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Rebellisch, radikal, unabhängig

Abschied von Yessie Macchi (1946-2009)

In den Zeiten des offenen Staatsterrorismus erklärten die Militärs in Uruguay 1973 eine kleine Gruppe von Militanten der Tupamaros zu Geiseln des Staates. Sie sollten ermordet werden, falls die bewaffnete Organisation weitere Aktionen durchführen würde. Die Geiseln wurden unter kaum zu beschreibenden Bedingungen in Verliesen von Kasernen gefangen gehalten. Zu ihnen zählte die damals 26jährige Yessie Macchi. Sie überlebte die ersten Jahre extremer Folter, Isolation, sonstiger Torturen und auch die anschließenden langen Haftjahre. Am 14. März 1985 kam sie mit den letzten politischen Gefangenen frei, die in den Straßen Montevideos von Zigtausenden Menschen mit einem Volksfest empfangen wurden. Yessie Macchi ist am 3. Februar 2009 in Montevideo gestorben.

Alix Arnold
Rolf Satzer

„Ich soll mich hier mit irgendeinem Deutschen treffen.“ Die Stimme hörte sich müde und wenig begeistert an. Sie gehörte zu Yessie, die ich so 1991 kennengelernt habe. Ich hatte in den Räumen von Radio Panamericana im Zentrum von Montevideo schon länger auf sie gewartet. Der Radiosender wurde von den Tupamaros betrieben. Sechs Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur waren die Angehörigen der legendären ehemaligen Stadtguerilla unter die RadiomacherInnen gegangen. Ich war zum ersten Mal in Uruguay und FreundInnen hatten mir gesagt, ich müsste Yessie unbedingt kennenlernen. Da sie jetzt wohl übermüdet war, wollte ich ihr nicht die Zeit stehlen, ein paar Minuten mit ihr reden und wieder gehen. Aber schon in diesen ersten Minuten haben wir angefangen, uns anzufreunden. In den nächsten Stunden haben wir uns in dem kleinen Büroraum viel erzählt, Politisches und Persönliches. Sie hat auch über den Knast gesprochen.

„Wie lange warst du im Knast?“ „14 Jahre.“ Das Gespräch dauerte also länger – und ging in den nächsten Jahren in Uruguay und Deutschland noch oft weiter. Schon in unserem ersten Gespräch hatten wir überlegt, wie wir einen Austausch zwischen den beiden Ländern organisieren könnten. Politisch, kulturell und auf keinen Fall als Einbahnstraße. Im nächsten Jahr kam Yessie auf Einladung des „Solifonds Demokratische Medien“ nach Deutschland. Bei dieser Rundreise, bei politischen Veranstaltungen und privaten Treffen hat Yessie – so wie sie das wollte – sehr unterschiedliche Menschen kennengelernt und viele FreundInnen gewonnen. In den folgenden Jahren hat sich ein reger Reiseverkehr zwischen unseren Welten mit organisierten Austauschprogrammen und vielen politischen Projekten ergeben, an denen Yessie beteiligt war. Es entstanden Unterstützungsprojekte für Basisradios und alternative Medien in Uruguay, ein Buch über die Geschichte politisch gefangener Frauen in Uruguay und ein Film mit Frauen aus Uruguay und Deutschland.1

Yessie wurde 1946 geboren und wuchs in einer gutsituierten Familie auf. In Uruguay gab es damals einen für lateinamerikanische Verhältnisse hohen Lebensstandard und eine breite Mittelschicht. In den 60er Jahren gerät das Land in die Krise. Die sozialen Widersprüche verschärfen sich, Streiks und Proteste nehmen zu. Wie überall auf der Welt diskutieren linke Gruppen über den richtigen Weg zur Revolution. Yessie durchläuft verschiedene Gruppen, beschäftigt sich mit Marx und liest viel. Mehr als die importierten Ideologien interessieren sie soziale Konflikte in ihrer Umgebung, und vor allem möchte sie handeln. Als 20-Jährige schließt sie sich den Tupamaros an, deren Geschichte eng mit den Kämpfen der LandarbeiterInnen verbunden ist. Die MLN-Tupamaros gelten außerdem als die „ErfinderInnen“ des Konzepts Stadtguerilla. Mit ersten Aktionen bewaffneter Propaganda decken sie Korruptionsfälle auf und verteilen LKW-Ladungen erbeuteter Lebensmittel in Armenvierteln.

