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Die Wiederaufnahme der mündlichen Überlieferung

Die Jugendbücher Óscar Colchados begeistern nicht nur kleine LeserInnen

Nach dem Fall der Diktatur Fujimoris, der aktuell unter anderem wegen Korruption und Menschenrechtsverletzungen in Haft ist, entstand eine bedeutende literarische Bewegung in Peru. Plötzlich sprossen aus allen Ecken neue AutorInnen, BloggerInnen, Zeitschriften und auch eine Reihe neuer Verlage. Aus den Provinzen kam ein starker frischer Wind in Lima an. Trotzdem dominiert die Hauptstadt, in der sich die gesamte Palette unterschiedlichster Stimmen konzentriert, weiterhin die peruanische Kulturszene. Eine Besonderheit dieses literarischen Frühlings ist, dass die Kinder- und Jugendliteratur darin eine besondere Rolle einnimmt und ihre beste Zeit erlebt. Aus ihr sticht das Werk von Óscar Colchado Lucio heraus, dessen Literatur mit der Erzählerstimme des Volkes, der BäuerInnen, der Cholos, zu einem Aushängeschild der neuen Zeiten wird.

Walter Lingán

Der Schriftsteller und Literaturdozent Óscar Colchado sagt von sich, dass er 1947 in Huallanca (Ancash), in einer tiefen Schlucht geboren wurde, wo der Fluss Santa die schwarze Kordillere durchbricht und so den Cañón del Pato bildet. Von dort aus wurde er zum Callejón de Conchucos gebracht, in ein kleines Dorf mit dem Namen Huayllabamba, aus dem seine Eltern kamen. Später begab er sich nach Chimbote an der Küste, wo er die Literaturgruppe Isla Blanca (Weiße Insel) gründete und die Zeitschrift Alborada – Creación y Análisis führte. Er erhielt fast alle wichtigen Literaturpreise Perus und auch zahlreiche internationale Auszeichnungen. Sein Werk Cholito en los Andes mágicos (Cholito in den magischen Anden) wurde in den Ländern der Grupo Andino im Fernsehen ausgestrahlt. Seit 1983 lebt er in Lima.

Oscar Colchado empfing mich 2010 bei sich zu Hause. Ruhig und ohne große Überschwänglichkeit sprach er von seinem Werk, seinen literarischen Projekten, seinem Umzug nach Lima und seiner Stelle als Dozent. Er nennt sich einen Fanatiker der Kinderliteratur, der mündlichen Tradition und der andinen Weltanschauung. Er sprach über seinen ersten Roman La tarde de toros (1974) und den großen Erfolg der Cholito-Saga, die 1980 in Chimbote begann, als Cholito, tras las huellas de Lucero veröffentlicht wurde, eine mitreißende und rührende Geschichte, in der Cholito seine Heimat verlässt, um sich auf die Suche nach seinem geliebten Reh zu machen, und sich dabei in den Bergzügen der Anden verirrt. 1986 kam Cholito en los Andes mágicos heraus, in dem die Figur mit verschiedenen mythologischen Wesen zusammen trifft. In Cholito en la ciudad del río hablador (1995) wird die Geschichte der mystischen Reise Cholitos nach Lima und seines Treffens mit dem Gott Rímac, einem alten Gott der Yungas, erzählt. 1998 erschien Los dioses de Chavín, in dem Cholito in die Entstehungszeit eintritt, um uns die beeindruckende Welt von Göttern, Halbgöttern und Fabeltieren der reichen peruanischen Mythologie zu eröffnen. Doch Cholito dringt auch in den peruanischen Regenwald ein, um Uti Bari, seinen Freund aus der Ethnie der Huambisa, zu suchen. Davon erzählt Cholito en la maravillosa Amazonía von 1999.

