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Kein Gott, kein Chef, kein Ehemann!

Anarchistinnen in Lateinamerika

Das 1992 in La Paz gegründete feministisch-antirassistische Frauenkollektiv Mujeres Creando hat das Anarchistinnen-Zeichen (das Frauenzeichen mit einem großen A im Kreis) in sein Logo integriert. Mujeres Creando geht es nicht um Frauenquoten oder Gleichstellung, sondern darum, dass Frauen selbst aktiv werden für ein selbstbestimmtes Leben. Dabei sind sehr unterschiedliche Wege für Frauen möglich, es gibt nicht nur ein Frauenbild, sondern die Freiheit, selbst zu bestimmen, was ein Frauenleben ausmacht. Es geht um eine revolutionäre gesellschaftliche Veränderung, die jede Art von Machismo, Caudillismo und Nationalismus ablehnt. Auch im ersten Drittel des letzten Jahrhunderts kämpften in Lateinamerika eine ganze Reihe entschlossener Frauen, die sich als Anarchistinnen bezeichneten, für das Recht auf einen selbstbestimmten Weg abseits der vorgegebenen Pfade von Kirche, Gesellschaft und Staat. Zugleich diente ihr Kampf einer kollektiven Verbesserung der Lage der Frauen und aller Unterdrückten, sie setzten sich solidarisch für eine andere, freiere und gerechtere Welt für alle ein. Einige von ihnen, deren Wirken und Denken vor fast 100 Jahren heute eine erstaunliche Aktualität hat, werden hier vorgestellt.

Laura Held

Wer waren diese Frauen, was trieb sie an und wo lagen ihre Aktionsfelder? Sie schrieben, agitierten, hielten öffentliche Vorträge, gründeten Frauengruppen, streikten und demonstrierten, wurden diffamiert und kamen ins Gefängnis, aber sie lebten ihre Ideen, versuchten gegen die herrschende Moral ihre Liebesbeziehungen zu leben und Kinder großzuziehen, ihren eigenen Weg zu finden und eine neue Welt in der alten zu erfinden. Sie waren klug, stark und mutig, oft Autodidaktinnen und ohne Vorbilder, denen sie folgen konnten oder wollten. Internationale Vorgängerinnen und Bezugspunkte waren Louise Michel (Pariser Kommune) und die russisch-amerikanische Anarchistin Emma Goldmann. Sie glaubten an die Bildung; Bücher und Kultur waren für sie Werkzeuge der Befreiung, die sie für sich und andere anwandten. Viele schrieben auch Prosa, Gedichte, Theaterstücke, die oft mit großem Erfolg in den Stadtvierteln und Volkshäusern aufgeführt wurden.

„Die Regierung und das Kapital brauchen einen Mönch, der die Massen mit dem Kreuz verdummt, einen Richter, der straft und einen Militär, der mordet, wenn sie merken, dass im Volk Bewegung aufkommt…“, schrieb Virginia Bolten (1870-1960) kurz vor 1900. Sie und viele andere lateinamerikanische Anarchistinnen dieser Zeit wurden jahrzehntelang völlig vergessen und erst in den letzten Jahren wiederentdeckt. Sowohl der Anarchismus als auch die freien Frauen werden von der offiziellen Geschichtsschreibung sehr stiefmütterlich behandelt. Virginia Bolten war eine der Herausgeberinnen der ersten anarchafeministischen Zeitung Argentiniens La Voz de la Mujer (Die Stimme der Frau, 1896-1897 Buenos Aires, 1899-1900 Rosario), die unter Arbeiterinnen zirkulierte. Sie stieß auf große Kritik, nicht zuletzt unter den männlichen Anarchisten, die sie als zu radikal empfanden. Diese Zeitung stand unter dem Motto Ni dios, ni patrón, ni marido! (Kein Gott, kein Chef, kein Ehemann!). Dort erschienen u. a. Artikel gegen die sexuellen Übergriffe des Klerus und die unbarmherzigen Nonnen in Schulen und Waisenhäusern („die schmutzige Kleruskloake“), gegen die gewaltsame Aushebung für Kriege weltweit und wütende Anklagen gegen die gewaltsame „Zivilisierung“ der Indígenas. 

