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Ist Versöhnung möglich, wenn der Krieg nicht zu Ende ist?

Interview mit Eduardo Pizarro Leongómez, Präsident der kolumbianischen Versöhnungskommission CNRR

Die kolumbianische Comisión Nacional de Reparación y Reconciliación, kurz CNRR, wurde als staatliche Versöhnungskommission 2005 im Rahmen des „Gesetzes für Gerechtigkeit und Frieden“ eingesetzt, das den juristischen Rahmen für den Demobilisierungsprozess der paramilitärischen Gruppen bildet. Aufgabe der Kommission ist es, die Teilnahme der Opfer bei der juristischen Aufklärung und der Durchsetzung ihrer Rechte zu sichern, die Demobilisierung und Wiedereingliederung von Mitgliedern bewaffneter Gruppen kritisch zu verfolgen und darüber Bericht zu erstatten. Darüber hinaus soll sie Empfehlungen für eine angemessene Wiedergutmachungspolitik geben und ein nationales Klima der Versöhnung herstellen. Große Aufgaben, die Kommissionen mit vergleichbarem Auftrag in anderen Ländern erst angegangen sind, als dort die Militärdiktaturen, Bürgerkriege oder, wie im Falle Südafrikas, die Apartheid beendet waren. Der seit über vierzig Jahren andauernde Konflikt in Kolumbien ist jedoch noch längst nicht überwunden. Das macht die Arbeit der dortigen Kommission besonders problematisch. Jutta Bangel sprach darüber mit deren Präsidenten, dem Politologen Eduardo Pizarro Leongómez.

Jutta Bangel

Herr Pizarro, wie geht die Kommission (CNRR) mit dem Dilemma um, dass sie in einem noch laufenden bewaffneten Konflikt Wiedergutmachung und Versöhnung zwischen Tätern und Opfern voranbringen soll?

Das ist tatsächlich eine komplizierte Aufgabe, weil wir nicht nur den Blick auf die Opfer von gestern richten, sondern auch die Opfer von morgen verhindern müssen. Wir stehen also mit einem Bein in der Vergangenheit, bezüglich der Wiedergutmachung der Opfer von gestern, und mit dem anderen Bein, mit Blick auf die Versöhnung zwischen den KolumbianerInnen, versuchen wir Opfer von morgen zu verhindern. Das unterscheidet unser Unterfangen fundamental von den Erfahrungen in Chile, Argentinien oder auch in Südafrika. 

Vier Schlagworte bestimmen die Arbeit der CNRR: Wahrheit, Gerechtigkeit, Versöhnung und Wiedergutmachung...

Sprechen wir zuerst von der Wahrheit. Es ist eine große Herausforderung, die Wahrheit über das Geschehene zu rekonstruieren. Die Opfer wollen vor allem Antworten auf die klassischen Fragen jeder Wahrheitskommission: Was ist passiert? Warum ist es passiert? Wer ist verantwortlich für das Geschehene? Wir sind dabei, Teile der Wahrheit über Massaker, Verbrechen durch sexuelle Gewalt, Antipersonenminen und über Morde an afrokolumbianischen und indigenen Gemeinden anhand von zehn exemplarischen Episoden zu rekonstruieren. Bis 2011 wollen wir einen abschließenden Bericht dazu vorlegen, eine Art kolumbianischen Nunca más, wie ihn Ernesto Sábato über die Verbrechen der argentinischen Militärdiktatur geschrieben hat. 

Es geht also nicht um die ganze Wahrheit des kolumbianischen Konfliktes? 

Wir maßen uns nicht an, die eine einzige Wahrheit rekonstruieren zu können. Es wird vielmehr ein historischer Bericht, der den Opfern Erkenntnisse darüber bringen soll, was passiert und warum es passiert ist. Uns geht es dabei nicht nur um eine geschichtliche Aufarbeitung, sondern um Vorschläge für institutionelle Reformen, damit sich das Geschehene in Zukunft nicht wiederholt. 

Wie geht die Kommission bei der Wahrheitsfindung mit jenen Akteuren des Konfliktes um, die im Rahmen des „Gesetzes für Gerechtigkeit und Frieden“ nicht berücksichtigt werden, wie zum Beispiel die Streitkräfte oder Drogenbosse, die ebenfalls für zahlreiche Verbrechen an der Zivilbevölkerung verantwortlich sind?

