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Wo die Menschen kämpfen

El Sur – Eine Zeitung an der Seite der Menschen in Guerrero/Mexiko

Guerrero, Bundesstaat im Süden Mexikos, hat hierzulande nicht die Aufmerksamkeit gefunden wie Chiapas – durch das Auftauchen der Zapatisten im Jahr 1994 – oder Oaxaca – durch den Aufstand im Jahr 2006. Wer mehr über diese Region wissen will, als der Tourismus in Acapulco und Zihuatanejo bietet, kommt an einer Quelle nicht vorbei: der Tageszeitung El Sur. Seitdem die Journalisten Maribel Gutiérrez und Juan Angulo Osorio 1993 das Abenteuer eingegangen sind, ohne finanzielle Absicherung und ohne politische Rückendeckung dort eine lokale Zeitung ins Leben zu rufen, hat ihre präzise und unerschrockene Berichterstattung dem Projekt weithin Anerkennung verschafft und ist den Machthabern ein Dorn im Auge. Die beiden Herausgeber des Blattes haben kürzlich Deutschland besucht und über ihre Zeitung und die Konflikte in Guerrero berichtet. Harald Ihmig nutzte die Gelegenheit zu einem langen Gespräch mit den beiden KollegInnen.

Harald Ihmig

Für Maribel Gutiérrez (M) und Juan Angulo Osorio (J) ist Guerrero noch etwas anderes als ein Bundesstaat unter der Herrschaft von Kaziken und deren politische und militärische Komplizen, wo Jahr für Jahr 70 000 der gerade einmal drei Millionen BewohnerInnen aus der Armut in vermeintlich reichere Regionen Mexikos oder in die USA zu fliehen suchen. Es ist für sie ein Ort, „wo die Leute kämpfen“. Und El Sur haben die beiden ins Leben gerufen als eine Zeitung, „in der diejenigen in Guerrero, die kämpfen, sich gespiegelt sehen sollten“ (M). Diesen Leuten in zahlreichen sozialen Organisationen, zu einem Teil auch in bewaffneten Widerstandsgruppen, eine Stimme zu geben, für ihre Menschenrechte einzutreten und die an ihnen begangenen Massaker aufzuklären, war von Anfang an das Leitmotiv. „Unsere Absicht war, eine Zeitung zu machen, die sich auf ihre Leser stützt. Im allgemeinen leben die journalistischen Unternehmen in Mexiko nicht durch ihren Journalismus, sondern durch die Regierungen, sie leben nicht durch ihre LeserInnen.“ (M) 

Es ist den PRI-Gouverneuren, aber auch dem nachfolgenden PRD-Gouverneur nicht gelungen, diese unliebsame Stimme zum Schweigen zu bringen, weder durch Anzeigen- und Verteilungsboykott, noch durch direkte Attacken. „Das Grundproblem Mexikos ist, dass der Gouverneur eine absolute Kontrolle über die Kommunikationsmedien hat, die journalistischen Räume des Fernsehens, des Radios und der Printmedien. Wir haben uns diesem Muster entzogen.“ (J) Die Nähe zur Landbevölkerung und die entschiedene Ausrichtung auf die Menschenrechte sind Charakteristika ihrer journalistischen Arbeit geblieben. „Damals gehörten einige Kollegen und ich zur ersten Generation von Journalisten, die damit anfingen, die Menschenrechtsthemen zum Gegenstand ihrer Berichterstattung zu machen.“ (M) Sie sehen darin keinen Konflikt mit der Verpflichtung zur Objektivität, „ganz im Gegenteil: Nach unserer Erfahrung nährt sich die journalistische Objektivität immer von dem Engagement für universale Werte.“ (M) Die Zusammenarbeit mit dem etwa gleichzeitig gegründeten Menschenrechtszentrum Tlachinollán besteht bis heute. Die Beziehung zur großen kritischen Tageszeitung La Jornada in der Hauptstadt, wo es Juan zuvor schon bis zum Chefredakteur gebracht hatte, ist unbeständiger. Ohne Geld, bedroht von politischer Repression, hat El Sur dennoch durch die Unterstützung ihrer zahlreichen Gesellschafter und Leser überlebt.

