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Macht Paraguay jetzt die Rolle rückwärts?

Auf den dubiosen Machtwechsel folgten zweifelhafte Dekrete

In der dritten Augustwoche besuchte eine Delegation des Deutschen Bundestages Paraguay. Auf dem Reiseprogramm standen neben Projektbesuchen Gespräche mit Menschenrechtsverteidigern sowie Vertretern der neuen und der abgesetzten Regierung. Der Abgeordnete Thilo Hoppe (Bündnis 90/Die Grünen) reiste anschließend nicht wie seine Kollegen von CDU, SPD und FDP nach Uruguay und Brasilien weiter, sondern blieb zwei Tage länger in Paraguay und besuchte auch die Konfliktregion, in der im Juni bei einem Kampf um besetztes Land elf Bauern und sechs Polizisten ums Leben gekommen waren.

Thilo Hoppe

Der in den Medien als „Massaker von Curuguaty“ bezeichnete Vorfall hatte im Amtsenthebungsverfahren gegen (Ex)präsident Fernando Lugo eine große Rolle gespielt. Lugos Gegner hatten ihm vorgeworfen, die Bauern zu Landbesetzungen ermuntert und damit den Konflikt geschürt zu haben. Lugo und seine Leute sind hingegen der Meinung, dass der Vorfall nur als Vorwand diente, um einen Präsidenten zu beseitigen, der sich gegen die Interessen der Großgrundbesitzer und des Agrobusiness gestellt hatte.

Was war in Curuguaty konkret passiert? Schon seit vielen Jahren streiten sich dort der Großgrundbesitzer und Politiker der Colorado-Partei, Riquelme Blas, mit Kleinbauern und deren Gewerkschaften um die 2000 Hektar große „Finca Nummer 9“. Diese Finca gehört zu den so genannten tierras mal habitadas, große Ländereien, die während der Stroessner-Diktatur (1954-1989) an treue Gefolgsleute des Generals und Mitglieder seiner Colorado-Partei vergeben wurden. Nach dem Ende der Diktatur wurde dessen Landverteilung zwar als unrechtmäßig bezeichnet, da viele dieser Ländereien aber weiterverkauft wurden, sind bis heute die Eigentumsfragen noch nicht abschließend geklärt worden. Fast 20 Prozent des Staatsgebiets – rund ein Drittel der zur Verfügung stehenden Agrarfläche – gehört zu den tierras mal habitadas. Und in keinem anderen Land der Welt ist Land so ungleich verteilt wie in Paraguay: Rund 80 Prozent des Landes gehören gerade einmal zwei Prozent der EinwohnerInnen.

Fernando Lugo, der ehemalige katholische „Bischof der Armen“, war 2008 direkt vom Volk zum Präsidenten gewählt worden – nach 61 Jahren ununterbrochener Herrschaft der rechtsgerichteten Colorado-Partei. Er, der sich in die kleine christdemokratischen Partei Paraguays eingeschrieben hatte, war 2008 der Kandidat eines heterogenen Parteienbündnisses, der „Allianz für den Wechsel“, zu der neben mehreren kleinen linken, alternativen, sozial- und christdemokratischen Parteien und Bewegungen auch die große, etablierte Liberale Partei gehörte. Besonders die vielen armen Kleinbauern und Landlosen wählten Lugo – in der Hoffnung, dass es unter ihm endlich zu einer Landreform und dem Aufbau sozialer Sicherungssysteme kommen könnte.

Lugo wurde zwar zum Präsidenten gewählt – die ihm nahe stehenden kleineren Parteien errangen bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen aber nur wenige Sitze. Die Colorado-Partei blieb stärkste Kraft, gefolgt von den Liberalen. Im Parlament bildeten Liberale und die Colorados dann oft eine Art heimliche Große Koalition, wenn es darum ging, auch kleinste Ansätze von Land- und Steuerreform im Keim zu ersticken. Lugo war ein Präsident mit guten Absichten, aber ohne Mehrheit und Hausmacht im Parlament.

Dennoch gelangen ihm bescheidene Erfolge im Kampf gegen die extreme Armut und zur Verbesserung des Gesundheitssystems. Sein Umweltminister Oscar Rivas setzte sich erfolgreich für Umweltverträglichkeitsprüfungen ein, um Entscheidungsgrundlagen zu haben, wenn es um die Zulassung oder Nichtzulassung von gentechnisch verändertem Saatgut oder die Baugenehmigung für Industriebetriebe mit großen Umweltbelastungen ging. Doch in Sachen Landreform kam die Regierung nicht voran. Vor einigen Monaten hatte Lugo jedoch angekündigt, die Rückgabe beziehungsweise Neuverteilung der tierras no habitadas auf die Agenda zu setzen, ohne allerdings zu wissen, wie er dafür eine Mehrheit im Parlament herstellen sollte.

