Regierung Bachelet?

Ja, die Zahl der Grundschulstipendien für Mapuche-Kinder wurden erhöht. Das sind pro Kind 150 Dollar im Jahr, um die Schulmaterialien zu bezahlen. Und es gibt einen Anreiz, weiter in die Schule zu gehen. Kinder, die das achte Schuljahr beenden, bekommen eine Prämie. Die ärmsten Familien erhalten im sogenannten Überbrückungsprogramm jetzt auch in der Stadt kostenlose Schulbildung und Gesundheitsversorgung. Viele ziehen dorthin, damit die Kinder eine weiterführende Schule besuchen können. Geblieben ist auch die Hoffnung, dass die Kleinbauern mit der neuen Präsidentin einige ihrer Rechte zurückgewinnen, die sie verloren haben, wie das Recht auf ein Stück Land. Sie sind überzeugt, dass die Situation unter dieser Regierung besser ist, als sie es unter einer Rechtsregierung wäre. 

Ist diese Hoffnung begründet? Wie ist der Stand im Landkonflikt zwischen Mapuche-Gemeinden und Forstunternehmen?

Die Regierung hat die Forstunternehmen gebeten, stärkeren Kontakt zu den indianischen Gemeinden zu suchen, mit denen sie im Konflikt stehen. Tatsächlich ist es nicht mehr möglich, die Flächen der Forstunternehmen ohne Einwilligung der Gemeinden weiter auszudehnen. Mir scheint es verhängnisvoll, dass sich einige Anführer der Gemeinden, die von der Regierung unterstützt werden, dabei einspannen lassen. Sie stimmen zu, mit Kapital der Unternehmen Gemeindeland aufzuforsten. Nach zehn Jahren sollen sich dann die Gemeinde und die Forstunternehmen den Gewinn je zur Hälfte teilen. Das Problem dabei ist, dass die Gewinnspanne von den Preisen abhängt, die das Forstunternehmen festsetzen wird. Und auch wenn das Unternehmen den Mapuche zunächst für die Einzäunung und andere Arbeiten auf dem Gelände Lohn bezahlt, können die Gemeinden in den zehn Jahren bis zum Fällen der Bäume auf dem Land keinen Ackerbau mehr betreiben. Und der Boden verliert Nährstoffe. Nur wo die Böden ohnehin bereits ausgelaugt sind, würde eine Baumdecke zumindest vor weiterer Erosion schützen. In jedem Fall sind nach Eukalyptus-Monokulturen Jahrzehnte nötig, bis der Boden wieder für Ackerbau nutzbar gemacht werden kann. Fichtenwälder wären nicht so problematisch.

Dies alles ist nur im Rahmen einer geplanten Strategie der Regierung zur Verminderung der Landkonflikte zu verstehen. Die Forstbetriebe machen gemeinsame Sache mit den indianischen Gemeinden, und die Zellulosefabriken bekommen ihren Rohstoff. Bislang gab es über die Regierungsbehörde CONAF (Corporación Nacional Forestal) nur Aufforstungsprogramme der Regierung für Bauernfamilien in kleinem Umfang. Diese Fördermittel reichen aber nicht, um die Investitionen für große Plantagen aufbringen zu können.

Die Mapuche-Organisationen lassen sich aber nicht überall für vermeintliche Entwicklungsprojekte kooptieren. Was ist mit dem geplanten Autobahnbau am Budi-See?

Chile hat eine große Zentralautobahn. Die Zellulosefabriken sind aber in der Küstenregion, etwa in Valdivia. Ab 2010 ist geplant, die Baumstämme die Küste entlang nach Concepción zu bringen. Dafür sollte eine Autobahn auch durch die Region am Budi-See geführt werden, und an der Mündung zum Meer hin wäre ein Brückenbau notwendig gewesen. Wir haben die Gemeinden damals bei einer Befragung unterstützt, und sie sprachen sich gegen das Projekt aus. Eine Brücke wollten sie, aber keine Autobahn. Die Regierung Lagos entschied damals, einen neuen Konflikt zu vermeiden. Die Autobahn wurde um das Gemeindeland der Mapuche herumgeführt und die Brücke trotzdem gebaut. 

