ila

Unangestrengt universell

Die Wiederentdeckung: „The Roots of Chicha 1 & 2“ und „Canibalismo“ von Chicha Libre
Britt Weyde

Chicha erfrischt Leib und Seele. Zum einen wird damit ein alkoholhaltiges Getränk aus fermentiertem Mais bezeichnet, das schon seit Jahrhunderten in den Andenländern genossen wird. Seit den späten 70er Jahren wird aber auch eine bestimmte Strömung der peruanischen Cumbia als Chicha bezeichnet (siehe Artikel von Julio Mendívil in ila 353), beliebt vor allem unter den Cholos, den in die Randviertel Limas eingewanderten, indigenen AndenbewohnerInnen.

Mittlerweile ist Chicha zum Adjektiv geworden: Chicha-Kultur, Chicha-Presse und Chicha-Architektur, es hat sogar einmal einen Chicha-Präsidenten gegeben, der Chicha-Kredite vergeben hat. Doch dieses Adjektiv ist stets abwertend gemeint. Lange Zeit wurde auch die so bezeichnete, sehr populäre Musikrichtung von den tonangebenden Mittelschichten Perus verachtet. Bis ein musikalischer Goldgräber aus Brooklyn, der aus Frankreich stammende Olivier Conan, vor fünf Jahren eine Compilation mit peruanischer Cumbia zusammenstellte, die er „The Roots of Chicha“ nannte.

Im Booklet zur ersten Compilation begeistert er sich: „Diese Musik war so frisch, aufregend und unangestrengt universell, dass es bis heute merkwürdig erscheint, dass sie niemals ein internationales Publikum gefunden hat. Die skurrile postmoderne Kombination aus westlicher Psychedelik, cubanischen und kolumbianischen Rhythmen, andinen Melodien und eigentümlichem Experimentieren war dem Pop-Synkretismus der brasilianischen Tropicalia sehr nahe (…).“

So hat z.B. der gute alte Beethoven seine Finger mit im Spiel. Bei „Para Elisa“ von Los Destellos ertönt die weitbekannte Melodie allerdings nicht auf dem Klavier, sondern auf einer E-Gitarre im flotten Cumbia-Rhythmus. Auf diese Idee kam der klassisch geschulte Musiker Enrique Delgado, der mit seiner Combo Los Destellos als Begründer der peruanischen Cumbia gilt, die bereits in den späten 1960er-Jahren aufkam. E-Gitarren – verzerrt, im Surf-Stil oder einfach nur rockig – spielten dabei eine herausragende Rolle. Bei „Sácalo Sácalo“ von Los Diablos Rojos z.B. erinnert der Gitarrenriff zu Beginn an Ritchie Valens alten Hit „La Bamba“, weiter geht's mit afrocubanischer Percussion, um dann wieder in den surfig-psychedelischen Modus zu verfallen. „Vacilando con Ayahuesca“ wiederum ist das Chicha-Pendant zu „Je t'aime“ von Serge Gainsbourg: Juaneco y su Combo aus dem Amazonasgebiet, die ihre indigene Herkunft übrigens mit traditioneller Kleidung zur Schau stellen, lassen hier eine explizite Frauenstimme zu Wort kommen. Weniger sexuell aufgeladen, dafür musikalisch innovativ, ist Eusebio y su Banjo, der doch tatsächlich in seinem Hit „Mi Morena Rebelde“ ein Banjo zur Cumbia erklingen lässt.

Mittlerweile hat Conan einen zweiten Chicha-Sampler veröffentlicht, in dem stärker die urbane – und somit „eigentliche“ – Chicha in den Fokus gestellt wird, Chicha im Anden-Style, bei der meist pentatonische Melodien in Moll dominieren und die häufig Huyano-Klassiker aus den Andendörfern in ein Cumbia-Gewand hüllen. Somit versammelt die erste Compilation vielleicht mehr Hits, die zweite gibt jedoch ein differenzierteres Bild wieder, was sich auch in dem hervorragenden Hintergrundtext im Booklet widerspiegelt. 

Auf dem zweiten Sampler ist z.B. die Originalversion von „La Colegiala“ von Walter León y los Ilusionistas zu hören: etwas sperriger als die später weltberühmt gewordene, weichgespülte Version aus dem Nescafé-Werbespot, aber mit seiner pointierten Gitarre hat das Stück auf jeden Fall etwas. Natürlich wird auch der „Pastorcita“ ein Denkmal gesetzt, der Schäferin, deren andiner Ursprung auf der Hand liegt. In „Como un ave“ wird der Raubvogel besungen, der sein Nest sucht – die Grupo Celeste gehört zu den wichtigsten Combos, die das andine Erbe der Chicha in den Vordergrund stellen. Natürlich darf auch der Genderkrieg nicht fehlen. Geht es bei Ranil y su Conjunto um die „Mala Mujer“, die schlechte Frau, die sich für jeden hergibt, kontern Manzanita y su Conjunto mit „Paga la cuenta sinvergüenza“ („Bezahl die Rechnung, du unverschämter Sack“). Die Chicha zeigt mit solchen Stücken ihr raues Antlitz: Sie steht nicht für Protestkultur, sondern für stilles Ertragen. Soziale Belange werden thematisiert – Armut, Sehnsucht nach dem Andenhochland, Familie, Alkoholsucht – doch politische Themen werden gemieden. 

Conans Compilations hatten in Peru ungeahnte Auswirkungen: Ein Gringo interessiert sich für die Musik der cholos! Und dieser Gringo huldigt auch noch aktiv der Chicha als Genre: Chicha Libre ist der Name seiner sechsköpfigen Band aus Brooklyn. Mit „Canibalismo“ ist Mitte Mai 2012 nun ihre zweite CD erschienen. Wer sich einmal dank der beiden Chicha-Compilations an dem Sound aufgewärmt hat, dem gefällt auch bestimmt das eigene musikalische Projekt des begnadeten Compilers. Natürlich fehlt hier ein wenig die exotisch-nostalgische Patina der „Original“ Chicha. Doch vielfältige afrokaribische Rhythmen – neben Cumbia darf es z.B. auch mal eine Rumba sein –, geschmeidige Westernmelodien, die das Tanzbein jucken, 70er Gitarrensound, eigenwillige Titel und Texte, die zwischen der Beschwörung traditioneller Topoi („Muchachita del Oriente“) und abgedrehter Psychedelik („Depresión Tropical“) changieren, überzeugen auf jeden Fall. Und für alle, die den Chicha-Sound einmal live in unseren Breitengraden erleben möchten, eine gute Nachricht: Chicha Libre spielen am 1. Juli auf dem Fusion-Festival in Lärz. Wenn das mal keine Adelung ist. 

The Roots of Chicha – Psychedelic Cumbias from Peru, Barbès Records, 2007, The Roots of Chicha 2 – Psychedelic Cumbias from Peru, Barbès Records/Crammed Discs 2010, Chicha Libre – Canibalismo, Crammed Discs 2012