Obwohl er kein Zauberer wie Harry Potter ist, fliegt Cholito auf dem Rücken eines Kondors, kämpft mit Göttern, erlebt Abenteuer und hat viele jugendliche und erwachsene LeserInnen überall in Peru. Man kann ihn bereits als eine der großen Figuren der peruanischen Kinderliteratur betrachten. Dabei ist Cholito einerseits neu, nimmt aber gleichzeitig die fantastische mündliche Überlieferung Perus wieder auf. Natürlich muss auch Rayito y la princesa del médano (2002/2009) erwähnt werden, genau wie Leyendas peruanas, die die Vorstellungswelten der bäuerlichen Gemeinschaften der Küste, des Hochlandes und des Tieflandes einschließen. Nicht zu vergessen sind auch La casa del cerro El Pino, Gewinner des internationalen Preises Juan Rulfo 2002, und Del Mar a la ciudad, eine Zusammenstellung verschiedener Erzählungen über die andine Migration zum Fischerhafen in Chimbote.

In Bezug auf seine Romane über den berühmten Banditen Luis Pardo aus Ancash sagt man, dass das Werk Óscar Colchados „wie die Konstruktion einer Volkserinnerung, des Bewusstseins der Armen“, aufgebaut ist. In seiner Kunst äußert sich lo real maravilloso andino und zeigt eine Abenteuerepik eines siegreichen Heldens“. In ¡Viva Luis Pardo! von 1998 und Luis Pardo – Noticias del Gran Bandido von 2010 erscheint das Mystische, das Magische und das Wunderbare der andinen Kultur. Dieses „künstlerische Geschick wird begriffen als eine Reihe, die Abenteuer, Unterhaltung, Frische und Geschick bietet“. Die bäuerliche Welt der Quechua wird in all ihrer Pracht porträtiert, aus der Sichtweise eines Erzählers, der Teil davon ist, der ihre Kultur und Sprache auf intimste Weise kennt. José María Arguedas und Eleodoro Vargas Vicuña sind zwei der bekanntesten Autoren, bei denen die Erzähler Teil dieser Welt bilden. Das Neue an den Büchern Colchados ist, dass er in seinen Erzählungen Cordillera Negra (1988) und Hacia el Janaq Pacha (1988) die Sprache der andinen Indígenas aufnimmt, ihre Begriffe, vor allem aber ihren Klang. Diese Musikalität, die den Leser/die Leserin anzieht und verführt, dieser syntaktische Rhythmus, der sich offenkundig von der städtischen Sprache unterscheidet, diese Drehungen und Diminutive, die wie Funken in einem bunten See glänzen, schaffen es, ein lebendiges Universum zu kreieren, das in der Lage ist, vom ersten Augenblick an zu überzeugen.

Der Roman Rosa Cuchillo (1997) spielt zwischen zwei Welten. Die Welt, die wir kennen, und die des Todes. In der einen, in Ayacucho, gibt es einen grausamen Krieg, während die andere, basierend auf der andinen Weltanschauung, mystisch ist. Es ist die Pilgergeschichte von Rosa Cuchillo ins Jenseits, begleitet von Wayra, einem kleinen schwarzen Hund, und der Sorge um ihren Sohn Liborio, der den Subversiven beigetreten ist. Der Junge glaubte, bei den Subversiven den Inkarri, eine zentrale Figur des andinen Mythos, der die Wiederherstellung des von den Spaniern im 16. Jahrthundert zerstörten Tahuantinsuyos repräsentiert, auferstehen zu sehen, entdeckt aber bald, dass seine Chefs mehr wie die Chefs der Gegner, der Weißen und Mistis, fühlen und denken als er selbst und seinesgleichen. Dieses Buch wurde 1996 mit dem den nationalen Preis für Romane der Nationalen Universität Federico Villareal ausgezeichnet. 

Der jüngste Roman von Óscar Colchado ist Hombres de mar (2011), für mich einer der großen peruanischen Romane der letzten Jahre. Er spielt im Chimbote der siebziger Jahre, von der Zeit des Militärmachthabers Morales Bermúdez (1975-78) bis zur Marcha de los Cuatro Suyos1 im Jahr 2000. Drei Jahrzehnte nationaler Geschichte, vom Leben der Fischer, ihrem Arbeiten auf dem Meer und an Land, ihren Prinzipien, ihrem Glauben, ihrer Fröhlichkeit und ihren Ängsten. Er spricht aber auch von der Privatisierung von Pescaperú, den Kämpfen und Streiks der Fischer, die die Privatisierung ablehnten, der politischen Repression, den Toten, Verletzten und Verhafteten, der Solidarität anderer sozialer Sektoren und den Kämpfen in der Führungsspitze der peruanischen Linken, die versuchte, die Kämpfe der Bevölkerung anzuführen. Am Ende steht das Scheitern.