Unsere Arbeit bezieht sich in erster Linie auf die Opfer von Mitgliedern bewaffneter Gruppen, die sich entweder im Namen der Aufstandsbekämpfung illegaler Methoden bedient haben (also die Paramilitärs – d. Red.) oder aber zur linken Guerilla gehörten, die staatliche Institutionen mit politisch-revolutionär motivierter Gewalt umstürzen wollten. Zwischen beiden Gruppen gibt es eine Grauzone, in der zahlreiche bewaffnete Gruppierungen agierten. Sie alle sind für Morde und Vertreibungen von Bauernfamilien verantwortlich, um sich deren Land anzueignen. Das hatte keinen explizit politischen Hintergrund. 

Das sehen Opferverbände und Menschenrechtsgruppen allerdings anders. Sie meinen, dass die Opfer von gewaltsamen Vertreibungen infolge der militärischen Aufstandsbekämpfung ebenfalls im Wiedergutmachungs- und Versöhnungsprozess berücksichtigt werden müssen.

Das ist ein berechtigtes Anliegen. Dennoch müssen wir den Kreis der Opfer einschränken. Sonst wäre eine Wiedergutmachungspolitik sehr schwierig, weil sie dann alle Personen einbeziehen müsste, denen der bewaffnete Konflikt in Kolumbien jemals Schaden zugefügt hat. Uns ist bewusst, dass die Beschränkung des Opferkreises erhebliche ethische, moralische und politische Kosten hat, vor allem für diejenigen, die nicht als politische Opfer anerkannt werden. Das ist in der Tat ein Dilemma.

Außer diesem Punkt bemängeln Kritiker auch die Ineffizienz des Übergangsgesetzes Justicia y Paz, auf dem ja letztlich auch die Arbeit der Kommission beruht. Von rund 35 000 Demobilisierten seien bislang nur knapp 3600 im Programm für Gerechtigkeit und Frieden erfasst. Und nur gegen einen Bruchteil von ihnen wurde oder wird aktuell ermittelt. Was sagen Sie zu diesem mageren Ergebnis?

Wenn das Gesetz allein vor dem Hintergrund der erreichten Verurteilungen betrachtet wird, kann man es nur als gescheitert bezeichnen. Dabei gebe ich zu bedenken, dass auch der Haager Strafgerichtshof nach seiner Gründung sieben Jahre gebraucht hat, bevor er den ersten Prozess gegen einen Guerillaführer aus dem Kongo eröffnen konnte. Aktuell laufen Untersuchungen gegen elf Personen, von denen nur fünf inhaftiert sind. Und das erste Urteil im Fall von Jugoslawien hat zehn Jahre gedauert.

Sie wollen doch wohl die Prozesse des Internationalen Strafgerichtshofes nicht mit dem Verfahren von Justicia y Paz vergleichen? Abgesehen davon hat dieses Gesetz in Kolumbien bislang nicht zu einer einzigen rechtskräftigen Verurteilung geführt.

Das ist richtig, dennoch sind die bislang erreichten Zahlen von großer Bedeutung: Immerhin wurden in seinem Rahmen 32 000 Paramilitärs kollektiv demobilisiert. 90 Prozent ihrer ranghöchsten Anführer, d.h. 23 von 25 führenden Köpfen, sind verhaftet oder in die USA überstellt worden. 700 Befehlshaber der mittleren Ebene sind in Haft. Außerdem wurden bislang bereits 1700 Aussagen gemacht, weitere 700 Anhörungen sind im Gange.1 Insgesamt sind bis jetzt von den Paramilitärs 25000 Morde zugegeben worden. Ohne die Anhörungen und die Strafmilderung, die das Übergangsgesetz 975 für die Geständigen vorsieht, hätte der völlig überlastete kolumbianische Justizapparat vermutlich Jahrzehnte gebraucht, um diese 25 000 Morde aufzuklären und die Verantwortlichen zu identifizieren. Natürlich geht das viel langsamer, als es die Opfer wünschen. Aber ich schätze das bislang Erreichte bei weitem nicht so negativ ein, wie es die kolumbianischen Menschenrechtsorganisationen tun. 

Sind in nächster Zeit Urteile zu erwarten?

Wir rechnen in diesem Jahr mit 40 bis 80 Verurteilungen. Wenn wir das mit Chile, Uruguay oder Argentinien vergleichen, sind 80 Urteile weit mehr, als im gesamten Cono Sur nach 25 Jahren erreicht wurden. 

