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Das Jahr mit den vielen Frühlingen

Erinnerungen an die 68er aus lateinamerikanischer Sicht
Omar Saavedra Santis

In Almanachen und Jahrbüchern werden die Jahreszahlen und die Ereignisse, die sich jähren, nüchtern aufgelistet, ohne die Entstehungsgeschichte und ihre Folgen zu erwähnen, geschweige denn die Zusammenhänge zu erklären. Etwas Ähnliches tun die Insekten-PräparatorikerInnen. Sie nehmen geschichtliche Ereignisse aus ihrem soziohistorischen Habitat, entfernen Staub und Stroh, präparieren sie voller Liebe und präsentieren sie dann in Schaukästen, wo sie für immer, in die Welt der unbeweglichen Dinge aufgespießt, bleiben. Zu dieser einäugigen Sicht – gleich ob auf dem linken oder rechten Auge blind – kommt noch der ebenso bequeme wie mächtige Einfluss des mainstream und der Markt, der die respektiven Erinnerungsanlässe heute in klingende Münze zu verwandeln weiß. Auch das ist ein nicht zu vernachlässigender Faktor bei der Geschichts(neu)schreibung.

All dies passiert zurzeit beim Rückblick auf den europäischen Frühling 1968. Eine wahre Flut an Monografien, Memoiren, Zeitzeugnissen, Bilanzen und Sonderausgaben ergießt sich in die Buchhandlungen und Zeitungskioske. Thema der Überschwemmung ist vor allem der Prager Frühling und der Pariser Frühling. Obwohl sich die legendären 68er geografisch nicht nur zwischen Seine und Moldau abspielten, waren Paris und Prag die Epizentren der Erschütterung, die vor 40 Jahren das Establishment in Europa aufschreckte. Und nicht nur Europa, sondern auch den Rest der Welt, denn es gab nicht nur einen oder zwei oder drei Frühlinge, die in diesem Jahr die „herrschende Ordnung“ zum Erzittern brachten, sondern viele, im Westen und Osten, im Norden und im Süden: in den USA, Westdeutschland, Italien, Spanien, Belgien, Polen, Jugoslawien, Japan und bis zu einem gewissen Grad auch in China während der wuchanjieji wenhua dageming (Große Proletarische Kulturrevolution). 

Aber auch in Argentinien, Mexiko, Chile, Uruguay und Brasilien rüttelten StudentInnenbewegungen an den angerosteten Machstrukturen. Es ist plausibel anzunehmen, dass die ersten schüchternen Knospen des Prager Frühlings unter dem erstickenden Dickicht aus öffentlichen Enthüllungen auf dem 20. Kongress der Kommunistischen Partei der Sowjetunion zu sprießen begannen, als dort im Winter 1956 die mehr als tragischen Dimensionen des Stalinismus enthüllt und zugleich die Absicht erklärt wurde, die damals noch junge und gerade den apokalyptischsten Krieg der Weltgeschichte überlebt habende sowjetische sozialistische Gesellschaft zu erneuern und zu demokratisieren. Wie bekannt, wurde diese Absicht in Händen der Parteibürokratie zur Makulatur. Dennoch reichte die Absichtserklärung, um bei vielen, die daran glaubten, leidenschaftliche Hoffnungen zu wecken und für ihre Realisierung zu kämpfen. Sporadisch entstanden in Polen, in Jugoslawien und in der Sowjetunion selbst die ersten Protestbewegungen.

Aber es war in Prag, wo die Nadeln des Seismographen verrückt spielten, als dort im Januar 1968 ein bis dahin eher grauer und wenig bekannter kommunistische Funktionär, Alexander Dubek, zum Ersten Sekretär der tschechoslowakischen Kommunistischen Partei gewählt wurde. Aus dieser bisher unangreifbaren Position heraus kündigte er ein kurzes „Aktionsprogramm“ an, das die Deformierungen des herrschenden politischen Systems durch eine demokratische Erneuerung der Partei, des Staates und der Gesellschaft korrigieren sollte, auf der Basis eines wirklichen Pluralismus. Das Programm wird kurz und bündig in der Parole „Sozialismus mit menschlichem Gesicht“ zusammengefasst. Auf diese Ankündigung folgte eine wahre Explosion von öffentlichem Enthusiasmus. Die internationale Aufmerksamkeit begann sich auf die Ereignisse in dem kleinen Land zu konzentrieren. Aber auch Zweifel waren zu hören. Die Wogen der Sympathie und der Ablehnung gegenüber dem tschechoslowakischen Experiment waren so unterschiedlich wie die Interessen der politisch-militärischen Blöcke, in die die Welt damals geteilt war. Was folgte, ist bekannt. 