Der Widerstand gegen die Staudammbauten am Bio Bio war weniger erfolgreich.

Das besorgt uns alle, die die Aktionen dort unterstützt haben. Insgesamt geht es um sechs geplante Staudämme, zwei davon am Oberlauf des Bio Bio. Dort blieben schließlich noch zwei Familien, die sagten, sie zögen es vor, im Wasser zu ersaufen, statt dem Energieunternehmen, das zu großen Teilen in Händen der spanischen ENDESA ist, ihr Land zu verkaufen. Wieder war es die Regierung, die über ihre Berater und Ingenieure mit jeder einzelnen Familie verhandelte, bis diese schließlich das Verkaufsdokument unterzeichneten und beide Staudämme gebaut wurden. Über die anderen vier wird inzwischen nicht mehr diskutiert. Den Menschen hatte man versprochen, künftig könnten sie vom Tourismus leben, aber bis heute gibt es kaum Touristen dort. Und die Ersatzländereien, die den Familien gekauft wurden, liegen in höheren Lagen. Nach den letzten harten Wintern sagen die Betroffenen, dass es ihnen schlechter gehe als früher. Die Wohnungen sind besser, sie haben jetzt Strom, aber die Ackerproduktion reicht kaum zum Leben. Viele bereuen es, ihr Land verkauft zu haben.

Es wurde ja nicht nur das Land an ein Unternehmen verkauft, auch die Flüsse wurden privatisiert.

Auch dies ist ein Gesetz aus der Regierungszeit Pinochet, bei dem nicht nur die Wassernutzungsrechte der Flüsse an Privatunternehmen verkauft wurden, sondern gleich die der Zuflüsse mit. Wir stellten das fest, als wir halfen, die Wasserrechte für einige Gemeinden um Temuco zu klären. Dabei kam heraus, dass diese an die ENDESA verkauft worden waren. Das Gesetz sieht einen kleinen Spielraum für „kostenfreie“ private Wassernutzung vor. Die Gemeinden können den Staat darum bitten, die Gemeinden dadurch zu subventionieren, dass er der Firma die Nutzungsgebühren für die Gemeinde bezahlt. Nur wird diese „kostenfreie“ Nutzung für Jahreszeiten finanziert, in denen die Menschen gar nicht so sehr auf das Wasser in den Bächen angewiesen sind, nämlich in der Hauptregenzeit im Winter, statt im Sommer, wenn die Bauern es wirklich brauchen. Mir scheint das alles sehr absurd und ich rechne damit, dass es künftig auch über die Wassernutzung Konflikte mit den Mapuche-Gemeinden geben wird. Denn die Leute verstehen nicht, warum sie das Wasser nicht nutzen dürfen, das durch die Bäche an ihren Grundstücken vorbeifließt. 

Kann denn kontrolliert werden, ob man dem Bach Wasser entnimmt oder nicht?

Es kommt durchaus vor. Die Bezahlung des Wassers hat in Chile schließlich Verfassungsrang. Als wir einmal Wasserpumpen in einer Gemeinde gebaut haben, bekam ich Drohungen. Ich sprach mit unserem Anwalt und der sagte mir: Vorsicht, Wasser aus einem Fluss zu nehmen, der privatisiert ist, ist in Chile ein schwer wiegendes Delikt. Dafür kann man ins Gefängnis kommen. Wir mussten dann fünf Meter vom Flusslauf entfernt einen Brunnen bohren. Das war erlaubt. Auch unter den Bauern kann es zu Konflikten kommen, wenn sich eine Familie beim Staat ein noch freies Nutzungsrecht, etwa für eine Quelle, eintragen lässt, selbst wenn sie gar nicht auf dem eigenen Grundstück liegt. Wir haben deshalb dort, wo es noch möglich war, versucht, dass möglichst viele Gemeinden sich das Nutzungsrecht gemeinschaftlich für ihr gesamtes Territorium eintragen lassen. Aber manche haben eben das Wasserrecht auf ihren Namen eintragen lassen und heute haben wir ein Problem dort. Dabei bedeutet Wasser in der Mapuche-Kultur Leben. Alle Zeremonien der Machis, der Schamaninnen, drehen sich um das Wasser. Das Wasser muss respektiert werden. 