Er stellt uns Muki, Marcial Quinllay, vor, einen armen Bauern, der nach Chimbote kommt und als Unternehmer zum Millionär wird. Sein Reichtum kommt aber nicht nur von der Fischerei, sondern vom Drogenhandel, in den tatsächlich viele Fischereiunternehmer verwickelt waren. Ebenso lernen wir die Gewerkschafter Nieves Collanqui und Pedro Chinchayán kennen. Während ersterer verhaftet wurde, ernennt sich Chinchayán zum Anführer. Er wird verfolgt, verhaftet, gefoltert und lebt im Untergrund, da er eliminiert werden soll. Wir erfahren vom Leben der MigrantInnen aus den Anden, die lernen, FischerInnen zu werden. Oder von einer Tänzerin, die sich in die Kämpfe der Gewerkschaften integriert und die FischerInnen bedingungslos unterstützt. Schließlich erfahren wir auch etwas über die Kindheit Alejandro Toledos in Chimbote bis hin zu seiner Kandidatur für das Amt des Präsidenten. 

Aber in der Welt Chimbotes leben nicht nur Personen aus Fleisch und Blut, sondern auch solche, die aus anderen Welten kommen, so wie Ai-Apaec, der Gott der Moche mit Zähnen eines Raubtieres, der nach Blut verlangt. Oder auch Viejo Tijera, der sich manchmal in einen riesigen Pelikan verwandelt. Ai-Apaec hatte ihn mit dieser Verwandlung in einen Pelikan, der immer allein leben musste, bestraft, weil er ihm kein menschliches Blut besorgt hatte. Viejo Tijera hat den Verdacht, dass einige Leute in Chimbote die Verkörperung verschiedener Gottheiten seien, und ist davon überzeugt, dass die Schülerin Mariela Salinas die Inkarnation von Yencalá ist. Ai-Apaec sagt zu ihm: „Mein Fluch wird an dem Tag enden, an dem du aufhörst, auf der Seite der Mächtigen und Schlechten zu kämpfen.“ Deshalb sehen wir Viejo Tijera zusammen mit Mariela auf einer Demonstration zur Unterstützung der streikenden Fischer. Der Freund des Mädchens entdeckt sie in dem Moment, als die Polizei gegen die Demonstrierenden stürmt und sieht, wie sie durchlöchert zu Boden fallen, aber als der Rauch der Tränengasbomben schwindet, erblickt er nur noch einen fliegenden Pelikan begleitet von einer Schwalbe.

Es gibt auch andere Fabelwesen, wie das Mädchen, das verschwindet und nur in den Mondnächten auftaucht, in denen es singend mit seiner Gitarre auf einer Felseninsel gegenüber von Chimbote sitzt. Oder Marcial Quinllay, dessen Flugzeug auf seiner Rückreise aus Brasilien ins Meer stürzt. Er kann sich auf den Panzer eines gigantischen Krebses retten, allerdings ist er in einen Leguan verwandelt.

Man kann nur hoffen, dass das fantastische Werk Óscar Colchados von einem deutschen und europäischen Verlag entdeckt wird, sodass auch wir in dieser globalisierten Welt die Möglichkeit haben, die Träume der Janaq Pacha – der Welt dort oben, wo die Götter wohnen –, die Ukhu Pacha – der Unterwelt, die Welt der Finsternis, wo die Teufel wohnen – kennen zu lernen und die Kay Pacha, die gegenwärtige Welt, diese Pacha Tikra, unsere verdrehte Welt, in der wir wohnen, in der wir dafür kämpfen, in Würde zu leben.

  • 1. Nationaler Protesttag gegen die Diktatur von Alberto Fujimori am 28. Juli 2000

Der in Peru geborene Walter Lingán lebt als Schriftsteller und Arzt in Köln.

Übersetzung: Laura Burzywoda