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Beeindruckende Miniaturen

Ein feministisch-theologisches Kunstprojekt überschreitet Grenzen
Gert Eisenbürger

In der lateinamerikanischen Literatur erfreut sich in den letzten Jahren ein Genre wachsender Beliebtheit, das im Spanischen Minificción genannt wird. Das sind sehr kurze, dichte Prosatexte, die in wenigen Sätzen ganze Geschichten erzählen. An diese literarischen Miniaturen fühlte ich mich erinnert, als ich in den letzten Wochen die Texte des Buches „Worten wachsen leise“ las. Allerdings schreiben darin keine SchriftstellerInnen, sondern Menschen mit sehr unterschiedlichen sozialen und beruflichen Hintergründen. Sie kommen aus Deutschland, dem ehemaligen Jugoslawien, Nicaragua, den USA. Einige sind MigrantInnen, die aus Namibia bzw. Angola in die Schweiz oder aus Mexiko oder Nicaragua in die USA kamen. Unter den Schreibenden sind Menschen aller Altersgruppen, für viele – aber längst nicht alle – spielt die christliche Religion eine wichtige Rolle in ihrem Leben.

Was hat nun diese Menschen zusammengeführt? Antwort: Zehn leere Bücher. Die waren die Grundlage eines internationalen Kunstprojektes, das die bildende Künstlerin Benita Joswig zusammen mit der Pädagogin und Musikerin Bärbel Fünfsinn – beide Frauen sind auch engagierte feministische Theologinnen – über mehrere Jahre durchgeführt hat. Jedes der zehn Bücher hat einen Titel: Blut/blood, Farbe/color, Stadt/city, Grenze/border, heilen/healing, ich/me, Lust/joy, reich/rich, warten/waiting, Worte/words. Die einzelnen Bücher haben wiederum zehn Kapitelüberschriften, und zwar die gerade genannten Buchtitel. Bei verschiedenen Veranstaltungen in Universitäten, theologischen Ausbildungsstätten, einem Kirchentag, Schulen und Bibliotheken in Deutschland, den USA und Nicaragua wurden TeilnehmerInnen eingeladen, handschriftlich einen Text in ihrer Sprache in eines der Bücher zu schreiben. So füllten sich zwischen 2003 und 2011 die insgesamt 2500 zunächst leeren Seiten mit Geschichten, Gedanken und Reflexionen. Aus diesem Fundus haben Bärbel Fünfsinn und Benita Joswig 50 Texte ausgewählt und übersetzt, die auf rund 100 Seiten des Buches „Worte wachsen leise – Eine handschriftliche Vernetzung“ veröffentlicht sind. Eine solche Auswahl bedeutet natürlich immer eine Reduktion. Zugleich ist sie aber eine elementar künstlerisch-literarische Tätigkeit: Es ist ein Wesensmerkmal der Literaturproduktion, dass AutorInnen Beobachtungen und Erfahrungen – also Wirklichkeit – verdichten. 

Ein zentrales Element des Projektes war für die InitiatorInnen die Handschriftlichkeit. In ihrer Einleitung begründet Benita Joswig das unter anderem folgendermaßen: „In der Handschrift bleibt etwas unbeantwortet, geheimnisvoll, nicht kontrollierbar. Die Uniformität der vorgegebenen Schrift entfaltet sich durch die Inhalte der Schreibproduktion; die Handschriften hingegen zeigen zudem noch Gesicht, sie sind ein Tanz auf dem Papier, schief, krumm, gerade, angepasst, grazil, leicht, schwer.“

Die starke Betonung der Handschriftlichkeit hat mich zunächst etwas abgeschreckt. Ich sah darin eine ähnliche Fixierung auf das Medium des Schreibens wie bei der Fetischisierung bestimmter digitaler Medien, wo irgendwelche Banalitäten wichtig werden, nur weil sie jemand vermeintlich Bedeutsames gebloggt oder getwittert hat. Doch bei der Lektüre des Buches fand ich es sehr schön und aufschlussreich, dass jedem neuen Text jeweils die ersten drei bis vier Zeilen des handschriftlichen Originals als Faksimile vorangesetzt waren. Dazu schreiben Li Hangartner und Fulbert Steffensky im Nachwort: „Die Gesichter der Verfasser werden in ihren Handschriften deutlicher, als sie es auf ihren Fotos würden“.

Aber wären Inhalte nicht so interessant, würde die besondere Form auch nicht helfen, es wurde und wird auch handschriftlich viel Unsinn verfasst. Die Texte des Buches – manche sind nur 15 bis 20 Zeilen lang, die längsten drei oder vier Buchseiten – erzählen wirklich Geschichten, artikulieren Ängste, bringen Zweifel zum Ausdruck, berichten über den Umgang mit Krankheit und Tod, über das Überwinden von Grenzen, sowohl zwischen Staaten, als auch solche, die durch gesellschaftliche Konventionen oder eigene Unsicherheiten errichtet sind, sprechen von Glauben und den Schwierigkeiten, die mann/frau damit hat. Es geht natürlich auch um Liebe und Enttäuschungen und immer wieder um Hoffnung – dass sich schwierige oder unerträgliche Situationen verändern, dass Glück möglich ist.

Bemerkenswert ist, dass die „Vernetzung“ über Kontinente, zwischen Nord und Süd tatsächlich stattfindet. Auch wenn die Probleme und Konflikte, über die NicaraguanerInnen oder MigrantInnen ohne Papiere schreiben, andere sind als die, die Theologinnen aus den USA oder Deutschland ansprechen, wird eine gemeinsame Sprache sichtbar. Natürlich setzt schriftliche Kommunikation, auch handschriftliche, ein bestimmtes Bildungsniveau voraus. Auch in Zeiten digitaler Medien kommunizieren die meisten Menschen auf der Welt verbal – und das häufig nicht in den jeweiligen Hochsprachen, sondern in Kreolsprachen, autochthonen Sprachen und regionalen Dialekten. Und natürlich gibt es sehr viele Menschen, die über Gefühle weder reden noch schreiben können, weil sie das nie gelernt haben. Dieses Problem haben die 50 AutorInnen, deren Texte in „Worte wachsen leise“ veröffentlicht sind, aber nicht, und genau das macht das Buch zu einem wirklichen Leseerlebnis.

Bärbel Fünfsinn und Benita Joswig (Hrsg.): Worte wachsen leise. Eine handschriftliche Vernetzung, Erev-Rav, Verein für politische Bildung, Uelzen 2012, ISBN 978-3-932810-51-0, 127 S. (geb.), 15,- Euro, Bezug: www.erev-rav.de oder über den Buchhandel