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1968 und Lateinamerika

Gert Eisenbürger

Alle zehn Jahre hat das Thema „1968“ in den Medien und auf dem Buchmarkt Konjunktur. 2008 ist es wieder einmal soweit. Den meisten deutschsprachigen Veröffentlichungen – egal ob sie sich positiv auf den politischen Aufbruch vor vierzig Jahren beziehen oder dem Zeitgeist entsprechend die Entsorgung des Gedankenguts der 68er zu betreiben versuchen – ist dabei gemein, dass die Revolte von 1968 als deutsches, bestenfalls europäisches Phänomen gesehen wird, vielleicht noch mit einem Verweis auf die USA.

Dass es 1968 auch bedeutende Kämpfe in Afrika, Asien und Lateinamerika gab, wird fast systematisch ausgeblendet. Dabei hat 1968 und besonders der 2. Oktober besagten Jahres die mexikanische Gesellschaft über Jahrzehnte nachhaltiger geprägt als der Pariser Mai die französische, und Walter Rodney, der dem jamaikanischen Oktober seinen Namen gab (Rodney Riots), ist in der Karibik und weiten Teilen Afrikas wesentlich bekannter als etwa Rudi Dutschke oder Daniel Cohn-Bendit.
Natürlich gab es 1968 nicht nur in Mexiko und Jamaika Demonstrationen. Die gesamten sechziger Jahre führten zu einer starken Politisierung in Lateinamerika. Die weitgehende Unfähigkeit der traditionellen Eliten zu politischen und gesellschaftlichen Reformen auf der einen Seite und der Triumph der cubanischen Revolution auf der anderen ließen bei vielen jüngeren Leuten die Erkenntnis wachsen, dass radikale Veränderungen notwendig und auch möglich waren.1

Weil sich das „Massaker von Tlatelolco“ in Mexiko-Stadt und die Rodney Riots in Kingston im Oktober zum vierzigsten Male jähren, widmen wir dem Thema 1968 in dieser ila ein kleines Dossier mit vier sehr unterschiedlichen Beiträgen.

Im ersten Text beschäftigt sich der in Berlin lebende chilenische Schriftsteller Omar Saavedra Santis mit dem Prager Frühling und dem Pariser Mai und der Rolle, die Lateinamerika und LateinamerikanerInnen dabei spielten.

Im zweiten Beitrag geht es nach Mexiko. Die 60er Jahre waren in Mexiko von einem stetigen Legitimationsverlust der Regierungs- und faktischen Einheitspartei PRI (Revolutionär-Institutionelle Partei) gekennzeichnet. Diese bezog sich zwar auf die Tradition der mexikanischen Revolution (1910-17), tat aber wenig, um deren Versprechen einzulösen, sprich die Campesinos/as und ArbeiterInnen am gesellschaftlichen Reichtum zu beteiligen. Stattdessen vertrat sie – zunehmend repressiv – die Interessen der Staatsbürokratie und der wirtschaftlichen Machteliten. So mehrten sich Streikbewegungen – besonders die der Eisenbahner unter Demetrio Vallejo, aber auch andere lehnten sich zunehmend gegen den Alleinvertretungsanspruch der Zentralgewerkschaft CTM unter dem regierungsfreundlichen Omnipotentaten Fidel Velázquez auf –, die neue Lösungen der sozialen Probleme einforderten. Auch die SchülerInnen und StudentInnen artikulierten 1968 die wachsende Unzufriedenheit. Zwar ging es bei ihren Streiks und Demonstrationen vordergründig um Reformen im Bildungswesen, doch stellten sie mit ihren Forderungen nach größerer Partizipation und sozialen Verbesserungen die Struktur des autoritären Staates grundlegend in Frage. Der staatliche Gewaltapparat reagierte mit zunehmender Repression, die am 2. Oktober eskalierte, als Sicherheitskräfte auf dem „Platz der drei Kulturen“ (Tlatelolco) in der Hauptstadt das Feuer auf DemonstrantInnen eröffneten. Bei dem Massaker und der darauf folgenden Hatz auf politische AktivistInnen wurden im Oktober 1968 – in den Tagen vor den Olympischen Spielen in Mexiko – vermutlich mehrere hundert Leute ermordet, ihre genaue Zahl wurde nie ermittelt. 
Unser Redaktionsmitglied Uwe Bennholdt-Thomsen lebte zwischen 1966 und 1968 in Mexiko-Stadt und arbeitete dort als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Autonomen Nationaluniversität (UNAM), die ein Zentrum der Bewegung war. In seinem persönlichen Bericht erinnert er sich daran, wie er die Bewegung, das Massaker und die Olympischen Spiele, zu denen auch zahlreiche prominente Deutsche anreisten, erlebt hat.

Ganz andere Hintergründe als in Mexiko hatten scheinbar die Demonstrationen am 15./16. Oktober 1968 in Jamaika. Doch auch dort machte sich weitverbreiteter Unmut über uneingelöste Hoffnungen Luft, konkret die Erwartungen, die die Schwarzen Jamaikas und anderer Karibikstaaten mit der Unabhängigkeit ihrer Länder verbanden. Dabei war der Auslöser vergleichsweise unspektakulär: Bei seiner Rückkehr von einem Kongress in Montreal/Kanada verweigerten die jamaikanischen Behörden dem jungen und bei den StudentInnen äußerst beliebten Dozenten Walter Rodney die Wiedereinreise. Dies führte zu einer sozialen Explosion: In Kingston kam es nach einer Protestdemonstration zu einer 36-stündigen Revolte, mit Straßenschlachten, Barrikaden, Bränden und Plünderungen. Mit den Rodney Riots erreichte die Black Power-Bewegung, die radikale Tendenz der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung, die Karibik. Unser Redaktionsmitglied Gert Eisenbürger beschreibt in seinem Artikel die Hintergründe und die Folgen eines Aufstands, über den im deutschsprachigen Raum bisher kaum etwas geschrieben wurde.

Im letzten Artikel unseres kleinen Dossiers zu 1968 stellt Gert Eisenbürger schließlich das Buch „Weltwende 1968?“ vor, das in einer Reihe hochspannender Beiträge erstmals den Versuch unternimmt, den Umbruch jener Zeit als globales Phänomen wahrzunehmen und zu analysieren.

  • 1. vgl. Mayer, David: Vor den bleiernen Jahren der Diktaturen – 1968 in und aus Lateinamerika, in: Kastner, Jens & Mayer, David (Hg.): Weltwende 1968?, Wien 2008, S. 143-158.