Viele von Lugo und seiner Regierung begonnene Reformen wurden vom neuen Machthaber Federico Franco erstmal gestoppt: Ansätze einer Soja-Ausfuhrsteuer, einer Grundsteuer sowie umfangreiche Prüfverfahren vor der Einführung von gentechnisch verändertem Saatgut oder der Ansiedlung von Industriebetrieben mit großen Umweltbelastungen. Und vor wenigen Tagen kündigte Franco an, gentechnisch verändertes Saatgut für Mais und Baumwolle per Dekret zulassen zu wollen – mit sofortiger Wirkung und ohne die gesetzlich vorgeschriebenen Prüfverfahren. Der Monsanto-Konzern und das gesamte Agrobusiness jubeln.

Ob man das Turbo-Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Lugo nun als Putsch, kalten Putsch, parlamentarischen Putsch oder als „besorgniserregenden Vorgang mit vielen Fragezeichen“ bezeichnet (wie die meisten europäischen Diplomaten) oder ob man es gar für einen ganz normalen Vorgang hält: Klar ist, dass die große Mehrheit der paraguayischen Kongressabgeordneten und Senatoren am 22. Juni für die Amtsenthebung gestimmt haben und dass es in der paraguayischen Verfassung ein solches Amtsenthebungsverfahren gibt, allerdings ohne konkrete Durchführungsbestimmungen.

Das Tempo des Amtsenthebungsverfahren und die extrem kurze Zeit, die Lugo zur Verteidigung eingeräumt wurden – zwei Stunden – werfen jedoch Fragen auf. Und einen völlig wirren Eindruck macht die Begründung, die für das Amtsenthebungsverfahren angeführt wurde. Da wird Lugo zum Beispiel „Aufruf zum Klassenkampf“ vorgeworfen, weil er vor drei Jahren ein linkes Jugendzeltlager auf einem ungenutzten Militärgelände zugelassen haben soll. Auch die anderen Gründe wirken an den Haaren herbeigezogen und konstruiert.

Berücksichtigt man die wirklichen politischen Konflikte und die ersten Amtshandlungen des neuen De-facto-Präsidenten Federico Franco, dann wird deutlich, dass die beiden großen etablierten Parteien Lugo und seine Politik einfach weghaben und dem Agrobusiness – den Großgrundbesitzern und den im Agrargeschäft tätigen transnationalen Konzernen – wieder freie Bahn verschaffen wollten. Die Mehrheit der Liberalen hatten 2008 den populären „Bischof der Armen“ eh nur als Koalitionspartner und Präsidentschaftskandidaten (aus)genutzt, um endlich den Colorados, die seit 61 Jahren herrschten, eine Wahlniederlage beizubringen. Die Koalition zwischen den Liberalen und den kleineren Parteien stand von Anfang an unter keinem guten Stern und erwies sich als brüchig.

Alles also nur ein Koalitionsbruch? Nein, denn Lugo ist mit seiner Agenda direkt vom Volk gewählt worden. Dass er aus machtpolitischen Gründen von einer Parlamentsmehrheit abgewählt werden kann und wurde, offenbart einen Konstruktionsfehler in der paraguayischen Verfassung. Besonders die Liberalen versprechen sich von der Amtsenthebung Lugos eine bessere Ausgangsposition für die nächsten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen, die im April 2013 anstehen. Möglicherweise haben sie sich verkalkuliert. Denn mit den heftigen Reaktionen der Nachbarstaaten – Brasilien und Argentinien sprachen mehr oder weniger von einem Putsch, zogen ihre Botschafter ab und verweigerten dem neuen Präsidenten die Anerkennung – hatten sie ebenso wenig gerechnet wie mit dem Ausschluss Paraguays aus dem Wirtschaftsbündnis Mercosur, dem Staatenbündnis UNASUR und dem lateinamerikanischen Parlament Parlatino.

Ob es bei den nächsten Wahlen eine Trotzreaktion geben wird und das Lugo wohl gesonnene Mitte-Links-Bündnis „Frente Guasú“ und deren (wahrscheinlicher) Präsidentschaftskandidat Mario Ferreiro gewinnt oder ob eher die rechte Colorado-Partei vom Bruch der Koalition profitieren wird und deren (wahrscheinlicher) Kandidat Horacio Cartes das Rennen macht, lässt sich schwer vorhersagen. Würde Letzteres eintreten, was aufgrund der Millionenbeträge, die der Unternehmer Cartes und die ihn unterstützenden Kreise in Wahlkampf und Stimmenkauf investieren, leider nicht auszuschließen ist, dann wäre die Rolle rückwärts in Paraguay perfekt.

Thilo Hoppe ist evangelischer Religionspädagoge und Journalist sowie Bundestagsabgeordneter der Grünen.