Virgina Boltens Leben ist typisch für eine Anarchafeministin, obwohl dieser Begriff erst Mitte der 70er-Jahre entstand. Sie war die Tochter eines nach der Niederschlagung der 48er-Revolution eingewanderten deutschen Arbeiters und einer einheimischen Farmerstochter. Viele AnarchistInnen hatten ebenfalls zumindest einen aus Spanien, Italien oder einem Nachbarland eingewandertes Elternteil. Die MigrantInnen brachten nicht nur anarchistische und sozialistische Ideen mit, sondern auch den Wunsch nach einem anderen, besseren, freieren Leben und den Willen, dafür zu kämpfen. 

Virginia wurde 1870 in Uruguay – andere Quellen sprechen von San Luis in Argentinien – geboren. Nach der Trennung der Eltern zog die Mutter nach Rosario, damals wegen seiner kämpferischen Bewohnerschaft das „Barcelona Argentiniens“ genannt. Virginia lebte dort mit Unterbrechungen 15 Jahre und wurde wegen ihres Redetalents und ihres kämpferischen Auftretens zu la Luisa Michel rosarina, die Louise Michel von Rosario. Sie fing mit 15 Jahren an zu arbeiten, u.a. in einer Schuhfabrik und später in der Zuckerfabrik Refinería Argentina de Rosario. Als sie dort anarchistische Flugblätter verteilte, wurde sie zum ersten Mal verhaftet. Am 1. Mai 1890 nahm sie in Rosario in der ersten Reihe an der Demonstration zur Erinnerung an die Märtyrer von Chicago1 teil. Sie hielt eine revolutionäre Rede, die erste dokumentierte Rede einer Frau auf einer Arbeiterversammlung in Argentinien. 

Zusammen mit anderen organisierte sie nach ihrem Umzug in die Hauptstadt die Casa del Pueblo in Buenos Aires. Diese Volkshäuser oder Ateneos waren damals sehr verbreitet, allein in Buenos Aires gab es mehr als 50. Sie waren politisch-kulturelle Zentren in den Arbeitervierteln, in denen Debatten und Diskussionen über politische, soziale und wissenschaftliche Themen stattfanden, auch zu spiritistischen. Selbstorganisiert gab es dort Unterricht in allen möglichen Fächern sowie öffentliche Vorträge, aber auch Dichterlesungen und Theateraufführungen, oft von eigenen Theatergruppen. Noch 1947 wurde in Chile – während der Diktatur von Gabriel González Videla – in Iquique das libertäre Ateneo Luisa Michel gegründet, initiiert von der Anarchistin Flora Sanhueza, die 1973 unter der Pinochet-Diktatur „verschwand“. 

Virginia Bolten war zusammen mit Teresa Marchisio und María Calvia auch in der Gruppe Las Proletarias aktiv. Zusammen mit Teresa organisierte sie 1900 eine „Gegenprozession“ in Rosario, wo sie die Marienprozession mit Rufen wie „Es lebe die Revolution und die Anarchie“ störten und verhaftet wurden. Sie reiste für den anarchokommunistischen argentinischen Gewerkschaftsverband FORA (Federación Obrera Regional Argentina) durch Argentinien, hielt Propagandareden, die oft in Tumulten und mit polizeilicher Repression endeten. Sie unterstützte immer wieder Streikende, so mobilisierte sie 1904 die Verkäuferinnen auf dem Wochenmarkt in Buenos Aires. 1905 wurde sie mit ihren kleinen Kindern nach Uruguay deportiert (sie war mit dem uruguyaischen Anarchisten Manuel Manrique verheiratet). 

