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Die Plantage als Urform der Fabrik

Ein Buch über Zuckerproduktion und Sklaverei in der Karibik
Gert Eisenbürger

Sklaverei gilt heute (endlich) als eine absolut menschenunwürdige und inakzeptable Form von Arbeitsbeziehungen. Dagegen ist die minutiös durchgeplante Fabrikarbeit „normal“, es wird kaum in Frage gestellt, dass sich Menschen einer absolut fremdbestimmten Tätigkeit unterwerfen müssen, um ihren Lebensunterhalt – manchmal auch nur – halbwegs zu sichern. In dem Buch „Zucker für die Welt“ zeigt der Historiker Peter Martin, wieviel die Sklaverei auf den karibischen Zuckerplantagen und moderne Fabrikarbeit miteinander zu tun haben. Letztere wäre ohne erstere kaum denkbar: die Zuckerplantage war die Urform der Fabrik, hier wurde seit dem 16. Jahrhundert das Regiment durchgesetzt, welches bis heute den Alltag in den Produktionsbetrieben prägt.

Dass die Arbeitsorganisation auf den Zuckerplantagen diese historische Vorreiterrolle übernahm, hat mehrere Gründe. Zum einen die Eigenschaften des Zuckerrohrs und des Produktionsprozesses des Zuckers. Das auf den Feldern angebaute Rohr hat nur wenige Tage seinen höchsten Zuckergehalt, wird es zu früh oder zu spät geschlagen, sinkt dieser erheblich. Sobald die Stauden geschnitten sind, müssen sie umgehend ausgepresst werden. Eine Lagerung ist nicht möglich, weil in kürzester Zeit die Fermentierung einsetzen würde. Aus demselben Grund muss auch der durch die Pressung gewonnene Saft sofort in die Siederei, weil daraus sonst ein säuerlicher Zuckerwein würde. Natürlich waren es nicht allein diese Merkmale der Zuckerproduktion, die große Gruppen von Menschen in durchorganisierte und -rationalisierte Arbeitsabläufe zwangen. Auch Weintrauben haben nur wenige optimale Erntetage, auch die der Traubenlese nachfolgenden Arbeitsgänge müssen umgehend ausgeführt und aufeinander abgestimmt sein. Dennoch wurde und wird ein beträchtlicher Teil des Weins handwerklich produziert. Während Wein aber bis vor wenigen Jahrzehnten vor allem regional konsumiert wurde, war Zucker aus der Karibik von Anfang an ein Produkt für den Weltmarkt. Die Nachfrage nach Zucker stieg in Europa ständig, entsprechend strebten die Plantagenbesitzer steigende Produktionsmengen an. Dafür suchten sie das Höchstmaß an Leistung aus den Arbeitskräften herauszupressen.

Die spanischen Kolonialisten, die zunächst vor allem von der Gier nach Gold und anderen Edelmetallen getrieben waren, merkten bald, dass diesbezüglich in der Karibik relativ wenig zu holen war. Sie erkannten aber, dass die Inseln ein großes landwirtschaftliches Potential besaßen. Vor allem das aus Indien nach Europa eingeführte Zuckerrohr, das bereits in Sizilien und den ersten portugiesischen Kolonien (Kapverden, São Tomé) angebaut wurde, gedieh hier hervorragend. Zumal der neue Süßstoff Zucker – bis dahin war in Europa nur Honig zum Süßen verwendet worden – zunächst im Adel, später auch im städtischen Bürgertum äußerst begehrt war. Süffisant zeigt Peter Martin in einem Kapitel auf, dass auch dieses „Bedürfnis“ erst geweckt werden musste, und beschreibt, welche Rolle die „Pharmaindustrie“, sprich die Apotheker, dabei spielten, dass sich die Nachfrage nach Zucker in Europa im Laufe des 16. Jahrhunderts versechsfachte. Man war schon damals kreativ, wenn es galt, neue Krankheiten zu erfinden und die entsprechenden Medikamente anzubieten.

Doch dass eine Region gute Bedingungen für das Wachstum bestimmter Pflanzen bietet, ist die eine Sache. Um sie anzubauen, braucht es Arbeitskräfte. Die indigenen EinwohnerInnen der Inseln betrieben Subsistenzwirtschaft, sie kultivierten und sammelten das, was sie für das Überleben benötigten. Neue Agrarprodukte für einen imaginären Markt zu produzieren, war ihnen absolut fremd. Zunächst versuchten die spanischen Eroberer, Bauern aus dem „Mutterland“ in der Karibik anzusiedeln. Doch die zeigten wenig Interesse, unter den extremen klimatischen Bedingungen zu arbeiten. In die „Neue Welt“ kamen Spanier, um ihr „Glück“ zu machen, sprich Gold und Silber zu finden. Und diesbezüglich bot das später „entdeckte“ Mexiko interessantere Perspektiven, als auf der Insel Hispaniola (auf der heute Haiti und die Dominikanische Republik liegen) auf den Feldern zu arbeiten.

