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Die Neugründung Boliviens?

Ein Sammelband zur Umbruchsituation in Bolivien unter der Regierung Morales
Zeljko Crncic

Den konfliktiven Transformationsprozess in Bolivien nimmt der von Tanja Ernst und Stefan Schmalz herausgegebene Sammelband Die Neugründung Boliviens? Die Regierung Morales auf vielfältige Weise unter die Lupe. Das Land hat mit der Verfassunggebenden Versammlung einen neuartigen Prozess der staatlichen Umgestaltung begonnen, der umso erstaunlicher ist, als es sich um ein ökonomisch armes Land handelt, das zwischen 1986 und 2004 8,5 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes (BIP) aus Zuwendungen internationaler Organisationen bezogen hat. Die in dem Band versammelten AutorInnen beleuchten die komplexen Umwälzungsprozesse aus verschiedenen Perspektiven.

Dabei wird zunächst in unterschiedlichen Beiträgen ein differenzierter Blick auf die Arbeit und die Strukturen der Verfassunggebenden Versammlung geworfen. Oscar Vega entwickelt im ersten Beitrag des Bandes eine von indigenen Vorstellungen geprägte Sicht des Verfassungsprozesses und seiner Ziele (S. 17ff). Für ihn ist die Ausarbeitung der Verfassung ein kollektiver Suchprozess. Das Ergebnis sollte ein Staat sein, der um indigene Elemente des sozialen Miteinanders erweitert wäre. Der Artikel ist aufschlussreich, denn er konfrontiert europäische LeserInnen mit einer anderen, von der vorherrschenden Denkweise differierenden Weltsicht, die, es soll hier nicht verhehlt werden, nicht leicht nachzuvollziehen ist. Diese alternativen Vorstellungen kommen allzuoft, trotz gut gemeinter Absichtserklärungen, zu kurz. Sich mit ihnen auseinanderzusetzen ist allemal interessant.

Die beiden folgenden Aufsätze beschäftigen sich mit den juridischen und technischen Details des verfassunggebenden Prozesses. Stefan Jost kritisiert die Art der Durchführung des Reformprojektes der regierenden „Bewegung zum Sozialismus“ (MAS). Er beanstandet die ungenauen Definitionen von „Bürger“, „Nation“ und „Nationalität“. Er unterstellt der MAS historischen Revanchismus und beschwört die zeitweise Gefahr eines Bürgerkrieges, ohne dass er dabei die Verursacher nennt, die mehrheitlich der Opposition angehörten. Hier wäre zu fragen, ob nicht ein Verfassungsprozess, der eine europäische Hegemonie abschütteln möchte, vom Autor mit eben diesen europäischen Maßstäben gemessen wird und ob auf diese Weise ein solch negatives Urteil zustande kommt.

Jonas Wolff vergleicht den ersten Verfassungsentwurf von 2007 mit der endgültigen Version, die im Januar 2009 mehrheitlich angenommen wurde (S. 47ff). Der Autor weist sehr zu Recht darauf hin, dass sich widersprüchliche Prinzipien in der Demokratie nicht einfach zu einem „harmonischen Engelskreis addieren“. Das große Verdienst des Artikels ist es, auf die spannungsreiche Beziehung zwischen den verschiedenen Prinzipien von Gleichheit und Freiheit oder von der Artikulation der Mehrheit und dem Minderheitenschutz aufmerksam zu machen, Fragen, die über den vorliegenden Fall hinaus von hoher politischer und ethischer Brisanz sind.

Almut Schilling Vacaflor analysiert in Anlehnung an Konzepte Pierre Bourdieus die konkreten Aushandlungsmechanismen innerhalb der Verfassunggebenden Versammlung (S. 57ff). Anschaulich beschreibt sie, wie Formen des Rassismus und der Ungleichheit während des Prozesses fortgeschrieben wurden. Gut geschulte Angehörige der Mittel- und Oberschicht dominierten die Entscheidungsfindung und verwiesen immer wieder auf technokratische sowie juridische Zwänge, die eine alternative Entscheidungsfindung erschwerten. Um politische Gegner mundtot zu machen, wurde auch schon mal auf blanken Rassismus zurückgegriffen und der „India“ das Sprechen verboten. Der Beitrag verdeutlicht eindringlich den Habitus der verschiedenen VertreterInnen und gibt so einen Einblick in die Schwierigkeiten des politischen Alltags, die mit der Erringung einer elektoralen Mehrheit noch lange nicht überwunden sind. Auf diese Weise wird dem Leser jenseits theoretischer Debatten ein Einblick in die Niederungen der real existierenden Politik gegeben. Interessant wären hier etwaige Vorschläge zur Überwindung dieser nicht nur in Bolivien zu beobachtenden Missstände gewesen.