Investigativer Journalismus ist die Passion von Maribel Gutiérrez. Sie hatte ihn schon in der Zeitung Uno Más Uno (ebenfalls in der Hauptstadt) praktiziert, bis Präsident Carlos Salinas das Blatt mundtot gemacht hatte. Sie hat keines der in Guerrero von Kaziken und Staatsgewalt begangenen Massaker, ebenso wenig die um sie herum gelagerten politischen Morde aus ihren Untersuchungen ausgespart. Angefangen hat sie mit dem Einsatz des Militärs gegen die Guerilla von Lucio Cabañas und Genaro Vásquez im sog. „schmutzigen Krieg“ der 60er und 70er Jahre. Für ihre Untersuchung des Blutbads von Aguas Blancas (1995), wo der Gouverneur Rubén Figueroa Alcocer, Prototyp des skrupellosen, ökonomisch und politisch mächtigen Kaziken, 17 wehrlose Bauern einer gegen ihn gerichteten Organisation erschießen ließ, und der Kette von ca. 40 nachfolgenden politischen Morden erhielt Maribel den Courage in Journalism Award der International Women's Media Foundation.

Sie verfolgte das Wiederauftreten der ERP-Guerilla (1996) und die Exekution von elf schlafenden oder verwundeten Bauern durch Militär nach einem Treffen mit ERP-Guerilleros in El Charco (1998). Sie weiß, warum die Indigenen im Landkreis von Ayutla – Me'phaa und Mixteken – bis heute verfolgt und zwei ihrer Anführer liquidiert wurden: „Ich glaube, dass die sozialen Bewegungen, die am gründlichsten das herrschende politische und ökonomische System in Frage stellen, die Indigenen sind. Sie vertreten einen anderen Typ der Beziehung zwischen Gesellschaft und Macht, deshalb werden sie von den Machthabern als sehr gefährlich angesehen.“ Sie hat den Kampf der campesinos ecologistas in der Sierra de Petatlán gegen den Kahlschlag der Wälder und ihre Verfolgung als angeblich terroristische Organisation von den Anfängen bis heute aus der Nähe begleitet. Sie wagt sich selbst an Ort und Stelle, um die besonders gefährdeten lokalen Korrespondenten zu schonen. Und sie war die erste, die den Zusammenhang mit der Ermordung von Digna Ochoa herstellte und, als sich die Staatsanwaltschaft der Hauptstadt bereits der bequemeren Konstruktion eines Suizids zugewandt hatte, im Milieu der Killer recherchierte und die vermutlichen Mörder Dignas identifizierte; zudem machte sie deren Auftraggeber, den gefürchteten Kaziken und Mitglied des Drogenkartells Sinaloa, Rogaciano Alba Álvarez, und dessen Verbindungen zum Militär publik. Die Aufklärung blieb der journalistischen Recherche vorbehalten, denn „es gibt zwar viele Zeugen, aber niemand, der untersucht… Das einzige, was die Staatsanwaltschaft angeblich tat, war eine Untersuchung über die Kaziken von Guerrero, insbesondere Rogaciano Alba, einzuleiten, aber nur um damit von den Hinweisen auf die Armee abzulenken. In Wirklichkeit müsste die Untersuchung beide zusammen betreffen, denn beide Spuren sind ein und dieselbe!“