Das Erneuerungsprojekt vom Januar 1968 endete im August desselben Jahres mit dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes. Fotos zeigten junge Menschen, die den Panzern Fotos entgegen halten, von Dubek, Lenin, Marx und auch von Che. Zwanzig Jahre später entdeckten die slowakischen NationalistInnen, dass sie wenig oder nichts mit den tschechischen Brüdern und Schwestern verbindet. Die Tschechoslowakei als politisch-administrative Einheit hörte auf zu existieren, stattdessen entstanden die Tschechische Republik und die Slowakische Republik. Und in beiden Ländern wurde die ferne Illusion eines „Sozialismus mit menschlichem Gesicht“ sang- und klanglos durch einen realen Neoliberalismus mit nur einem einzigen Gesicht ersetzt. Natürlich hatten die Windböen, die im Mai 1968 durch Paris fuhren, eine andere Ursache. Es wurde schnell klar, dass sie nicht nur das alte System entstauben, sondern stürzen und durch ein neues ersetzen wollten. Es ging nicht um eine Erneuerung, sondern um eine Revolution. Besser gesagt, es war die glänzende Ankündigung einer Revolution, die nie stattfand. André Malraux, damals Kultusminister unter de Gaulle, erinnerte sich so: „Die Generalprobe dieses abgebrochenen Dramas kündigte die große Krise der westlichen Zivilisation an.“

Der Pariser Frühling von 68 war keine spontane Erhebung. In den zehn Jahren davor hatten sich die verschiedensten Zutaten zu einem Hefeteig vermengt, der im französischen und europäischen Unterbewusstsein vor sich hin gärte. Damals wurde die „Erste Welt“ zur Konsumreligion auf Kosten der Ausplünderung und wachsenden Verschuldung der „Dritten Welt“; in diesen Jahren verschwand das Gesicht des einzelnen Menschen in der Willenlosigkeit der Konsumentenmasse, während der autoritäre Paternalismus einer statistischen Demokratie unbeirrt weiter funktionierte, denn sie hielt sich für perfekt. Aber es war auch die Zeit, als eine ungewöhnliche Revolution es wagte, sich für ein anderes Schicksal zu entscheiden als das, was das Capitol in Washington für ganz Lateinamerika vorgesehen hatte; die Zeit, als das reiche Amerika sich perplex Phänomenen wie den beatniks, flower power und den black panthers gegenüber sah und sich in Vietnam mit einer neuen Form zu töten und zu sterben herumschlug; eine Zeit, als Frankreich anfing zu begreifen, dass es auch mit aller Brutalität seiner Paras (Abkürzung für parachutistes, Fallschirmspringer – Eliteeinheit der französischen Armee) Algerien nicht in den Fußeisen des Kolonialismus halten könnte, wohl aber bei dem Versuch für immer seine Würde als Grande Nation verlieren würde; es war auch die Zeit des aggiornamento, als der Vatikan eine „größere Klarheit des Denkens“ erreichen wollte, um den Menschen und seine Welt besser zu verstehen.

In dieser Dekade, als die Geschichte mit dem Pariser Frühling 68 schwanger war, eröffnete die Pille einer ganzen Generation die Möglichkeit einer sexuellen Revolution, All you need is love schien ihnen die beste Art, um den Planeten wieder auf die Reihe zu bringen. In dieser Zeit proklamierte der Fluxus die „totale Kunst“, ohne vorgegebene Richtungen oder festgelegte Verläufe, zum Rhythmus eines verrückten Klaviers, das John Cage präpariert hatte; Heraklit, Marx, Lenin, Babeuf, die Luxemburg und Gramsci schüttelten den Staub der Dogmen ab, unter denen sie lebendig begraben worden waren, und kehrten pfeifend aus ihren Gräbern zurück; Europa verkündete das Ende des Romans und dieser erstand starrköpfig in der Magie von Julio Cortázar, Gabriel García Márquez, Mario Vargas Llosa und Carlos Fuentes wieder auf. 

Aus alldem und noch viel mehr entstand der Pariser Frühling 1968, die Universität von Nanterre war sein Taufbecken, das er staute, und von dort aus ergoss er sich über ganz Frankreich und große Teile Europas. Vielleicht erklärt dieser überaus fruchtbare genetische Cocktail seinen ungeniert heterodoxen und entschieden radikalen Charakter. Dieses vorher nie da gewesene Phänomen der „Begegnung der StudentInnen mit dem Proletariat“ (Malraux) zeigte innerhalb weniger Tage seine mitreißende kreative und kämpferische Kraft, trotz einer anfänglich misstrauischen Beäugung durch die „alte Linke“. Immer zahlreichere Streiks lähmten das Land und verschreckten das „gute Gewissen der Nation“ mit ihren Forderungen nach mehr direkter Beteiligung der ArbeiterInnen und StudentInnen an allen politischen, ökonomischen und sozialen Instanzen und Prozessen, d.h. auf jeder Verwaltungsebene des Staates. Die Fabriken, das Telefon, die Post, der öffentliche Verkehr und die öffentlichen Dienstleistungen fielen wochenlang aus. Die schiere Freude am gemeinsamen Kampf wuchs proportional zum Entsetzen der Bourgeoisie, der nichts anderes einfiel, als die CRS (Compagnies Républicaines de Sécurité: kasernierte, in regionale Gruppen und Kompanien gegliederte Spezialeinheit der Nationalpolizei) gegen die Straßenbarrikaden und besetzten Fabriken und Universitäten einzusetzen, um ihre Börse, ihre Banken und ihre Jagdgründe zu verteidigen.