In Montevideo beteiligte sich Virginia am Centro Internacional de Estudios Sociales, schrieb für El Combate (1905) und später für die von ihrer Freundin Juana Bouca Rouco 1909 gegründete Zeitschrift La nueva senda „gegen jede Form der Tyrannei und Ausbeutung“, wie es der Untertitel der Zeitschrift verspricht. Ihr Haus war ein Treffpunkt der Deportierten. Zu ihnen gehörten auch die Anarchafeministinnen Juana Buela, die sich später Rouco nannte, und María Collazo. Virginia blieb bis zu ihrem Tod Ende der 50er-Jahre in Montevideo. Auf den 1. Mai-Demonstrationen 1909, 1912 und 1923 hielt sie kämpferische Reden, trat aber nach 1930 nur noch selten öffentlich auf.

Eine zentrale Figur des argentinischen Anarchosyndikalismus war Juana Rouco Buela (Madrid 1889 – Buenos Aires 1969). Auch Juana wurde nur von ihrer Mutter erzogen (ihr Vater starb, als sie vier Jahre alt war) und arbeitete schon als Kind in einer Fabrik. Mit 15 Jahren nahm sie an der 1. Mai-Demonstration in Buenos Aires teil, die von der Polizei gewaltsam aufgelöst wurde, ein Arbeiter wurde dabei erschossen. Juana gehörte zu den Frauen, die den Toten ins Lokal der FORA brachten. Juana arbeitete, agitierte und kämpfte für die anarchistische Gewerkschaftsbewegung und für Frauenrechte.

Sie war zusammen mit María Collazo eine der Organisatorinnen des sogenannten „Mietstreiks“ in Buenos Aires. 1907 hatten sich die conventillo-BewohnerInnen gegen Mietpreiserhöhungen erhoben. In den conventillos wohnten die armen Neuankömmlinge unter erbärmlichen Bedingungen zu völlig überteuerten Mieten, zusammengepfercht auf engstem Raum. Dieser Aufstand, an dem sich zeitweise auch außerhalb von Buenos Aires Hunderttausende beteiligten, wurde überwiegend von Frauen und Kindern getragen. Bei den Räumungen und Durchsuchungen wurde mit Besen und heißem Wasser gekämpft, auch auf den Demonstrationen wurden Besen getragen. Die Revolte wurde blutig niedergeschlagen, u.a. wurde bei einer gewaltsamen Räumung ein 15-Jähriger erschossen. 

1907 gründet Juana zusammen mit Virginia Bolten, Teresa Caporaletti und María Collazo das Centro Femenino Anarquista in Buenos Aires. 1908 wird sie während der Repressionswelle nach dem Attentat von Solano Regís2 verhaftet und nach Europa deportiert (sie war als Elfjährige mit ihrer Mutter von dort eingewandert). Nach einem Aufenthalt unter prekären Bedingungen u. a. in Marseille, Genua und Barcelona, wo sie die spanische Anarchafeminstin Teresa Claramunt und die von dem anarchistischen Pädagogen Francisco Ferrer gegründeten Reformschulen kennenlernte, kehrte sie 1909 nach Montevideo zurück. Dort eröffnete sie einen Bügelladen und traf Virginia Bolten und andere Deportierte wieder, arbeitet im Centro Internacional de Estudios Sociales mit und gründete die Zeitschrift La nueva senda. Sie beteiligte sich weiter an öffentlichen Protesten, u. a. hielt sie eine Rede bei einer Demonstration 1909 in Montevideo gegen die Erschießung Ferrers in Barcelona. Dem daraufhin ausgestellten Haftbefehl entkam sie nur knapp, verkleidet als Mann.

Danach wurde sie polizeilich gesucht, reiste in Verkleidung (diesmal als tief verschleierte Witwe) heimlich nach Argentinien. Dort nannte sie sich dann Juana Rouco und wurde nach der Teilnahme an einem Protest gegen die 100-Jahr-Feier Argentiniens 1910 verhaftet und nach Montevideo ausgewiesen, wo sie fast ein Jahr im Gefängnis verbrachte. Später lag sie monatelang im Krankenhaus. 1914 versuchte sie als blinde Passagierin per Schiff nach Paris zu fahren, wurde in Rio de Janeiro aufgegriffen und blieb dort drei Jahre, verdiente ihr Geld mit Hemdennähen und ging eine Liebesbeziehung mit dem Anarchisten Juan Castiñeira ein, der später in Spanien ermordet wurde.