Wie kommen Sie auf die Zahl von 40 bis 80 Verurteilungen, wo es doch in den letzten fünf Jahren nicht ein einziges Urteil gegeben hat?

Auf Empfehlung des Haager Gerichtshofes werden wir in Kolumbien jetzt ebenfalls mit Teilanklagen beginnen, einem Verfahren, wie es im internationalen Strafrecht in den Fällen von Jugoslawien, Ruanda oder auch Sierra Leone bereits angewandt wird. 

Was heißt das konkret? 

Das bedeutet, dass wir beispielsweise einem Paramilitär nicht alle 2000 Morde nachweisen müssen, für die er verantwortlich ist. Dafür würden wir 30 Jahre brauchen. Für seine Verurteilung würde es ausreichen, wenn wir Beweise und Zeugenaussagen für einen oder zwei Morde vorlegen können. Diese Urteilsfindung auf Grundlage von Teilanklagen wird das ganze Verfahren ungemein beschleunigen.

Bleibt dabei nicht das Recht etlicher Opfer auf Entschädigung auf der Strecke?

Dieses Risiko gehen wir in der Tat ein. Auch die Menschenrechtsorganisationen argumentieren, dass ein/e RichterIn, der/die einen Paramilitär bereits für einen oder zwei Morde verurteilt hat, später nachgewiesene weitere Morde des Angeklagten nicht mehr berücksichtigen wird. Dadurch würden die Opfer dieser Verbrechen möglicherweise in ihrem Rechtsanspruch auf Wiedergutmachung geschädigt. Da befinden wir uns in einem ungeheuren Dilemma zwischen dem Rechtsanspruch der Opfer und dem Anspruch der Justiz auf Strafverfolgung.

Wie steht es denn um die Wiedergutmachung und Entschädigung der Opfer, was hat die Kommission da bislang erreicht?

Was die materielle Wiedergutmachung angeht, so standen uns im vergangenen Jahr 100 Millionen US-Dollar zur Verfügung, mit denen wir 11 000 Opfer entschädigt haben. In diesem Jahr haben wir 150 Mio. Dollar, damit werden wir etwa 18 000 Opfer materiell entschädigen können. (Es gibt bisher ca. 250 000 Anträge von Opfern – Anm. d. Red.) Wenn ich das mit dem Opferfonds des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag vergleiche, zu dessen Vorstand ich gehöre, dann stehen mir hier in Bogotá etwa 25 mal mehr Mittel für die materielle Opferentschädigung zur Verfügung als in Den Haag. Dort habe ich für die Opferentschädigung in ganz Afrika gerade mal 7 Mio. Euro gegenüber 150 Mio. Dollar für die Opfer hier in Kolumbien! 

Aber es geht ja nicht nur um materielle Entschädigung, sondern auch um die Anerkennung von Schuld und Verantwortung, vor allem auf staatlicher Seite.

Da stimme ich Ihnen teilweise zu. Im Fall von Chile und Argentinien war der Staat vollständig für die Menschenrechtsverbrechen verantwortlich. Im Fall von Kolumbien erscheint es mir wichtig, dass der Staat dort Verantwortung übernimmt, wo staatliche Akteure in Verbrechen verwickelt sind.

Wofür es ja Beweise gibt: Etlichen ParlamentarierInnen und führenden PolitikerInnen wurde ihre Verwicklung in Verbrechen von paramilitärischen Gruppierungen nachgewiesen. Dafür sitzen einige heute im Gefängnis.

Natürlich muss der Staat um Vergebung bitten für die Verbrechen, die seine Agenten begangen haben. Aber genauso müssen die Guerillagruppen FARC und ELN und die Paramilitärs ihren Teil der Verantwortung übernehmen und um Verzeihung bitten für ihre Verbrechen. Es kann nicht sein, dass nur der kolumbianische Staat in die Verantwortung genommen wird.

Opferverbände und Menschenrechtsgruppen kritisieren, dass die Kommission in ihren Berichten nur dokumentiert, was ohnehin schon weitgehend bekannt sei. Wie arbeiten Sie denn mit diesen Organisationen beim Erarbeiten der historischen Wahrheit zusammen? 