Alles wurde 1968 in Frage gestellt, mit einem feinen scharfen kartesianischen Messer seziert und dem unbestechlichen Urteil der Poesie unterworfen. Denn der Pariser Mai war auch ein gewaltsamer Aufstand der Poesie, er erinnerte uns daran, dass die Poesie ein lebenswichtiger Bestandteil aller Revolutionen ist, die vorgeben, wirklich menschlich zu sein. Carlos Fuentes erinnert sich daran, dass an demselben Ort, an dem „Rayuela“ (Roman von Julio Cortázar, dt. Himmel und Hölle) beginnt, in dem Gässchen zwischen der Rue de la Seine und dem Quai de Conti, Julio Cortázar ein Transparent malte, mit dem er die Aufständischen begrüßte: „Ihr seid die Guerilla gegen den vollklimatisierten Tod, den sie uns als Zukunft verkaufen wollen.“ Das ist nur einer von 10 000 Sprüchen, der aus den Mauern von Paris die spektakulärste und schönste Tafel der Welt machte. „Fantasie an die Macht!“ „Nehmt nicht die Metro, nehmt die Macht“ „Ein Gedanke, der stehen bleibt, ist ein Gedanke, der verwest“ „Je mehr ich Liebe mache, desto mehr Lust habe ich, Revolution zu machen. Je mehr Revolution ich mache, desto mehr Lust habe ich, Liebe zu machen“ „Regt euch nicht auf, 2+2 ist nicht 4“ „Frankreich den Franzosen ist ein faschistischer Spruch“ „Wir sind alle deutsche Juden“ (Antwort auf die antisemitischen Angriffe der französischen Rechten gegen Daniel Cohn-Bendit) „Das Recht zu leben wird nicht erbettelt, sondern erkämpft“ „Ich bin Groucho-Marxist“ „Gott ist nicht konservativ“ „Renn Kamerad, die alte Welt ist hinter dir her“ „Seien wir realis-tisch, fordern wir das Unmögliche“. Die Liste der Sprüche ist so lang wie das Gedächtnis derjenigen, die sie in der Zeit nach 68 bewahrt haben, bis heute. Vielleicht taugen sie ja noch einmal. 

Der Pariser Mai war kurz. Er verschwand genau so schnell, wie er gekommen war. Die Revolution starb während ihrer Geburt. An ihrem Tod war die stur antikommunistische und den alten Seilschaften verpflichtete Rede von General de Gaulle in der elften Stunde nicht unbeteiligt. Die Regierung steckte unverfroren den Joker Bürgerkrieg in den Ärmel ihrer Uniformjacke. Tatsächlich hatte General Jacques Massu, der Folterer von Algerien, aus seinem Quartier in Baden-Baden die Panzer schon in Bewegung gesetzt. Aber dazu kam, dass der Aufstand in dem Moment erlosch, als sich die sozialen Forderungen der verschiedenen Gruppen von der gemeinsamen politischen Aktion der Massen trennten. Und so war der Kampf gegen „die große Gewohnheit“, „die große Motte“, „den großen Konsum“, „das große System“ (Cortázar) zu Ende, als aufgehört wurde zu kämpfen.

