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Leben nach den Zeiten der Hurrikans

Eindrücke vom 30. Internationalen Festival des Neuen Lateinamerikanischen Films in Havanna

Zum 30. Mal öffneten am 2. Dezember 2008 in der cubanischen Hauptstadt mehr als 14 Kinosäle dem „Internationalen Festival des Neuen Lateinamerikanischen Films“ für zehn Tage ihre Pforten, und das trotz der verheerenden Herbststürme Gustav, IKE und La Palomita, die nach unterschiedlichen Schätzungen Schäden in Höhe von etwa fünf bis zehn Milliarden US-Dollar hinterlassen haben. Ute Evers und Andreas Hesse vom „Kubanischen Filmfestival“ in Frankfurt am Main berichten von ihren Eindrücken rund um das große lateinamerikanische Filmereignis.

Ute Evers
Andreas Hesse

„Auch wenn wir nie daran gezweifelt haben, das Festival stattfinden zu lassen, können sich die meisten BesucherInnen des Filmfestivals keine Vorstellung davon machen, wie groß der finanzielle Aufwand und persönliche Einsatz dieses Jahr sind“, erklärte María Padrón vom cubanischen Filminstitut ICAIC in einem Gespräch das, was wir Außenstehende nur erahnen konnten. Havanna war hinsichtlich der Sachschäden glimpflich davongekommen, wohingegen der Zusammenbruch der landwirtschaftlichen Produktion alle BewohnerInnen der Insel traf und trifft. Inzwischen ist der Ausnahmezustand überwunden und auf den Bauernmärkten tauchen peu à peu wieder Obst und Gemüse auf.

Alle Alltagsmühen hinderten die Habaneros/as nicht daran, das Festival als ihr eigenes Festival zu begreifen – mehr als dies die Bevölkerung in anderen Festivalstädten sonstwo auf der Welt tut – und bei populären Erstaufführungen wickelten sich die Warteschlangen um mehrere Häuserecken. Obwohl die altehrwürdigen Lichtspielhäuser riesengroß sind (das Yara fasst zum Beispiel rund 1500 BesucherInnen), waren sie schnell voll. MancheR deutsche KinobetreiberIn mag da vor Neid erblassen. Und – die Atmosphäre war einzigartig: „Es gibt kaum ein anderes Filmfestival in der Welt, das ein solches Publikum hat wie in Havanna […], das auf eine halbe Million ZuschauerInnen kommt, in einer Stadt, die etwas mehr als zwei Millionen Einwohner zählt“, bestätigte Iván Giroud, Direktor des Festivals, in einem Interview (Diario del Festival, 2. 12. 2008) unseren Eindruck. 

Der große Ansturm erfolge vor allem auf Spielfilme, Dokumentarfilme hingegen, so Giroud, fänden bedauerlicherweise immer noch zu wenig Interesse beim cubanischen Publikum“, obwohl dieses Filmgenre auf dem lateinamerikanischen Kontinent gerade den ersten Höhepunkt erfährt“. Als es im Dezember 1979 „Film ab“ für das erste Internationale Festival des Neuen Lateinamerikanischen Films hieß, standen dessen Jury keine Geringeren als der kolumbianische Schriftsteller Gabriel García Márquez und der cubanische Filmemacher Santiago Álvarez (1919-1998) vor. Schon damals nahmen mehr als 600 CineastInnen aus ganz Lateinamerika an dem Filmereignis teil, zu einer Zeit, in welcher der südamerikanische Kontinent in höchs-tem Aufruhr stand: „Es war einerseits das Jahr, als die Sandinisten in Nicaragua siegten, andererseits wüteten im Cono Sur noch immer die Diktaturen. Jimmy Carter war noch Präsident, aber Ronald Reagan würde ihn im folgenden Jahr ablösen. Die offizielle Beziehung Cubas mit Lateinamerika war nicht mehr die der 60er Jahre, es gab schon Schritte hin zu einer Entspannungspolitik. Das Festival war ein ganz konkreter Beitrag, um uns auf kulturpolitischer Ebene anzunähern. Es war genau der richtige Zeitpunkt dafür“, erzählte uns der Filmemacher Manuel Pérez Paredes kurz vor der Buchpräsentation des umfangreichen Epistolariums ¿Y si fuera una huella? von Alfredo Guevara, Präsident des Cubanischen Filminstituts ICAIC. 

