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Argentinische Realitäten

Die Erzählungen Luisa Valenzuelas
Gerhard Hammerschmied

Seit den Zeiten Jorge Luis Borges' ist es mit der Rezeption argentinischer Literatur im deutschsprachigen Raum nicht gut bestellt. Nun liegt aber mit einer klugen Auswahl von Erzählungen einer ihrer bedeutendsten Vertreterinnen – Luisa Valenzuela – ein Buch vor, das einen Blick in ihr Werk gewährt, eine Welt voller Überraschungen, phantasievoll, traurig manchmal, doch niemals ohne Humor und kritische Selbstreflexion, voll sprachlicher Eleganz, die niemals Selbstzweck ist. So ist ihre Sicht der argentinischen Lebensumstände zwar schonungslos der Redlichkeit einer Intellektuellen verpflichtet, aber doch barmherzig.

Argentinien, das ist uns großteils Tango, Che Guevara, Evita, Machismo, Steak – und Cordoba 1978.1 Und doch auch Buenos Aires. Wer mag sich da an General Videlas dunkle Sonnenbrille erinnern, die die gnadenlosen Augen eines Diktators verdeckte, der das Verschwinden Tausender RegimegegnerInnen veranlasste und die Verzweiflung und Empörung ihrer Angehörigen im Rausch der Fußballbegeisterung zu ersticken suchte. Esquivels Friedensnobelpreis, Puenzos mit einem Oscar prämierter Film Historia oficial und vielleicht Polanskis „Der Tod und das Mädchen“ sind noch – für uns – einigermaßen lesbare Wegmarken dieses tragischen Abschnitts argentinischer Geschichte.

Im Jahr 1990 meinte man ein Gesetz erlassen zu müssen, das einen Schlussstrich ziehen sollte unter all diese Gräueltaten der Militärdiktatur, indem es alle dafür Verantwortlichen begnadigte. Zum Entsetzen der Überlebenden und Angehörigen der Opfer, aber auch derjenigen, die sich mit ihnen solidarisierten. Woran ließe sich dieser Skandal besser ablesen als an einer Auflistung der „Wohnorte“ des besagten Generals. Und, ehrlich gesagt, hatte man auch etwas mehr Spott als Mitgefühl für die sozial Schwächsten auf den Lippen angesichts dessen, dass dieses Land von einer wirtschaftlichen Krise in die andere fiel. Wie ist diese Situation anders zu ertragen als mit schwarzem Humor, Phantasie und mit Tango!

Mit eleganten Tangoschritten werden wir somit in das Buch eingeführt, als rhythmisches Einschwingen in eine Lebenswelt, wo sich innerhalb präziser und doch leichtfüßiger Situationsschilderungen erst durch den Akt des Lesens eine neue Dimension erschließt.2 Wie soll man sie bezeichnen, ohne sie zu zerschreiben? Politisches Statement, Kampf für die Gleichberechtigung der Frau, ja gewiss, aber es ist immer mehr als das, keinesfalls jedoch Unergründlichkeit als Pose und wenn schon … Doch davon wird noch zu reden sein.

Der darauffolgende Abschnitt des Buches führt uns in eine erfrischend humorvolle Parodie der Märchenwelt; kein Stein eines Zauberschlosses bleibt auf dem anderen. So erzählt sie von zwei Schwestern, die eine voller Liebreiz, die andere ihrem Schicksal ergeben: „Und so kam es, dass ich jetzt allein im Wald lebe und aus meinem Mund Frösche und Schlangen kommen. Ich habe es nie bereut: Denn jetzt bin ich Schriftstellerin.“

Der Grundton der Erzählungen, die der Sammlung „Waffentausch“ entnommen sind, ist deutlich und direkt politisch und trägt die Narben der Jahre der Gewalt. Laura, die Protagonistin der Geschichte, die der Sammlung ihren Namen gab, lebt in einem goldenen Käfig – und nach und nach werden an ihm und in ihm Spuren eines ganz anderen Gefängnisses deutlich. Selbstverständlich haben wir es hier mit, erzähltechnisch gesehen, kunstvoll verwobenen Textsträngen zu tun, doch welche Fassung soll man der Liebe in Zeiten der Beschwichtigung geben? Valenzuela verschränkt Begehrlichkeiten, Trauma und Alltag und vermeidet es so, sichere Perspektiven vorzutäuschen, die Linien ziehen könnten zwischen der Trauerarbeit und dem Alltag, der das zukünftige Grauen in sich trägt. Und dann erst die Gleichzeitigkeit, die die Chronologie der laufenden Ereignisse hin zu einer Albtraumarbeit des Chronischen durchbricht – bis an einen Punkt, der den Frauengestalten neue Spielräume des Handelns eröffnet. 

Der Mitgeselle der Diktatur, der Laura aus den Fängen der Peiniger befreit (aus Herablassung, aus Lust...), sucht angesichts der sich ändernden politischen Verhältnisse das Weite. „Er zuckt mit den Schultern und dreht sich, wie so viele andere Male auch, auf den Fersen um und geht zur Ausgangstür. Sie sieht diesen Rücken, der sich entfernt, und es ist, als ob sich in ihrem Inneren der Nebel ein wenig lichtete. Sie beginnt einiges zu begreifen, begreift vor allem die Funktion dieses schwarzen Instruments, das er Revolver nennt. Und da erhebt sie ihn und zielt.“ Weil sie verlassen wird, weil sie sich rächen will, an ihm, an sich selbst? Wer weiß...

Bis zur Ekstase steigert sich das Erzähltempo, die Intensität der Gestaltungsmittel, in dem den Band abschließenden Kurzroman „Argentinische Bettrealitäten“. Manches an persönlichem Erleben Valenzuelas aus der Zeit unmittelbar nach ihrer Rückkehr aus dem US-amerikanischen Exil ist in diesen Text eingeflossen. Erschöpfung, Schuldgefühl, Allzuvertrautes bis zur Fremdheit, das Besitz ergreift, schonungslos. Loszuschreibendes, von den tiefsten Winkeln des Empfindens her. Ein Landhaus, ein Truppenübungsplatz, der Umsturz. Man fühlt sich an Fernando Arrabals Picknick im Felde erinnert, an Kafka – und an eine Realität, die es dennoch zu gestalten gilt. Und am Ende auch ein Tango... darin ein Innehalten zwischen zwei Figuren des vereinten Unvereinbaren. Hervorzuheben ist schließlich die gelungene Arbeit der Übersetzerinnen, die einen guten Weg zwischen Texttreue und Kreativität gefunden haben.

Luisa Valenzuela: Feuer am Wort. Erzählungen, Übersetzung: Helga Lion, Erna Pfeiffer, Julia Schwaighofer, Eva Srna und Birgit Weilguny, Edition Milo im Drava Verlag/Zalozba Drava, Klagenfurt/Celovec, 2008  291 Seiten, ISBN: 978-3-85435-558-8 Preis: Euro 24,80

  • 1. Bei der Fußball-WM 1978 unterlag der amtierende Weltmeister BRD am 21. Juni in Córdoba der österreichischen Auswahl mit 2:3, ein Datum, an das in Österreich bis heute gerne gedacht wird, während es von bundesdeutschen Fußballfans lieber verdrängt wird.
  • 2. Die Erzählung „Tango“ von Luisa Valenzuela ist in der Übersetzung von Erna Pfeiffer in der ila 226 (Juni 1999) erschienen.