1917 kehrte sie nach Argentinien zurück (ihre Mutter hatte die Aufhebung der Deportation erreicht) und beteiligte sich weiterhin aktiv an anarchistischen Protesten und Streiks. Später reiste sie als Rednerin, Gewerkschafterin, Schriftstellerin und Feministin zusammen mit ihrem compañero José Cardella, einem anarchistischen Typographen, durch das ganze Land. Sie zog 1922 an den Küstenort Necochea, weil dort eine sehr aktive Frauengruppe war, gründete zusammen mit diesen Frauen das Centro de Estudios Sociales Femeninos, das die anarchistische Zeitung Nuestra Tribuna (1922-1924) herausgab. Diese Zeitschrift, die eine Auflage von 4000 Exemplaren erreichte und z.B. auch in New York unter AnarchistInnen zirkulierte, erhielt dasselbe gemischte Echo wie vorher La Voz de la Mujer. 1923 wurde ihre Tochter Poema (dt. Gedicht) und 1925 ihr Sohn geboren. Wegen ständiger Verfolgungen aufgrund ihrer Überzeugungen (so hatte sie in der Zeitschrift Nueva Tribuna Kurt Wilckens gegrüßt, der den „Schlächter von Patagonien“, Oberst Varela, umgebracht hatte) zogen sie und ihre Familie immer wieder um.

Mit dem Staatsstreich von 1930 begann eine politisch und privat sehr schwierige Zeit für sie (ihr Mann verließ sie, was sie als Verrat empfand). Erst die Solidaritätsarbeit für die AntifaschistInnen im spanischen Bürgerkrieg führte zu erneutem politischen Engagement. Sie blieb aktiv, später arbeitete sie vor allem in anarchistischen Zentren und Bibliotheken mit. 1941 ließ sie sich definitiv in Buenos Aires nieder, wo sie 1969 starb. 1964 erschien ihre Autobiographie Historia de un ideal vivido por una mujer, die zu einer wichtigen Quelle für die Anarchafeministinnen wurde.

Um ihre Überzeugungen zu verbreiten, reisten die Anarchistinnen viel, oft unter prekären Bedingungen, sprachen auf Veranstaltungen und verteilten Propagandamaterial. Die vielen anarchistischen und anarchafeministischen Zentren und Gruppen gaben fast alle Zeitungen oder Zeitschriften heraus, die sie mit ähnlichen Einrichtungen oft weltweit austauschten. Beispiele für diese zirkulierenden Zeitschriften sind neben den oben genannten die Zeitschrift Vesper der mexikanischen Anarchistin Juana Belén Gutiérrez de Mendoza, die mit vielen Unterbrechungen wegen Schließungen von 1901 bis 1936 erschien oder La Alborada der chilenischen Anarchistin Carmela Jeria (1905).

Die spanische Feministin und Freidenkerin Belén de Sarraga (sie wurde 1873 in Valladolid geboren, nach anderen Quellen in Puerto Rico, das damals noch zu Spanien gehörte) ist ein weiteres Beispiel für die internationale Vernetzung der Anarchafeministinnen. Belén war auf dem ganzen lateinamerikanischen Kontinent und in Spanien aktiv. Sie wuchs in Puerto Rico auf und studierte in Barcelona Medizin, wo sie mit anarchistischen Ideen in Kontakt kam, Bakunin und Kropotkin las. Sie zog 1900 (andere Quellen nennen 1906) nach Uruguay, in der Hoffnung, ihre Ideen, vor allem die Trennung von Kirche und Staat, unter der Regierung von José Battle y Ordóñez zumindest teilweise verwirklichen zu können. Sie gab von 1908-1910 in Uruguay El Liberal heraus (und brach u. a. eine Lanze für die Rechte sogenannter illegitimer Kinder, eine damals konstante Forderung vieler Anarchistinnen). 1913 veranstaltete sie in Chile Konferenzen über Laizismus und hielt weitere Vorträge in Mexiko, Guatemala, Panama, Cuba, Venezuela, Kolumbien und Argentinien.