Noch einmal: Wir sind der Überzeugung, dass es die eine einzige historische Wahrheit nicht gibt, dass sie auch nicht wünschenswert ist. Wir glauben vielmehr, dass es in einem demokratischen Staat verschiedene Wahrheiten gibt, die auf der Grundlage gemeinsamer ethischer Werte miteinander in Dialog treten. Wir werden es also mit vielen verschiedenen Wahrheiten über das zu tun haben, was in Kolumbien geschehen ist: die Wahrheit der Opferbewegung MOVICE, die Wahrheit der (staatlichen) CNRR. Es geht darum, ein Land zu schaffen, in dem verschiedene Auffassungen von Wahrheit friedlich nebeneinander bestehen bleiben.

So wie die unterschiedlichen Auffassungen zwischen CNRR und Teilen der Zivilgesellschaft über die Weiterexistenz und Neubildung von paramilitärischen Gruppierungen trotz ihrer offiziell proklamierten vollständigen Demobilisierung? 

Bei jeder Demobilisierung kriegführender oder in bewaffnete Konflikte verwickelter Parteien gibt es einen Anteil von Demobilisierten, die in die Kriminalität abgleiten. Das ist auf der ganzen Welt so, auch in Kolumbien. Diese Kriminellen weiterhin mit dem politisch geprägten Begriff des Paramilitarismus zu bezeichnen, ist absurd und trägt nur dazu bei, den politischen Konflikt zu verlängern. Die Verbrechen dieser Leute sind rein krimineller Natur. Das hat keinerlei politischen Hintergrund im Sinne des Gesetzes für Gerechtigkeit und Frieden. Die NRO sollten sich endlich eines anderen Vokabulars für diese Kriminellen bedienen.

Was hat Ihrer Meinung nach die Versöhnungskommission in den fünf Jahren ihrer Existenz erreicht?

Wir haben erreicht, dass jetzt ein Opferbegriff existiert, der vorher in der kolumbianischen Vorstellungswelt nicht vorkam. Als sich die Guerillabewegungen in den 90ern demobilisierten, die M-19, die EPL und andere, da hat niemand nach den Opfern gefragt. Die existierten im öffentlichen Bewusstsein gar nicht. Die Friedensverhandlungen waren eine Angelegenheit zwischen dem Staat und seinen Widersachern. Und jetzt, nur zehn, fünfzehn Jahre später, gibt es plötzlich einen neuen Akteur in der kolumbianischen Realität, und das sind die Opfer und ihre Rechte. Der Rechtsanspruch der Opfer ist jetzt auf der öffentlichen Agenda. Das ist ein außergewöhnlicher Erfolg. Heute haben die Opfer eine Stimme, sie sind organisiert und kämpfen für ihre Rechte – sowohl auf juristischem wie auf sozialem Gebiet.

Und wo sehen Sie die größten Herausforderungen für den Versöhnungsprozess in der Zukunft?

Es gibt zahlreiche große Herausforderungen, eine davon ist finanzieller Natur. Es ist nicht das Gleiche, eine begrenzte Anzahl von Opfern zu entschädigen, wie in Chile oder Argentinien, oder es mit der ungeheuren Zahl von drei bis vier Millionen Opfern zu tun zu haben. Die einzige vergleichbare Herausforderung war die deutsche Wiedergutmachung. Auch gibt es eine große Herausforderung für die staatlichen Institutionen und die kolumbianische Rechtsprechung, gegen 3600 Personen Prozesse zu führen und dabei das Recht der Angeklagten ebenso zu wahren wie das der Opfer. Eine weitere Herausforderung besteht darin, dass die Vertriebenen auf ihre Ländereien zurückkehren können und das Verlorene wiederbekommen. Und letztlich steht der Staat vor der ungeheuren ethischen Herausforderung, seine Verantwortung sowohl für seine Taten als auch für seine Unterlassungen anzuerkennen und die Opfer dafür um Verzeihung zu bitten.

  • 1. Die Opferbewegung MOVICE kommt auf weniger eindrucksvolle Zahlen. Sie spricht in einer Studie von nur knapp 700 demobilisierten Paramilitärs, die bis heute den gesamten Prozess im Rahmen des Justicia y Paz-Gesetzes durchlaufen haben. Mehr als 1100 vom Gesetz 975 anerkannte Ex-Paramilitärs seien nach ersten Aussagen aus dem Verfahren ausgestiegen. Niemand wisse, ob sie der normalen Strafjustiz überstellt wurden oder gar völlig straffrei ausgehen.

Das Gespräch mit Eduardo Pizarro Leongómez führte Jutta Bangel Ende Februar in Bogotá. Jutta Bangel ist freie Journalistin und hat in Kolumbien den Demobilisierungsprozess der Paramilitärs untersucht.