Zurück in die Gegenwart. Die Produktion des Gastgeberlandes bei den Langfilmen kam in diesem Jahr ungewöhnlich schwach daher, auch wenn J. C. Tabíos El cuerno de la abundancia, dessen Drehbuch Tabío gemeinsam mit Arturo Arango geschrieben hat, von der Jury mit dem dritten Platz bedacht wurde. Den Kern der Geschichte bildet eine angebliche Erbschaft, die vor ewigen Zeiten, man spricht von Jahrhunderten, auf ausländischen Banken deponiert wurde. Nun will es ein Gerücht, das sich auf Presseartikel aus dem Internet stützt, dass die Familie Castiñeira, die in dem fiktiven Ort Yaragüey in Cuba lebt, Erbin sein soll. Die Nachricht von dieser mysteriösen Erbschaft bringt das Familienleben aller im nächsten Umfeld lebenden Castiñeiras in Aufruhr. Tabío erklärte vor der Erstaufführung, dass solche Gerüchte über angebliche auf ausländischen Banken hinterlegten Erbschaften in den 1990er Jahren während der wirtschaftlichen Depression wirklich in die Welt gesetzt wurden. 

El cuerno de la abundancia steckt voller gesellschaftlicher Anspielungen und lässt herzhaft lachen, fällt andererseits mit seiner Neigung zu Overacting und Klamauk auf den Stand der cubanischen Komödie der Neunziger Jahre zurück, dies aus der Sicht einiger Filmkritiker betrachtet. Die Rollen besetzen fast nur bekannte Kinogesichter: in der Hauptrolle die in Deutschland vor allem durch Fresa y Chocolate bekannten Jorge Perugorría und Vladimir Cruz, dann Tahimí Alvariño, Mirta Ibarra, Enrique Molina oder Paula Alí. Im Rahmen der Pressekonferenz während des Festivals stellte das sympathische Filmpaar Tabío-Arango fest, dass sie vor allem einen Film für die Bevölkerung drehen wollten. Und das ist ihnen, bei aller Kritik, hinlänglich gelungen. Die übervollen Kinosäle und ein unglaublich heiteres Publikum legen ein lebhaftes Zeugnis davon ab.

Am erfrischendsten unter den cubanischen Produktionen wirkt Omertá von Pavel Giroud. Der titelgebende italienische Begriff bezeichnet das Schweigegelübde der Mafia. Der originelle Film handelt von den verzweifelten Bemühungen einiger Vertreter des cubanischen Ablegers des organisierten Verbrechens, sich in den Wirren kurz nach der Revolution noch irgendwie zurechtzufinden und die Schäfchen ins Trockene zu bringen. Über den Angola-Kriegsfilm Kangamba des früher einmal auf Musikfilme spezialisierten Rogelio Paris breitet man hingegen besser den Mantel des Schweigens. Der Film wirkt streckenweise wie ein Werbeclip für die Armee. 

Bei den cubanischen Debutfilmen gab es in anderen Jahren immer wieder eine positive Überraschung, die in diesem Jahr leider ausblieb. Weder El viajero inmóvil von Tomás Piard noch Los Dioses Rotos von Ernesto Daranas konnten wirklich überzeugen. Letzterer vermag sich nicht zwischen Film und Fernsehen zu entscheiden, traut seinen eigenen (manchmal gelungenen) Bildern nicht, die er mit Dialogen im Exzess und den dazugehörigen talking heads im Vordergrund regelrecht zukleistert. 

