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Das schlimmste Verbrechen ist das Schweigen

Das Permanente Völkertribunal (TPP) blickt auf Mexiko
Gerold Schmidt

Es ist mehr als eine Ironie der Geschichte: 1981 hielt das Permanente Völkertribunal (TPP) seine Sitzungen über die in El Salvador im Rahmen der Aufstandsbekämpfung verübten Menschenrechtsverletzungen in Mexiko ab und wurde von den dortigen Behörden unterstützt. 30 Jahre später stehen Mexikos Machteliten selbst am Pranger. Das TPP eröffnete am 21. Oktober auf dem Gelände der mexikanischen Nationaluniversität UNAM das Kapitel Mexiko. Zwei Jahre lang hatten soziale Bewegungen Überzeugungsarbeit beim Tribunal leisten müssen. Kein einfaches Unterfangen. Denn es gibt praktisch kein internationales Menschenrechtsabkommen, das Mexiko nicht unterschrieben hat. Dazu hat es eine Tradition als Asylland für politisch Verfolgte. Das internationale Image des Landes ist weiterhin nicht schlecht, selbst wenn die von der Regierung so genannten Kollateralschäden des „Drogenkrieges“, der seit 2006 schon über 50 000 Tote gekostet hat, im Ausland Besorgnis wecken.

Dennoch ließen sich die Mitglieder des Tribunals überzeugen. Bis voraussichtlich Ende 2013 oder Anfang 2014 ist nun Zeit, die krude Realität des Landes anhand verschiedener Themenfelder aufzuzeigen. Dann werden die Schlussanhörung des TPP und ein Urteil erfolgen. Mit dem späten Termin soll vermieden werden, dass das Tribunal für Wahlkampfzwecke instrumentalisiert wird. Im Sommer 2012 stehen in Mexiko Präsidentschafts- und Parlamentswahlen an.

Das TPP wurde 1979 in Italien gegründet. Es steht in der Nachfolge der Russell-Tribunale, die von 1966 bis 1967 die US-Verbrechen im Vietnamkrieg aufarbeiteten, von 1974 bis 1976 über die lateinamerikanischen Diktaturen Gericht hielten und 1977/78 die politische Repression in der BRD untersuchten. Dem Völkertribunal gehören 130 oft hochrangige Mitglieder aus aller Welt an. Sie werden vom Vorstand der „Lelio-Basso-Stiftung für Menschenrechte und Freiheit der Völker“ ernannt. Seit 1979 hat das TPP in verschiedenen Ländern 35 Sitzungen durchgeführt. Es verschreibt sich dabei der Aufgabe, als ständige Instanz den Völkern, die Opfer von Menschenrechtsverletzungen wurden, eine Stimme zu geben und begangene Verbrechen sichtbar zu machen.

Die Urteile des TPP haben keinen bindenden Charakter. Deshalb wird es auch als Ethik- oder Gewissenstribunal bezeichnet. Immer dann, wenn der Rechtsmissbrauch durch den Staat die Verteidigung der Menschenrechte nahezu unmöglich macht und die Versuche der kollektiven und individuellen Opfer, diese Rechte wirksam vor staatlichen Instanzen einzuklagen, scheitern, sieht sich das Tribunal potenziell gefordert. Es geht dabei um eine Hilfestellung, „damit die Wahrheit ans Licht kommt“, wie es TPP-Mitglied Philippe Texier in Mexiko ausdrückte. Texier ist Richter am französischen Kassationsgerichtshof und leitete unter anderem die UN-Ausschuss für die WSK-Rechte. „Das schlimmste Verbrechen ist das Schweigen“, so Texier. In diesem Sinne versteht sich das Völkertribunal auch als ein potenzielles Instrument für soziale Bewegungen, das Schweigen zu durchbrechen.

Die Menschenrechtsverletzungen in Mexiko werden in sieben Schwerpunktbereichen behandelt: 1. Schmutziger Krieg und fehlender Zugang zur Justiz; 2. Migration, Flucht und Vertreibung; 3. Feminizide und Gendergewalt; 4. Gewalt im Arbeitssektor und Verletzung kollektiver Arbeitsrechte; 5. Gewalt gegen die Ernährungssouveränität; 6. Umweltzerstörung; 7. Falschinformation, Zensur und Gewalt gegen Medienschaffende. Möglicherweise wird noch der Punkt „Gewalt gegen die indigene Bevölkerung“ hinzukommen. Dies hängt davon ab, ob auch die aufständischen Zapatisten und der Nationale Indígenarat (CNI) bereit sind, sich am TPP zu beteiligen. Ihre Antwort steht noch aus.

Bei den ersten Anhörungen im überfüllten Auditorium Alfonso Caso der UNAM gaben sieben VertreterInnen aus sozialen Bewegungen einen Überblick zu jedem Schwerpunktthema. Auch ohne Details vermittelten ihre Präsentationen ein erschreckendes Bild. Drogenkrieg, der Umgang mit MigrantInnen und die Feminizide wurden in den letzten Jahren bereits über Mexikos Grenzen hinaus thematisiert. Dagegen werden die anderen Themen weniger schnell mit Mexiko in Verbindung gebracht. Die brutale Aushöhlung der Arbeitsrechte, die zunehmende Zerstörung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft, die massive Umweltzerstörung und die Journalistenmorde sind nur einem kleinen Teil Mexikointeressierter bekannt.

Auf Workshops und regionalen Foren sollen die Informationen über die Menschenrechtsverletzungen in den kommenden zwei Jahren diskutiert und dokumentiert werden. Diese Arbeitsweise macht deutlich, dass es für das breite Bündnis der Gruppen, die das TPP nach Mexiko geholt haben, um eine möglichst umfassende Mobilisierung der verschiedensten Initiativen und den ständigen Austausch geht. Dies wird mindestens so wichtig sein wie das Urteil in gut zwei Jahren.

Es gehört zur Vorgehensweise des Tribunals, den Angeklagten – in diesem Fall der mexikanische Staat – in der Schlussanhörung Gelegenheit zur Stellungsnahme und Verteidigung zu geben. Wie wenig die MexikanerInnen jedoch glauben, dass die politische (und wirtschaftliche) Elite zu einem Umdenken bereit sein könnte, machte Bischof Raúl Vera zum Abschluss der Anhörung deutlich. Vera ist nach dem Tod von Bischof Samuel Ruiz García im Januar 2011 die Symbolfigur für die kritischen Restbestände in der katholischen Kirchenhierarchie und ein Referenzpunkt als soziales Gewissen. Der Bischof geißelte den „despotischen Zynismus, die Habgier und Unehrlichkeit auf allen drei Regierungsebenen“. Mit Bezug auf die Bekämpfung der Drogenkartelle durch die Regierung sprach er von einem „idiotischen Krieg, weil es keine Justiz und keinen Zugang zur Justiz gibt“. Die Militärs hätten in diesem Zusammenhang die „Lizenz zum Töten“.