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Ein etwas anderer Entwicklungsroman

„Mestizo – Der Weg des David Schnaiderman“ von Ricardo Feierstein
Gert Eisenbürger

Der Bildungsroman ist ein klassisches Genre der europäischen Literatur. Erzählt wird darin, wie die – in der Regel männliche – Hauptfigur nach vielerlei Irrungen und Konflikten ihren Platz in der bürgerlichen Gesellschaft findet. Im Grundsatz gilt dieses Modell auch für den Roman „Mestizo – Der Weg des David Schnaiderman“ des 1942 geborenen jüdisch-argentinischen Autors Ricardo Feierstein. Doch bei dem genannten Buch ist vieles anders. Der „Held“ David Schnaiderman begegnet uns nicht als unangepasster Jugendlicher, sondern als arbeitsloser Soziologe und Familienvater um die vierzig in Buenos Aires. Beim Überqueren einer belebten Straße rutscht er aus und stürzt, verletzt sich dabei am Kopf und wird dann Zeuge eines Mordes. Der Schock löst bei ihm einen Gedächtnisverlust aus. Das Handlungsgerüst des Romans ist die Darstellung seiner Bemühungen, diese Amnesie zu überwinden.

Anhand alter Fotos, bruchstückhaft zurückkommender Erinnerungen, einer Psychotherapie und Gesprächen mit Weggefährten rekonstruiert er Stück für Stück seine Geschichte und die seiner Familie. Die führt ihn zunächst in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg in ein Dorf bei Lemberg in der Grenzregion zwischen dem damaligen russischen und dem österreichisch-ungarischen Reich. Dort lebten seine Vorfahren als arme jüdische Schneider. War deren soziale Situation schon prekär genug, wurde sie während des Ersten Weltkriegs und in den Jahren danach immer unerträglicher. Denn zu Hunger und Entbehrungen kamen Übergriffe der unterschiedlichen Truppen, die wegen des wechselnden Frontverlaufs durch das Dorf kamen und es bei ihren Rückzügen immer wieder neu verwüsteten. Doch damit nicht genug, manifestierte sich der Nationalismus des neu entstandenen polnischen Staates nach dem Krieg in wiederholten Angriffen und Pogromen gegen Juden. Obwohl sich die Vorfahren David Schnaidermans, vor allem sein Großvater, aber auch dessen Söhne, nichts gefallen ließen, sahen sie langfristig keine Perspektive mehr in Polen. Nach und nach emigrierte fast die gesamte Familie in Richtung Argentinien, wo die Männer sofort begannen, wieder als Schneider zu arbeiten. Als Zulieferer von Fabriken und Konfektionsgeschäften waren sie nun aber eher Proletarier denn selbstständige Handwerker. Entsprechend engagierten sie sich in jüdisch-sozialistischen Organisationen. Im Laufe der Jahre wurden sie selbst kleine Geschäftsleute und kamen zu bescheidenem Wohlstand. David Schnaiderman wurde bereits in Argentinien geboren, wuchs in diesem Einwanderermilieu auf, besuchte als erstes Familienmitglied eine weiterführende Schule und später die Universität.

Bis dahin liest sich das Buch über weite Strecken wie ein Stück Zeugnisliteratur: Eine reale Person erzählt ihre Geschichte in einer konkreten sozialen Realität, hier der osteuropäischen Juden, die aufgrund der erlittenen Verfolgung nach Argentinien emigrierten, um dort ein besseres Leben, d.h. physische Sicherheit und materiellen Wohlstand zu finden. Verstärkt wird der Eindruck eines Zeugnisromans noch durch alte Familienfotos aus Polen und der ersten Zeit in Argentinien.

Doch dann verändert sich das Panorama. In dem Maße, wie Schnaiderman Freunde und Nachbarn aus seiner Kindheit und Jugend aufsucht, wird die Geschichte geheimnisvoll. Es stellt sich heraus, dass er die Ermordete, eine 42jährige Frau libanesischer Herkunft, kannte. Sie war eine Nachbarin aus dem barrio, dem Viertel, in dem er seine Jugend verbracht hatte, und war zeitweilig die Geliebte seines besten Freundes León. Als dieser dann noch des Mordes verdächtigt und verhaftet wird, gerät die Identitätssuche der Hauptfigur zu einer kriminalistischen Recherche. Hat der Mord möglicherweise politische Hintergründe? Hat sein Freund, der wie David selbst als Jugendlicher in zionistischen Organisationen aktiv war und zeitweilig in Israel lebte, Kontakt zu rechten israelischen Kreisen? Was hat Ignacio, ein anderer Jugendfreund und inzwischen ultrareligiös, damit zu tun? Kennt der Sohn der Ermordeten, der sich einer militant-palästinensischen Kulturgruppe angeschlossen hat, den Täter und plant Rache? Zudem wird klar, dass die Geschichte 1983 spielt, also am Ende der letzten argentinischen Militärdiktatur, zu deren bewaffneten GegnerInnen die Tochter des Mordopfers gehörte.

David Schnaiderman versteht, dass es für ihn nicht nur darum geht, seine Identität wieder zu finden. Er muss sich überhaupt erst klar werden, wer er ist und wohin er gehört. Nach Israel? Nach Argentinien? Kann er überhaupt zu sich finden, bevor er seine Angst überwindet und politisch Position bezieht?

„Mestizo – Der Weg des David Schnaiderman“ ist ein enorm vielschichtiges Buch über die Probleme der zweiten Generation von MigrantInnen, über jüdisches Leben, die Beziehung zwischen gesellschaftlicher Ausgrenzung und selbstbetriebener Marginalisierung, die Rolle der Intellektuellen in gewalttätigen Verhältnissen und die Verzweiflung von Menschen, die keinen Boden unter den Füßen finden. Trotz dieser sehr unterschiedlichen Reflexionsebenen kommt der Roman nicht als philosophisches oder soziologisches Traktat daher, sondern als spannende Geschichte. Zu diesem Lesevergnügen trägt sicher die gute Übersetzung Reiner Kornbergers bei, der auch das informative Nachwort verfasst hat. Ach ja, der Mord ist am Ende mehr oder weniger aufgeklärt, aber das ist nicht das Wichtigste. 

Ricardo Feierstein: „Mestizo – Der Weg des David Schnaiderman“, Übersetzung: Reiner Kornberger, Donat-Verlag, Bremen 2010, 224 Seiten, 16,80 Euro