El viajero inmóvil von Tomás Piard war eines der großen Gesprächsthemen unter den LiteratInnen. Die Erwartungshaltung war groß, einen Film über Leben und literarisches Werk von José Lezama Lima (1910-1976) zu sehen. Aber ähnlich verwirrend und anspruchsvoll wie Lezamas Hauptwerk Paradiso, das den Schwerpunkt für den literarischen Teil des Films bildete, war denn auch der Film. Auf drei verschiedenen Erzählebenen und einem ständigen Wechsel zwischen Fiktion und Dokumentation versucht sich Piard dem „unbeweglichen Reisenden“ – wie sich Lezama selbst einmal nannte – zu nähern. Die Literaturfreaks sind entzückt, wenn zeitgenössische Schriftsteller wie César López, Pablo Armando Fernández oder auch Reinaldo González im Film auftreten oder sie literarische Anspielungen entschlüsseln. Es ist jedoch zu befürchten, dass diese Momentaufnahmen des 85 Minuten dauernden Filmporträts nicht ausreichen, um einem breiten Publikum den großen Meister von Paradiso näher zu bringen, so die eigentliche Absicht von Piard. 

Vergnüglich hingegen im Kurzfilmbereich die politische Satire Intermezzo von Eduardo del Llano über jemanden, der in einer Sitzungspause von seinen Genossen am Pinkelbecken bearbeitet wird, damit er bei der kommenden Abstimmung nicht wieder die einzige Gegenstimme abgibt.

Bei den cubanischen Produktionen der letzten Jahre fällt die geringe Kommunikation zwischen filmischer und musikalischer Entwicklung Cubas auf. Die Soundtracks bedienen sich wenig des unerschöpflichen musikalischen Reichtums der Insel, von expliziten Musikfilmen natürlich abgesehen. Stattdessen gibt es fett aufgetragene Orchestermusik oder gar elektronisches Zuckerbäckerwerk. Wie gern erinnert man sich dagegegn an Fernando Pérez, der in La Vida es silbar (dt. „Das Leben, ein Pfeifen“) Nummern von Beny Moré und Bola de Nieve als Leitmotive nutzt, oder an J.C. Cremata, der in Nada (2001) kunstvoll einen Mambo einflicht und in Bilder umsetzt. Beide Regisseure filmten gerade und waren daher in diesem Jahr nicht vertreten. 

Die Jury zeichnete Tony Manero vom Chilenen Pablo Larraín mit dem Ersten Preis aus. Der Film wird von manchen als brillante Charakterstudie eines Psychopathen gesehen. Man könnte die Geschichte um den in der Pinochet-Ära lebenden apolitischen Protagonisten, der nur für die Teilnahme an einem Grease-Tanzwettbewerb lebt und mordet, jedoch genauso gut als beispielhaft für den Verfall des Kinos betrachten, dem langsam die Geschichten ausgehen und das sich deswegen immer mehr im Ekel suhlt. 
Leicht irritierend auch der Sonderpreis der Jury für Leonera des Argentiniers Pablo Trapero (Mundo Grua, Familia Rodante), eine brasilianisch-südkoreanisch-argentinische Co-Produktion. Der düstere Gefängnisfilm über eine Insassin, die im Knast auch ihr Kind aufzieht, gewinnt durch weitgehenden Verzicht auf Dialoge eine beobachtende und quasi dokumentarische Qualität, verliert aber in den ersten zwei Dritteln durch das Fehlen von Dramaturgie. Die Szenen stehen nicht in einem inneren Zusammenhang zueinander, sondern werden zufällig und beliebig aneinandergereiht, auch Fehler in der Szenenfolge waren selbst Laien sichtbar. Es stellt sich die Frage, welche Kriterien bestehen, damit ein Film ein internationales Filmfestival eröffnen kann. Überwiegt das Argument eines politisch-korrekten Films über Aspekte der Ästhetik und Technik?

Dabei gab es viele sehenswerte Produktionen. Zum Beispiel La Ventana, das neue Werk des Argentiniers Carlos Sorín (Historias Mínimas), wie immer eine unspektakuläre, sensibel inszenierte und sorgfältig gefilmte Geschichte voller Empathie für ihre Figuren des Alltagslebens, hier für den kranken Protagonisten in seinem Lebensabend. 

Der ohne Zweifel beste venezolanische Filmemacher Alberto Arvelo hat mit Cyrano Fernández, ein Meisterwerk hingelegt, eine Adaption des französischen Dramas Cyrano de Bergerac (1897) von Edmond Rostand. Die gut gefilmte und gespielte Geschichte entspinnt sich vor dem Hintergrund des Widerstands eines barrios gegen die sie beherrschenden, äußerst brutalen und bis an die Zähne bewaffneten Banden. Zu Unrecht ging Arvelos Werk, das den aktuellen Paradigmenwechsel des venezolanischen Films weg von der melodramatischen Telenovela hin zum „echten“ Kino illustriert, in der Preisverleihung leer aus. 