Als Schriftstellerin und Journalistin trat sie für eine gerechte Verteilung des Reichtums ein, für die Trennung von Staat und Kirche, gegen Kolonialkriege und die zunehmende Militarisierung, gegen Ausbeutung und für die Emanzipation der Frauen. In der frühen mexikanischen Republik war sie genauso aktiv wie während der zweiten spanischen Republik. Sie fand nach deren gewaltsamer Niederschlagung Exil in Mexiko, wo sie 1951 starb. Wie auch andere Anarchistinnen fand sie teils begeisterte Aufnahme bei ihren Vorträgen und Agitationsreisen – zwischen 1910 und 1920 war sie eine sehr bekannte Figur in Lateinamerika, in Chile wurden Frauenzentren nach ihr benannt – und wurde zugleich von Kirche, Obrigkeit und offizieller Presse verteufelt und angegriffen.

Eine andere bedeutende anarchafeministische  Aktivistin ist die Schriftstellerin und Gewerkschafterin Luísa Capetillo (1879-1922) aus Puerto Rico. Sie wurde u. a. dadurch bekannt, dass sie in der Öffentlichkeit Hosen trug, was den Männern vorbehalten war. Sie war die erste militante Frauenrechtlerin Puerto Ricos und zugleich überzeugte Anarchistin. Sie wurde 1879 in einem kleinen Dorf bei Arecibo geboren. Ihre Eltern waren MigrantInnen, die Mutter aus Frankreich und der Vater aus Spanien. Der Vater verschwand früh aus ihrem Leben, die Mutter schlug sich mit Bügelarbeiten durch. Die Mutter unterrichtete sie zu Hause, eine formale Schulbildung erhielt sie nicht. Luisa vertrat das Ideal der freien Liebe, sie bekam mehrere Kinder und lebte verschiedene Liebesbeziehungen, ohne je zu heiraten. Diese Beziehungen waren schwierig, so versuchte Manuel Ledesma, Marqués von Arecibo und Vater ihrer beiden Kinder Manuela und Gregorio, erfolgreich, diese ihrer Mutter zu entfremden, die Tochter kam in ein katholisches Internat. 

Luísa Capetillo arbeitete zunächst in einer Textilfabrik als Näherin, später (ab 1906) als Vorleserin in den Tabakfabriken. Damals war es üblich, dass VorleserInnen den anderen ArbeiterInnen aus Zeitungen (oft sozialistischen oder anarchistischen) oder Romanen vorlasen. Was sie lasen, wurde entweder von ihnen ausgesucht oder es kamen Wünsche aus der Zuhörerschaft. Gelesen wurde z.B. aus Werken von Zola, Tolstoi, Victor Hugo, Balzac, Alexandre Dumas, manchmal auch aus den Werken von Marx, Engels und Bakunin. 1907 veröffentlichte sie ihr erstes Buch Ensayos Libertarios und begann ihre lebenslange Arbeit als Gewerkschafts- und Frauenaktivistin, „als Propagandistin, Journalistin und Schriftstellerin“, wie sie selbst schrieb. Sie beteiligte sich an Streiks und Demonstrationen, gab Bücher und Zeitschriften (u. a. 1910 die Zeitschrift La Mujer) heraus und reiste als Vortragende und Aktivistin zunächst durch Puerto Rico, später nach New York, Tampa (Florida) und Cuba.
 
In New York schrieb Luísa 1912 für anarchistische Organe und organisierte Studiengruppen, in Tampa arbeitete sie wieder als Leserin in einer Tabakfabrik. In Cuba wurde sie als Agitatorin verhaftet und deportiert (offiziell wegen Tragens von Hosen in der Öffentlichkeit). Zurück in Puerto Rico, beteiligte sie sich als Organisatorin an den Landkämpfen in Patillas, Ceiba und Vieques. In Vieques wurde sie von Streikbrechern angegriffen und in Ceiba verhaftet. Sie reiste auf Einladung der streikenden SchuharbeiterInnen auch in die Dominikanische Republik. Dort bekam sie Redeverbot. 1919 kehrt sie nach New York zurück, wo sie eine kleine Pension und ein vegetarisches Restaurant eröffnete, das schnell zu einem einschlägigen Treffpunkt der spanischsprachigen SozialistInnen und AnarchistInnen wurde. 