Yessie arbeitet zu dieser Zeit als Sekretärin bei einem Multi. Das Doppelleben wird zunehmend schwieriger. 1968 geht sie nach Cuba, kann aber schon nicht mehr legal zurückkehren. Nach einem Jahr reist sie mit gefälschten Papieren ein und geht in den Untergrund. Die Situation im Land hat sich zugespitzt, auf Seiten der Bewegung hat es erste Tote gegeben. Aus der Robin-Hood-Guerilla ist eine bewaffnete Organisation geworden, in der Yessie eine führende Position einnimmt. Im September 1969 wird sie zum ersten Mal verhaftet, als sie in Montevideo im Arbeiterstadtteil La Teja Flugblätter auslegt. Es geht darin um eine Entführung, mit der die Tupamaros einen Streik bei den Banken unterstützt hatten. Ein halbes Jahr später gelingt ihr mit zwölf weiteren Frauen die Flucht. Um gemeinsam in die Knastkapelle mit Außentür zu kommen, hatten die Tupamaras als Kirchenchor geprobt. Am 8. März 1970 nutzen sie die Messe, um mit Unterstützung von außen zu fliehen.

Ende Mai ist Yessie an einem intelligent geplanten Überfall auf die Marine-Kaserne CIM beteiligt. Ohne einen Schuss abzugeben setzen die Tupamaros die anwesenden Militärs außer Gefecht und erbeuten ein riesiges Waffenarsenal. Zwei Monate danach wird der FBI-Agent Dan Mitrione entführt und später erschossen. Mitrione war als Entwicklungshelfer getarnt nach Uruguay gekommen, um dort u. a. Polizisten und Militärs in Foltertechniken zu unterrichten.2 1971 wird Yessie zum zweiten Mal verhaftet. Wieder kann sie nach wenigen Monaten fliehen, diesmal durch einen Tunnel und die Kanalisation. Die Repression hat weiter zugenommen, das Überleben im Untergrund wird schwieriger. Am 13. Juni 1972 spüren die Militärs Yessie und ihren compañero in einem Versteck auf. Sie ist im dritten Monat schwanger. Bei der Schießerei wird sie verletzt, durch die Schläge bei der Festnahme erleidet sie noch auf dem Weg zum Militärhospital eine Fehlgeburt, und dort erfährt sie, dass ihr Freund erschossen wurde. Wegen eines komplizierten Beinbruchs wird sie bis zur Brust eingegipst. Sieben Monate verbringt sie so, in völliger Isolation. Danach folgt eine Phase von Folter in verschiedenen Kasernen, bis sie ins Frauengefängnis verlegt wird.

Über alle Organisationsgrenzen hinweg schaffen es die 172 dort gefangenen Frauen, sich gegenseitig zu stützen und erste Protestaktionen zu machen. Kurz darauf wird Yessie aus dieser Gemeinschaft herausgerissen. Neun Frauen werden zu Geiseln erklärt und besonders harten Haftbedingungen in Kasernen unterworfen. Trotz der Isolation gelingt es Yessie, in der Kaserne La Paloma mit einem compañero in der Nachbarzelle Kontakt aufzunehmen. Sie verständigen sich durch die Zellenwand, führen nächtelange Gespräche, in denen sie sich annähern und schließlich auf die unglaubliche Idee kommen, inmitten von Gewalt und drohendem Tod ein Kind zu zeugen. Tatsächlich finden sie einen Weg, was zu hektischen Reaktionen der Militärs führt, als die Schwangerschaft bekannt wird: Ihr gesamtes Sicherheitssystem ist offenbar unterlaufen worden. Sie foltern den compañero monatelang, ohne herauszukriegen, wie die beiden zusammenkommen konnten. Yessie und das Kind überleben diese Situation wohl nur, weil sie den Militärs klar macht, dass ihr Fall im Ausland von Menschenrechtsorganisationen beobachtet wird. Die Militärs kommen zu dem Schluss, dass Frauen nicht für eine Haft in Militärkasernen geeignet sind. Die Geiselhaft der Frauen endet 1976. Nach dreieinhalb Jahren werden sie in den Knast zurückverlegt.