Die Kultur ist jedoch offensichtlich stark erodiert. Die Schule ist üblicherweise ein Einfallstor für die Zerstörung traditioneller Kulturen. FUNDECAM hat in Trañi Trañi in der Nähe von Temuco vor einigen Jahren eine Gemeindeschule gegründet. Dort geht es um das Angebot einer Qualitätserziehung für Mapuche-Kinder und insbesondere die Stärkung der Mapuche-Kultur. Gelehrt werden Ethnomathematik, traditionelle Feste, Sportarten, Musik, Geschichte und Organisationsformen der Mapuche. Das Lehrangebot ist vielfältig, bleibt aber im Rahmen des staatlichen Curriculums, oder?

Nicht ganz. Da wir eine andere Schule wollen, in der das Weltbild der Mapuche die Grundlage ist, haben wir die Dorfbewohner gefragt, ob sie damit einverstanden wären, den staatlich vorgeschriebenen katholischen oder evangelischen Religionsunterricht durch die Religion der Mapuche zu ersetzen. Sie waren damit einverstanden und auch das Ministerium hat unter der Bedingung zugestimmt, dass die Eltern schriftlich ihr Einverständnis erklären, was dann geschehen ist. Demnächst werden also eine Machi-Frau und ein Machi-Mann den Unterricht aufnehmen. Gemeinsam werden wir nun die Vor- und Nachteile besprechen und vereinbaren, wie die Machis in den Schulbetrieb einbezogen werden. Das Ministerium wird auch hier die Ergebnisse anschließend überprüfen. 

Was unterscheidet die Religion der Mapuche vom Christentum?

Das Christentum kennt einen dreifaltigen Gott: Vater, Sohn und Heiliger Geist. In der Mapuche-Kultur gibt es vier Gottheiten: Vater und Sohn, Mutter und Tochter. Und der Respekt vor der Natur spielt eine viel stärkere Rolle. Dies wird durch die Machis und die Lonkos, die traditionellen Dorfoberhäupter, in der Schule vermittelt. Manchmal gehen die Kinder auch zu den Lonkos nach Hause. Dort zeigen diese ihnen, was zu tun ist, wenn man in den Wald oder an einen Fluss geht und wie man die Natur, das Wasser um Erlaubnis bittet, sie nutzen zu dürfen. Früher haben wir in anderen Landschulen zwar auch Kurse zur Mapuche-Kultur organisiert, aber in der Schule in Trañi Trañi haben die Kinder jetzt mit den Machis persönlich zu tun. Sie begleiten sie auch bei mehrtägigen Exkursionen. Das wird das Leben der Kinder verändern, denn in katholisch oder evangelisch beeinflussten Familien gibt es immer noch die Auffassung, dass die Machi eine Hexe sei. Das stand sogar in Schulbüchern. 

So wurden die Kinder ihrer eigenen Kultur entfremdet und verließen die Schule mit Identitätskonflikten. Wenn die Kinder jetzt der Machi zum Beispiel erzählen, dass ihr Vater mit einer bestimmten Pflanze geheilt wurde, und die Machi die Erklärung dazu geben kann, führt das zu einer Nähe. Die eigene kulturelle Identität wird gestärkt sein, wenn sie einmal die Schule verlassen. Dabei werden die Kinder auch einfach fröhlicher. Die Lehrer der Sekundarschulen, auf die ehemalige Schüler von Trañi Trañi gehen, berichten, dass diese auch in den neuen Schulen ihren Stolz auf ihre Kultur zum Ausdruck bringen. Das hat natürlich mit der sehr persönlichen Betreuung in unserer Schule zu tun, aber auch mit der Freiheit, all das zu leben, was in anderen Schulen keinen Platz hat. Zum Beispiel der traditionelle Festmonat vom 1. bis zum 24. Juni. Alle schulischen Aktivitäten in dieser Zeit drehen sich in unserer Schule um das Fest.

Das Gespräch führte Peter Strack im Oktober 2007.