Obwohl sie Anarchistin war, beteiligte sie sich mehrfach an Kampagnen und Wahlkämpfen für Sozialistische Parteien. Als Internationalistin („Die Tyrannei, wie die Freiheit, hat kein Vaterland, genauso wenig wie die Ausbeuter und die Arbeiter“) beteiligte sie sich nicht am Unabhängigkeitskampf Puerto Ricos, was ihr teilweise bis heute vorgeworfen wird. Sie war auch an den großen und erfolgreichen Streiks in Puerto Rico zwischen 1916 und 1918 entscheidend beteiligt. 1922 starb sie an Tuberkulose.

Wie viele Anarchistinnen ihrer Zeit war auch Luísa eine Anhängerin von mystischen und spiritualistischen Ideen aus fernöstlichen Religionen. Für sie bestand kein Widerspruch zwischen libertärer Theorie und Spiritismus.

Neben Luísa Capetillo gilt vor allem Salvadora Medina Onrubia (1894-1972) als Ikone der Anarchistinnen in Lateinamerika. In Argentinien galt sie lange nur als die etwas exzentrische Frau des millionenschweren Direktors der Zeitschrift Crítica, als erste Frau, die ein Auto fuhr, als rote Venus und femme fatale. Salvadora war eine sehr schöne Frau, die leidenschaftlich für ihre anarchistischen und freiheitlichen Ideen kämpfte. Sie wuchs in Gualeguay, Entre Ríos, mit einer nach dem frühen Tod des Vaters alleinerziehenden Mutter auf. Ihre Eltern waren andalusische Einwanderer. Salvadora besuchte zunächst in Buenos Aires das Colegio Americano der Reformpädagogin Sara Chamberlain de Eccleston, nach ihrer Rückkehr nach Gualeguay gab sie selbst sehr jung Unterricht in Landschulen. Mit 16 bekam sie ihr erstes „uneheliches“ Kind. Auch sie glaubte an die „freie Liebe“. Daraufhin zog sie nach Buenos Aires, wo sie mehr Chancen für sich und ihr Kind sah. Später lebte sie dort mit dem Journalisten Natalio Boltana zusammen. Sie heirate Boltana erst nach ihrem dritten gemeinsamen Kind auf dessen massiven Druck.

Sie engagierte sich früh für Frauen- und Arbeitsrechte, außerdem schrieb sie Romane und Theaterstücke. Sie nahm aktiv an Demonstrationen und Mobilisierungen vor allem in Buenos Aires teil, hielt öffentliche Reden und setzte sich jahrelang intensiv für die Freilassung des russischen Anarchisten Simón Radowitzky ein. Dieser hatte in einem Bombenattentat den Polizeichef Ramón El Falcón ermordet, der durch besonders repressive Maßnahmen mit vielen Toten bekannt war.

Nach dem Militärputsch von General Uriburu im September 1930 wurde sie verhaftet. Als sie im Gefängnis erfuhr, dass mehrere Intellektuelle in einem Offenen Brief Gnade für sie erbaten, ließ sie aus der Haft verlauten, dass sie jede Gnade ablehnte. In diesem berühmten und glänzend formulierten Brief vom Juli 1931 schrieb sie, dass Uriburu sich mit ihrem Blut beflecken solle, wenn er sich dadurch mehr als Mann und als General fühle.