Im zweiten Teil des Buches befassen sich die AutorInnen mit strukturellen Fragen. Fabiola Escárzaga beschreibt die Position der sozialen Bewegungen (S. 79ff), Ana Maria Isidoro Losada die im östlichen Tiefland entstandenen Oppositionsblöcke (S. 95ff) und Isabella Margerita Radhuber beschäftigt sich mit der Erdgaspolitik (S. 109ff).

Tanja Ernst fokussiert in ihrem Beitrag die Verschränkung von Ethnizität und der historisch gewachsenen Ungleichheit in Bolivien (S. 125ff). In ihrem Artikel beschreibt die Autorin empirisch gesättigt anhand verschiedener soziostruktureller Aspekte – wie dem Zugang zum Arbeitsmarkt, zur Bildung, zur Gesundheits- oder Trinkwasserversorgung – die prekäre Lage indigener Frauen und Männer. Dabei geht sie auch auf die angestrebten Verbesserungen ein, die die Regierung Morales auf den genannten Feldern begonnen hat. Es wäre in diesem Zusammenhang interessant zu erfahren, wie die initiierten Maßnahmen von internationalen Institutionen bewertet werden. Auch müssten dem Datenmaterial Befunde aus den Empfängergemeinden gegenübergestellt werden. Allgemein zeigt der Beitrag anschaulich die Bemühungen der Regierung auf, den Wahlversprechungen von Inklusion und Anerkennung bisher benachteiligter gesellschaftlicher Sektoren auch Taten folgen zu lassen. 

Im dritten Teil liegt der Fokus auf inneren Politikfeldern. Luz María Calvo geht auf die Ressourcen- und Umweltpolitik ein (S. 155ff), Juliana Ströbele-Gregor auf die Landfrage (S. 141ff) und Andreas Hetzer auf die Situation der Medien (S. 171ff). 

Der Sammelband wird von einer Analyse der Außenpolitik abgerundet. Stefan Schmalz beschreibt die außenpolitische Umorientierung Boliviens unter Evo Morales (S. 219ff). Es wird der Kurswechsel der Regierung Morales nachvollzogen, weg von den traditionellen Alliierten wie den USA, hin zu einer diversifizierteren Politik, die eine starke Zusammenarbeit mit Venezuela und Kuba beinhaltet. In diesem Zusammenhang wäre es nötig gewesen, die Veränderungen in den Politikmustern der neuen Alliierten noch genauer zu zeigen, stellt sich doch die Frage, warum beispielsweise das sozialdemokratische Brasilien mit seinen handfesten ökonomischen Interessen auf längere Sicht eine gleichberechtigte Zusammenarbeit mit dem ärmeren Nachbarn anstreben und der Versuchung der Dominanz widerstehen sollte. Auch die Politiken Kubas oder Venezuelas hätten stärker unter interessenpolitischen Aspekten thematisiert werden können.

Der von Tanja Ernst und Stefan Schmalz herausgegebene Band bietet einen detaillierten und vielschichtigen Zugang zu einem Land, dem außerhalb interessierter Kreise zu Unrecht wenig Aufmerksamkeit zuteil wird. Es ist der erste deutschsprachige Sammelband zu diesem Thema. Hilfreich wäre gewesen, ihn um Interviews oder Zeugnisse der am Wandel Beteiligten zu ergänzen. Eine Reportage aus El Alto, aus einer andinen Landgemeinde oder dem oppositionellen Tiefland hätte den Eindruck vertieft. Auch wären die Autoren auf diese Weise dem Ideal einer an der Basis orientierten Erzeugung von Wissen noch besser gerecht geworden. Trotz dieser Einwände trägt das Buch ganz sicher zum besseren Verständnis der vielfältigen Prozesse eines Landes bei, das sich in einer fundamentalen Umbruchsituation befindet. Bolivien steht somit paradigmatisch für andere Länder der Region, in denen ähnliche Prozesse angestoßen wurden. Dem Land in dieser Weise die nötige Aufmerksamkeit zu widmen ist das Hauptverdienst des Sammelbandes.

Tanja Ernst und Stefan Schmalz: Die Neugründung Boliviens? Die Regierung Morales. Baden-Baden,  Nomos Verlagsgesellschaft 2009, 236 Seiten, 34 Euro