Jede Revolution schafft sich ihre eigen Bilder, Gesetze und Bezugspunkte. Lateinamerika war zusammen mit dem „heroischen Vietnam“ einer der wichtigsten Bezugspunkte und Bildgeber dieses aufrührerischen Frühlings. Natürlich war Lateinamerika schon vor dem Mai 1968 in Paris präsent. Denn in dem verarmten Lateinamerika der Bananentyrannen und blutigen Militärputsche war etwas Neues passiert. Am Ersten Januar 1959 hatte eine bärtige Armee nicht nur Havanna gewaltsam erobert, sondern sich in das aktive Bewusstsein eines ganzen Kontinents katapultiert und von dort in die rebellischen Vorstellungen einer Generation auf der ganzen Welt. Seit diesem historischen Datum gab es in Dutzenden von Städten zwischen dem Río Grande und Patagonien immer mehr Kampfabteilungen des jungen Gedankens oder eines Neu-Denkens, die ganz offen am verbotenen Baum der Erkenntnis rüttelten und im Vorbeigehen die Spinnweben einer Gesellschaft wegwischten, die nach Mottenpulver stank. In den unermesslichen Hunger- und Armutsvierteln Lateinamerikas multiplizierten sich die Basisgemeinden der armen Christen, entschlossen vom Kreuz herabzusteigen und zu gehen. Weder die Militärdiktaturen noch die verschlafenen Reformen, auch nicht das große Zwinkern der „Fortschrittsallianz“ konnten verhindern, dass der ungeheuren Drohung „Schafft, zwei, drei, viele Vietnam“ Arme, Beine und Köpfe wuchsen. Denn Vietnam war damals der Ort, an dem das mächtigste Imperium der Welt (was damals absolut ernst gemeint war) sich das erste Mal die Zähne ausgebissen hatte.

Der unangefochtene Botschafter jenes Lateinamerika, das nicht mehr auf Knien vor der Geschichte liegen wollte, war Cuba. Cuba war von Anfang an bei den StudentInnentreffen in Paris dabei, im Herzen der Revolte, in ihrer Dichtkunst und Gedankenwelt. Für die StudentInnen in Nanterre und Paris oder die ArbeiterInnen bei Renault und Sud-Aviation war Cuba keine Insel mehr, sondern ein arrondissement, ein banlieu, eine rue genauso wie der Boul'Mich oder Saint Germain-de-Prés. Der „neue Mensch“, solidarisch, erfindungsreich und frei, den Che vorausgesagt hatte, zeigte in jedem der Aufständischen erste Lebenszeichen. In einer der tausend endlosen Diskussionen in der Cité Universitaire verwies Sartre wieder einmal auf Cuba, um die StudentInnen daran zu erinnern, dass die revolutionäre Theorie aus der revolutionären Praxis entstanden war und nicht umgekehrt. Fidel und die Seinen hatten das dogmatische Jucken der „alten Linken“ und die verknöcherten Theorien „der Avantgarden“ zu Boden geworfen. Genau wie es nun in Paris geschah. Überall war damals zu hören: „Unsere Bewegung ist für die französische (und europäische) Revolution dasselbe, was der Angriff auf die Moncada-Kaserne für die cubanische Revolution war.“ Che sammelte seine in Vallegrande zerstreuten Knochen ein und fehlte bei keinem Treffen auf dem Odéon, und vergaß auch keine Barrikadeablösung im Quartier Latin. Neben ihm Onkel Ho, der große Steuermann Mao, aber auch Rimbaud, Baudelaire, Louis Aragon. Und Roberto Matta, Jean Cassous, Michel Piccoli, Jean-Louis Barrault, Marguerite Dumas, Michel Butor, Julio Cortázar, Paul Ricoeur, Alain Touraine, Alfred Kastler, so viele.

Der Frühling von Prag und Paris, aber auch der purpurne Oktober von Tlatelolco sind zu Schwarzweißfotos geworden, die heute in vergessenen Alben vergilben, zusammen mit einem Stück der Berliner Mauer, irgendeinem Flugblatt mit dem Wort compañero und vielleicht einer vertrockneten roten Nelke, die jeden Duft verloren hat. Viele von denen, die früher mit nie wieder erreichter Passion die Farbe der Hoffnung beschrieben und „vorwärts und nicht zurück!“ riefen, verbrennen heute – so schnell es ihre Fettleibigkeit erlaubt – das, was sie gestern anbeteten, mit derselben Energie, mit der sie gestern das verbrannten, was sie heute anbeten. Viele, zu viele von den Anführern, die gestern von ihrer erhöhten Position aus das versprochene Land der Gerechtigkeit und Gleichheit unter freien Menschen erspähten, empfehlen heute mit dünnem Humor, dass PolitkerInnen mit „Visionen“ zum Augenarzt oder Psychiater gehen sollten. Die unermüdlichen Strategen, die gestern noch die Verwandlung von Träumen in Realität organisierten und lenkten, beschränken sich heute darauf, in der unterwürfigen Etymologie der Bekehrten zu beweisen, dass die Utopie nur im Absurden existiert. 

„Was für eine Welt, Bruder, was für eine unglaubliche Scheiße. Aber immer blüht ein Blümchen auf dem Haufen Scheiße, wie in dem Gedicht von Allen Ginsberg!“, schreibt Julio Cortázar an Gregory Rabassa, seinen nordamerikanischen Übersetzer, am 26. Juni 1968 und meint den Niedergang des Pariser Frühlings.
Ein Blümchen, um es im Knopfloch zu tragen, bis zum nächsten Mal.