In den letzten Jahren sind die Schriften und Theaterstücke von Salvadora Medina erneut veröffentlicht und gespielt worden und das Interesse an dieser vielschichtigen Person ist kontinuierlich gewachsen. Sie war eine der ersten Journalistinnen Argentiniens, ab 1914 die erste feste Mitarbeiterin der wichtigen anarcho-kommunistischen Zeitschrift La Protesta. Als ihr Mann zu einem millionenschweren Pressemagnaten und einflussreichen Politiker wurde, stiegen die Spannungen zwischen ihnen. Zum einen genoss sie das offene Haus, in dem u.a. Oliverio Girondo, Alfonsina Storni, Federico García Lorca, Pablo Neruda, Rafael Alberti und der mexikanische Maler David Siqueiros verkehrten, andererseits kam sie zunehmend mit ihren politischen und feministischen Überzeugungen in Konflikt. Sie beschuldigte ihren Mann öffentlich, ihr die Kinder zu entfremden, und als ihr ältester Sohn sich erschoss, kochte die Gerüchteküche und sie wurde in der Presse beschuldigt, Schuld an seinem Tod zu haben. Sie begann zu trinken, fing sich aber wieder und führte nach dem Tod von Natalio bis 1972 die Zeitschrift Crítica weiter. Ihr war bewusst, dass sie zwischen zwei Welten lebten – wie sie es dem Maler Siqueiros sagte, der im Kellergewölbe ihres Landgutes 1933 das berühmte Wandbild Ejercicio Plástico malte. (Das Bild ist erst seit Dezember 2010 wieder restauriert und in Buenos Aires zu besichtigen.) Auf der einen Seite kämpfte sie aktiv für den Anarchafeminismus, sammelte für und besuchte verhaftete compañeros, nahm an Demonstrationen teil. Auf der anderen Seite war sie die Frau eines einflussreichen Politikers, der sich u. a. an der Verschwörung aktiv beteiligte, die die demokratische Regierung Hipólito Yrigoyen zu Fall brachte. Sie verachtete ihn für das, was er darstellte, und lebte mit ihm und ihren Kindern. Sie selbst sagte, dass sie sich erst von ihm freimachen konnte, als sie nicht mehr wusste, ob es eine Bedeutung habe. In der feinen Gesellschaft sei sie das schwarze Schaf und unter den schwarzen Schafen das weiße. Diesen Konflikt thematisiert sie in ihrem Theaterstück Las descentradas (Die Außenseiterinnen). Was ist die Rolle einer Frau? Was soll sie tun, was darf sie tun, wie weit kann sie gehen? Ihre Protagonistin Elvira lehnt die Ehe ab und kämpft für die freie Liebe und dafür, dass auch Frauen Ideen haben können, ideas boxeadoras, Ideen, die boxen, die zurückschlagen, die unpassend sind, die sie außerhalb stellen.

Virginia, Juana, Salvadora, Luísa und die anderen Anarchistinnen in Brasilien, Mexiko, Cuba und Bolivien sprengten das traditionelle Frauenbild: emotional, politisch, radikal, subjektiv. Magie und Spiritualität gehörten für sie zum Leben genauso wie die Mutterschaft. Aber für sie gab es mehr als zwei Lebensentwürfe für Frauen, nämlich unendlich viele, die erst gelebt werden mussten, um zu entstehen. Anders als die bürgerliche Frauenbewegung, die sie ablehnten, wollten sie ein freies Leben für alle Menschen, ohne Hierarchien und Herrschaft oder ökonomische Unterdrückung. Ihnen war klar, dass es dieses freie Leben in der Gegenwart nicht gab, deshalb kämpften sie dafür. In diesem Kampf, der auf allen Ebenen stattfand, entstand etwas Neues: freie Frauen, radikal subjektiv und solidarisch internationalistisch.

  • 1. Als es während eines großen Streiks im Mai 1886 in Chicago zu einem Bombenanschlag kam, bei dem zwölf Menschen, darunter ein Polizist, getötet wurden, verhaftete die Polizei die Streikführer. Obwohl sie nachweislich nichts mit dem Bombenattentat zu tun hatten, wurden Albert Parsons, August Spies, George Engel und Adolph Fischer wegen angeblicher geistiger Urheberschaft hingerichtet.
  • 2. Am 28. Februar 1908 verübte der Anarchist Francisco Solano Regís ein Attentat auf den argentinischen Präsidenten José Figueroa Alcorta, das aber scheiterte.