Yessies Tochter Paloma wird im Knast geboren. Neun Monate bleiben sie zusammen. Dann muss Yessie eine weitere Trennung verkraften, ohne zu wissen, ob sie ihre Tochter jemals in Freiheit sehen wird. Auch Palomas Vater kann sich nach seiner Haftstrafe nicht um sie kümmern. Nach der Folter hat sich bei ihm aus einem Geschwür Krebs entwickelt. Er stirbt 1980. In dieser Zeit kommt die Macht der Militärs immer stärker ins Wanken. Sie verlieren eine Volksabstimmung, mit der sie ihre Herrschaft legitimieren lassen wollen. Eine breite Volksbewegung erzwingt das Ende der Diktatur und die Freilassung aller politischen Gefangenen. Am 1. März 1985 übergeben die Militärs die Macht an eine zivile Regierung. Die überlebenden Tupamaros reorganisieren sich, jetzt als legale Bewegung. Ihren Weg ins Parlament, den sie später antreten, sind jedoch nicht alle mitgegangen. Nach der staatlich verfügten Schließung von Radio Panamericana 1994 hat Yessie in alternativen Medienprojekten wie COMCOSUR und im sozialen Bereich gearbeitet, mit Mädchen aus Armenvierteln. Sie hat sich weiter eingemischt und kein Blatt vor den Mund genommen, z.B. wenn ihre ehemaligen GenossInnen auf dem Weg in höchste Staatsämter ihre eigene Vergangenheit verleugneten. Für eine (selbst-)kritische Diskussion ihrer damaligen Politik war Yessie immer zu haben. Aber nicht für billige Distanzierungen. Sie stand bis zuletzt dazu, dass sie damals die Revolution machen wollten und dass diese Zeit trotz allem eine der besten und intensivsten in ihrem Leben war.

Yessie war eine Rebellin. Mit vorgegebenen Verhältnissen und Rollen hat sie sich nicht abgefunden, auf gesellschaftlicher Ebene ebenso wenig wie im Privaten. So wie sie sich gegen das Frauenbild in politischen Organisationen oder in der Guerilla gewehrt hat, so hat sie später versucht, gegen den Mythos der heroischen Tupamara anzukämpfen. Yessies Eigenständigkeit, ihre undogmatische und radikale Art, haben Begegnungen und Diskussionen mit ihr zu einem Vergnügen gemacht. Für ihr rebellisches Leben hat sie einen hohen Preis bezahlt. Unvorstellbare psychische Belastungen, Schmerzen und die Trauer über den Verlust ihr nahestehender Menschen musste sie im Knast jahrelang verdrängen. Sie haben sie später eingeholt. Nach der Freilassung ging der Kampf weiter: gegen die körperlichen und seelischen Folgen, gegen die Schatten der Vergangenheit. Die (selbst)-zerstörerischen Folgen der Repression waren bei den ehemaligen Gefangenen immer wieder Thema. Viele sind an Krebs gestorben. Auch Yessie musste sich in den letzten Jahren mit dieser Krankheit auseinandersetzen. Sie hat dagegen angekämpft, aber auch extrem weiter gelebt – mit allen Konsequenzen für sich selbst und mit schwierigen Momenten für ihre FreundInnen.

Yessie ist als Tupamara zur Legende geworden. Hat sie nun letztendlich verloren und mit ihrem viel zu frühen Tod dafür bezahlt, dass sie vor 40 Jahren am falschen Ort aufs Ganze gegangen ist, weil es ihr um alles oder nichts ging? Die Frage lässt sich mit einer hier leicht veränderten Gegenfrage von Eduardo Galeano beantworten. In einem ähnlichen Zusammenhang hat er sie auf den Menschen bezogen, der weltweit zum größten Mythos geworden ist, den Lateinamerika hervorgebracht hat. Die Frage passt auch zu Yessie und den vielen anderen: „Ist sie gescheitert, weil sie sich im Ort, im Zeitpunkt, in der Geschwindigkeit und in der Handlungsweise irrte? Oder ist sie nie und nirgends gescheitert, weil sie sich nicht irrte in dem, was wirklich zählt, zu jedem Zeitpunkt und an jedem Ort, in jeder Geschwindigkeit und für jede Art des Handelns?“ Wie wir, ihre vielen unterschiedlichen FreundInnen, das beantworten, ist klar. VIVA YESSIE PARA SIEMPRE !!!

  • 1. Solidaritätsfonds Demokratische Medien in der Welt: www.solifonds.de. Film „... und plötzlich sahen wir den Himmel“, Uruguay, Deutschland 1997, 102 min., interoceana video
  • 2. Der legendäre Film von Costa-Gavras „Der unsichtbare Aufstand“ (1972) hat diese Entführung in aller Welt bekannt gemacht.