Der ausgezeichnete zweite Preisträger Linha de Passe von Superstar Walter Salles mit Daniela Thomas (Motorcycle Diaries, Centralstation) geht in eine ähnliche Richtung. Der Film besticht mit eindrucksvollen Aufnahmen aus den sozialen Randmilieus von São Paulo, jedes Detail, ob es nun Stadtaufnahmen sind oder ob es die zwischenmenschlichen Beziehungen betrifft, sind meisterhaft dargestellt. Und das Thema, leidenschaftlich wie der Film selbst, dreht sich um den Fußball. Im Mittelpunkt steht die alleinstehende Mutter (großartig von Sandra Corveloni interpretiert) mit ihren vier Söhnen von unterschiedlichen Vätern. Jeder versucht auf seine Weise, sich durch das von Elend und Gewalt geprägte Leben zu schlagen. Es könnte für die in größter Armut und Zerstrittenheit lebende Familie eine Wende bedeuten, als einer der älteren Söhne versucht, in einen Fußballverein aufgenommen zu werden. 

Neben einem solchen Film dieses meisterhaften Regisseurs gingen die Werke weniger bekannter brasilianischer Filmemacher bedauerlicherweise ein wenig unter, so etwa der Debutfilm Quero von Carlos Cortez über den Werdegang eines von seiner Mutter ausgesetzten Kindes mit späterer Verbrecherkarriere, der mit dem phänomenal ausdrucksstarken jugendlichen Hauptdarsteller Maxwell Nascimento brilliert, oder auch der mit dem gleichen Thema der Favela-Sozialisation eines Waisenkindes aufwartende Ultima Parada 174 von Bruno Barreto.

Insgesamt wurden dieses Jahr rund 345 Filme aus Lateinamerika gezeigt. Zum ersten Mal widmete man sich auch dem russischen (sechs Filme), skandinavischen und kanadischen (fünf Filme) und nach langer Abwesenheit auch wieder dem afrikanischen und orientalischen Kinofilm. Insbesondere das afrikanische Kino, das mit acht Filmen teilnahm, fand sehr großes Interesse beim Publikum und in der Presse. Waren auf britischer Seite die Kinostars Mike Leigh (Happy-go-Lucky) und Vanessa Redgrave (The Fever) anwesend, blieb die deutsche Reihe, die im letzten Jahr mit Hanna Schygulla glänzen konnte, dieses Mal ohne Sterne. Die angefragten Doris Dörrie, Hannelore Elsner und Daniel Brühl mussten sämtlich absagen. Eröffnet wurde mit Hausmannskost von Doris Dörrie, doch zur Reihe gehörten mit Am Ende kommen Touristen von Robert Thalheim sowie Wolke 9 von Andreas Dresen auch zwei der zweifelsohne besten deutschen Produktionen der letzten Zeit.

Neben dem umfangreichen Filmangebot fanden außer den üblichen Pressekonferenzen auch Seminare und andere Veranstaltungen zu verschiedenen Themen statt. Eines der großen Ereignisse in dieser Hinsicht war der Besuch von „Gabo“, der in der „Internationalen Filmschule San Antonio de los Baños“ (EICTV) eine zweitägige Filmwerkstatt Cómo contar un cuento (Wie man eine Geschichte erzählt) zum Thema Drehbuch abhielt. García Márquez ist Mitbegründer der Internationalen Filmschule EICTV und leitet diese Werkstatt anlässlich des Internationalen Filmfestivals seit 1986. Dieses Jahr nahmen im geschlossenen Rahmen FilmstudentInnen aus mehren Ländern teil. 

Das Internationale Festival des Neuen Lateinamerikanischen Films in Havanna ist weiterhin ein Tor zur Welt. Den eingangs benannten Schwierigkeiten und dem Trend zur Reduzierung trotzend, ist der Überblick über das Weltkino noch nie so umfassend ausgefallen wie in dieser 30. Auflage.