ila

Vom Wunsch, an Liebe zu sterben

Abschied von der uruguayischen Lyrikerin Idea Vilariño (1920-2009)
Erich Hackl

Von all den großen, kühnen, unbeugsamen Dichterinnen, die Lateinamerika hervorgebracht hat, war sie die bedeutendste und, trotz ihrer selbstgewählten Abgeschiedenheit und der Rigorosität ihres Schaffens, auch die populärste: Idea Vilariño, die 1920 in Montevideo geboren wurde, als zweitälteste Tochter eines, wie sie schreibt, verliebten und in seine Kinder vernarrten Paares: „Er ein Dichter und Anarchist; sie eine gebildete und unersättliche Leserin – Eigenschaften, die fünf intelligente, künstlerisch talentierte Kinder erben werden: Alma, Idea, Azul, Poema, Numen.“ Schon als Fünfjährige hatte Idea Gedichte verfasst, bei denen es ihr weniger auf den Inhalt, vielmehr auf Rhythmus und Metrik ankam. Aber bereits die ersten „erwachsenen“ Gedichte, die sie mit siebzehn schrieb, verraten ihre Fähigkeit, Zweifel und Leidenschaft miteinander zu verschmelzen, und die Ernsthaftigkeit, mit der sie sich mitzuteilen vermag. Dichtung sei kein Spiel, sondern „eine Aufgabe, die das Leben verzehrt“. 

Sie unterrichtete Literatur, redigierte die Zeitschrift Número, Organ der sogenannten Generation von 1945, die das intellektuelle Leben Uruguays nachhaltig geprägt hat, und schrieb für die Wochenzeitung Marcha, die bis zu ihrem Verbot durch das Militärregime, 1974, das wichtigste Forum für lateinamerikanische Intellektuelle war, stellte die Mitarbeit aber für lange Zeit ein, nachdem sich der Herausgeber Carlos Quijano geweigert hatte, ihr Gedicht El amor wegen dieser für unsittlich gehaltenen Verse abzudrucken: „Heute ist die einzige Spur ein Taschentuch/ das jemand vergessen verwahrt/ ein Taschentuch mit Blut Sperma Tränen/ das gelb geworden ist.“ 

Obwohl sie als Parteigängerin der Tupamaros gefährdet war, weigerte sich Idea, das Land während der Diktatur zu verlassen. Schon zuvor hatte sie Liedtexte geschrieben, die den Aufbruch der radikalen Linken mit Zuversicht begleiten. Interpretiert von Musikern wie Alfredo Zitarrosa, Daniel Viglietti und dem Duo Los Olimareños, sind sie rasch zu Volksliedern geworden. Nur wenige wissen, dass Los orientales, die Hymne des rebellischen Uruguay, von Idea stammt, und wer es weiß, staunt über die Kunst dieser einsamen und um Einsamkeit ringenden Frau, Sehnsucht und Entschlossenheit vieler Menschen glaubhaft auszudrücken.

Idea hat zeitlebens wenig veröffentlicht. Im Grunde sind es nur vier Gedichtsammlungen, die – erstmals zwischen 1955 und 1980 erschienen – ihren Ruhm begründet haben: Nocturnos; Poemas de amor; Pobre mundo; No. Immer wieder aufgelegt und von der Autorin verknappt, korrigiert und neu gereiht, zirkulieren sie auch als Raubdrucke. Dazu kommen einzelne Gedichte auf Lesezeichen, Schlüsselanhängern und Plakaten, in Filmspulen und als erstaunlich dauerhafte Graffiti an Hauswänden. Idea Vilariño ist der seltene Fall einer Dichterin, die von immer neuen Generationen entdeckt und erkannt wird, trotz der Stille, die um sie ist. 

Wie kommt es, hat die Kritikerin Carina Blixen einmal gefragt, dass ihre Gedichte einen so sehr berühren und ergreifen, wo sie doch derart skeptisch, asketisch, spröde sind. Aber die Verwunderung über den scheinbar schroffen Gegensatz von Reduktion und Emotion trägt die Antwort auch schon in sich: Es ist die Intensität dieser Gedichte, die sie einzigartig und unentbehrlich machen, dank der Konzentration auf das gerade noch Sagbare, des Verzichts auf Ausschmückung wie Anekdote, des Misstrauens gegenüber der Metapher, des sparsamen Umgangs mit Adjektiven, der Überzeugung, dass jedes Gedicht nur einen Gedanken verträgt, und nicht zuletzt dank der Bereitschaft ihrer Verfasserin, die großen Themen, um die es ihr geht: Liebe, Verlassenheit, Tod, ehrlich und illusionslos anzugehen, aufrichtig sich selbst gegenüber, zugleich „voll Feuer/ lebendig/ von einem Leben, das danach giert/ jede Grenze zu überschreiten/ zärtlich/ bis zur Erschöpfung innig“.

Lange Jahre hat Idea Vilariño in einer Wohnung im Stadtteil Malvín zugebracht, inmitten von Büchern, Katzen und Arzneien, ist spät aufgestanden, hat die Nächte durchwacht, Verse auf ein Blatt geschrieben, verworfen, neu geschrieben. Dort hatte ich sie auch, Anfang der neunziger Jahre, kennengelernt; ich war mit der Absicht nach Montevideo gereist, der Verfasserin der „Liebesgedichte“, in denen ihre ebenso stürmische wie qualvolle Beziehung zu ihrem Landsmann und Schriftstellerkollegen Juan Carlos Onetti aufgehoben ist, für ihr Werk zu danken, nicht mehr. Aber die angemessene Art, einem Dichter, einer Dichterin Dankbarkeit zu erweisen, besteht darin, die Verse weiterzutragen, und das heißt auch, sie in die eigene Sprache zu übertragen. Bei diesem Vorhaben haben mich Peter Schultze-Kraft und Dorothee Engels begleitet. Den Titel unseres Auswahlbandes, „An Liebe“, fanden wir in einem Gedicht mit dem schlichten Titel Canción, „Lied“: Ich möchte sterben/ jetzt/ an Liebe/ damit du wüsstest/ wie und wie sehr ich dich geliebt habe./ Ich möchte sterben/ möchte ich/ an Liebe/ damit du wüsstest.“1

Die letzten Monate verbrachte Idea Vilariño, bettlägrig und müde geworden, in einem Pflegeheim. Dort habe ich sie, im November des Vorjahres, noch einmal besucht. Wir wussten beide, dass wir uns nicht wiedersehen würden. Trotzdem hat mich die Nachricht von ihrem Ableben – heute, am 28. April – wie ein Schlag getroffen.

  • 1. Der zweisprachige Gedichtband „An Liebe“ von Idea Vilariño ist 2005 in der Bibliothek Suhrkamp erschienen und noch lieferbar (129 Seiten, 11,80 Euro). Die deutsche Übersetzung haben Peter Schulze-Kraft, Erich Hackl und Dorothee Engels besorgt.