Gewaltstrukturen machen Guerrero seit Jahrzehnten zu schaffen, Maribel hat darüber ein Buch geschrieben. Sie haben sich jedoch auch gewandelt. „Guerrero ist traditionell ein Staat mit viel politischer Gewalt gewesen: Die Leute kämpfen und die Machthaber widersetzen sich diesem Kampf mit Morden, Massakern, Einkerkerung der Gegner und diese Situation dauert an bis jetzt. Guerrero ist ein sehr armer Staat mit starken sozialen Gegensätzen, großer Ungleichheit, wenigen sehr reichen Reichen und vielen sehr armen Armen. In diesem Kontext werden Herrschaftsverhältnisse generiert, die man getrost Kazikentum nennen kann. Sie bestehen in Guerrero fort. Vielleicht gibt es keine Massaker mehr wie in der Vergangenheit, aber es gibt weiterhin politische Morde. Es war die Partei PRI (langjährige Regierungspartei – die Red.), die hinter all diesem Blutbad, der gesamten Repression steckte. Aber als 2005 erstmals eine PRD-Regierung an die Macht kam, hörte die politische Gewalt nicht auf.“ (J)

Dutzende der lokalen Anführer der PRD (ehemals sozialdemokratische Oppositionspartei, inzwischen Teil des korrupten Machtklüngels – die Red.), der Präsident des lokalen Parlaments, Chavarría, sowie Anführer der Indigenen wurden ermordet. „Die PRD hat eine Akte über ungefähr 50 Kämpfer, die in der sechsjährigen Regierungszeit von Zeferino Torreblanca ermordet wurden. Das macht deutlich, dass es ein strukturelles Problem gibt: In Guerrero werden politische Differenzen und Klassengegensätze bis heute noch mit Waffengewalt geregelt, obwohl es reguläre Wahlen gibt, obwohl es einen formell funktionierenden Kongress gibt und obwohl es scheinbar eine freie Presse gibt.“ Laut Maribel folgt die Auseinandersetzung einem einfachen Schema: „In Guerrero gibt es Leute, die glauben, dass die Gewalt ein legitimer Weg ist, um ihre Leben zu verändern. Normalerweise war das Schema der Machtgruppierungen, der Allianzen, die es vor zehn Jahren in Guerrero gab, so: Es gab zwei politische Parteien; die PRI war auf Seiten der Kaziken einzureihen und wenn sie Leute von der Basis hatten, waren es bezahlte Leute, die nicht aus eigenem Antrieb dabei waren. Auf der anderen Seite gab es die PRD, die die sozialen Bewegungen auf ihrer Seite hatte, die für ihre Sache kämpften. Auch die Armee war seit der Guerilla von Lucio Cabañas immer da. Seit dem Wiederauftauchen der Guerilla in Chiapas im Jahr 94 und mehr noch in Guerrero im Jahr 1996 hat sie ihre Präsenz verstärkt. Die Armee stand immer auf Seiten der Politiker, der PRI-Leute, der Machthaber.“ (M) „Da es kaum Schulen, Gesundheitszentren oder andere soziale Investitionen gibt, ist das, was die Leute von der Bundesregierung sehen, die Armee.“

Im Jahr 2005 erreichte die Gewalt eine neue Qualität, als in Acapulco zwei enthauptete Polizisten zur Schau gestellt wurden. Fortan hatten wir es mit einer neuen Art der Gewalt, der narcoviolencia, Gewalt, die vom Drogenhandel ausgeht, zu tun. Schon vorher gab es die Komplizenschaft und Vermischung von Drogenhändlern, Kaziken, Politikern und Armee. Schon vorher wurden in Guerrero Marihuana und Klatschmohn angebaut, aber nicht im großen Stil gehandelt. „Alles kommt von draußen. Es ist eine unberechenbare, bewaffnete Macht, eine unvorstellbare Gewalt. Ich glaube, dass es nie in irgendeinem Land der Welt, in keinem historischen Moment einen so schlimmen, so grausamen Ausdruck von Gewalt gegeben hat wie das, was jetzt in Mexiko vor sich geht.“ (M) Jeden Tag gibt es Tote, man braucht nur El Sur an einem beliebigen Tag aufzuschlagen. „Viele von diesen Toten sind Killer (sicarios), die ihrerseits andere umgebracht haben, aber man weiß nicht wen, weil diese Verbrechen nicht untersucht werden.“(M) Unter den Toten sind Unschuldige, aber viele sind auch Opfer und Täter zugleich, mehrheitlich aus Guerrero, ein Anstreicher, ein Handwerker, ein Taxifahrer, ein Student, ein Freiberufler. „Sie nehmen sie unter Vertrag, sie rekrutieren sie an Ort und Stelle und nach einer Weile bringen sie sie um.“ Die Kartelle sind aber keine isolierten, sondern politisch integrierte Mörderbanden. Der angebliche Kampf gegen sie sei „eine Farce. Der Drogenhandel in Mexiko wird von den politischen Machthabern kontrolliert.“ (J) Sie benutzen die Killer, um politische Verbrechen zu begehen. „Es gibt einen Punkt, wo die beiden Arten der Gewalt zusammenfließen.“ (M) Die Politik partizipiert am Kreislauf des schmutzigen Geldes. „Die Politiker sind habgierig und von der Gesellschaft isoliert, niemand mag sie. Die einzige Form, wie sie überleben können, bietet das Geld. Die Leute gehen nicht zu den Wahlurnen. Die zur Wahl gehen, gehen hin, weil man ihnen ihre Stimme abgekauft hat.“ (J) 

Außer der alten Kazikenherrschaft und der neuen Mafiokratie gibt es noch eine andere ökonomische Macht in Guerrero, die der transnationalen Konzerne. Sie sind es, die von den Megaprojekten wie Autobahnen, Tunnels, Staudämmen, Bergwerken Abholzungen, der touristischen Erschließung, häufig in indigenen Territorien, profitieren. „Das ist ein mächtigerer Block als der der sogenannten lokalen Kaziken. Dieser existiert zwar weiterhin, ist aber schwach im Vergleich zur Macht des internationalen Kapitals, das die Politik aller Parteien lenkt, nicht nur der PRI und der PAN (heutige konservative Regierungspartei – die Red.), sondern auch die PRD selbst, die keine Politik hat, die darüber hinausginge, sich dagegen stellte und eine Kehrtwendung bewirkte…Es fehlt eine radikale Opposition von Grund auf. Die Unternehmer haben in die Kandidatur von Calderón (derzeitiger Präsident) investiert und eine nationale Kampagne gegen López Obrador (Gegenkandidat von Calderón und Sprecher des linken Flügels der PRD – die Red.) organisiert. In diesem Sinne haben wir eine schwache Regierung, total im Dienst der Unternehmer. Und die glauben, dass das Problem in Mexiko nicht der Neoliberalismus sei, sondern ein Zuwenig davon…Die Regierung privatisiert alle öffentlichen Dienstleistungen, den gesamten öffentlichen Haushalt. Sie stellt alles in den Dienst der Unternehmen, praktisch den ganzen Staat.“ (J)

Die beiden kämpferischen JournalistInnen sind häufig Bedrohungen ausgesetzt. Im November 2010 wurde die Redaktion von El Sur in Acapulco von Bewaffneten überfallen. Juan wird bedroht, seit er die Ermordung von Armando Chavarría vor der Wahl in Verbindung mit dessen Engagement für die indigene Bewegung in Ayutla und die Aufklärung der Morde an ihren Anführern Raúl Lucas Lucía und Manuel Ponce Rosas brachte und damit ein politisches Motiv nahelegte. „Die Armee im besonderen und die Bundesregierung im allgemeinen sehen in der indigenen Bewegung eine potenziell subversive Bewegung, die, wenn sie stärker würde, alle Machtverhältnisse umstürzen würde.“ (J) Dieser Tage wurde ein Redakteur auf offener Straße überfallen und sollte vermutlich entführt werden. Maribel und Juan werden dennoch ihrer Linie treu bleiben, mutig, bangend und voller Hoffnung: „In Guerrero leben sehr arme Leute, die von mächtigen Kaziken unterdrückt wurden, aber es gab immer Menschen, die sich nicht aufgegeben haben, sie nähren unsere Hoffnung auf Veränderung.“ (M)