Weil keine freien Bauern zu gewinnen waren, setzte man auf Lohnarbeit. Auch hier dachte man zunächst an Arbeitskräfte von der iberischen Halbinsel. Dabei hatte man jene im Sinn, die durch die Ausweitung der Weideprivilegien für adlige Schafzüchter ihre landwirtschaftliche Subsistenzbasis verloren hatten und nun versuchten, als BettlerInnen, HausiererInnen, VagabundInnen zu überleben. Vor allem das Betteln wurde in Spanien massiv reglementiert. Wer gegen die neuen Verordnungen verstieß, wurde hart bestraft. Dennoch ließen sich nur wenige als „freie Lohnarbeiter“ für die Agrarproduktion in den neuen Kolonien rekrutieren. Also begann man, die indigene Bevölkerung zur Fronarbeit zu verpflichten. Doch auch das zeigte nur begrenzten Erfolg, weil diese, wie oben erwähnt, keine Überschussproduktion kannte. Die meisten überlebten die Arbeit auf den Pflanzungen nicht lange, anders als die Indígenas in den Anden, die schon im Inkareich an organisierte arbeitsteilige Tätigkeiten und die Produktion über den Eigenbedarf hinaus gewöhnt waren.

Dazu kam, dass sich die Zahl der Indigenen in den ersten Jahren der Anwesenheit der Kolonialisten radikal verminderte: Sie starben zu Tausenden an den Krankheiten, die die Spanier aus Europa einschleppten und gegen die die UreinwohnerInnen keine Abwehrkräfte hatten. Bereits 1508 waren von der rund eine Million Indigenen auf Hispaniola nur noch 30 000 übriggeblieben. Um 1570 war die indigene Bevölkerung weitgehend ausgerottet.

Keine 15 Jahre nach der „Entdeckung“ Hispaniolas brachte man die ersten AfrikanerInnen zur Zwangsarbeit auf die Insel. Martin zeigt, dass die Sklaverei nicht erst mit der Expedition des Kolumbus begonnen hatte. Bereits im 14. und 15. Jahrhundert gab es in Spanien und Portugal schwarze SklavInnen, im größeren Stil wurden sie schon Ende des 15. Jahrhunderts nach Sao Tomé und auf die Kapverden verschleppt. War das Schiff, das 1505 die ersten 17 schwarzen Zwangsarbeiter nach Hispaniola brachte, noch von Sevilla aus gefahren, gingen die Transporte mit der Systematisierung des Sklavenhandels direkt von den Westküsten Afrikas in die Karibik. Afrikanische und arabische Subunternehmer betrieben den Menschenraub in Westafrika; europäische Schiffe brachten die Gefangenen in die Karibik oder aufs amerikanische Festland, und die bürgerliche Händlerelite aus Madrid, Lissabon, Amsterdam, London, Paris und Nürnberg organisierte das Ganze und steckte das Gros der Gewinne ein. So wurden über mehr als drei Jahrhunderte Millionen von Menschen aus Afrika verschleppt und versklavt.

In „Zucker für die Welt“ stellt Peter Martin dar, wie die Arbeitsabläufe auf den Plantagen organisiert waren. Dazu gehörte auch, dass die SklavInnen kaserniert und nach Geschlechtern getrennt wurden – ein menschlichen Bedürfnissen entsprechendes Sexual- und Liebeslieben oder dauerhafte Beziehungen waren ihnen nicht gestattet. Die Pflanzer waren auch meist nicht an ihrer Reproduktion interessiert, denn es war billiger, neue ZwangsarbeiterInnen aus Afrika zu importieren, als Kinder auf den Plantagen aufzuziehen. So suchte man das Maximale an Arbeitsleistung aus den SklavInnen herauszupressen. Arbeitstage von 16 bis 18 Stunden waren keine Seltenheit. Gegen Ende der Kolonialzeit lag die durchschnittliche Lebenserwartung eines Sklaven/einer Sklavin nach Ankunft auf der Insel Hispaniola bei sieben Jahren. Für die Plantagenbesitzer war es dennoch ein lohnendes Geschäft, denn die Kosten, die sie für neue SklavInnen aufbrachten, waren bereits nach einem Jahr amortisiert.

Wer das geforderte Arbeitspensum nicht erfüllte, eine der vielen Auflagen oder Verbote missachtete oder einen Fluchtversuch unternahm, wurde Opfer grausamer körperlicher Strafen. Doch trotz aller Kontrolle und Repression konnte sich die Pflanzeroligarchie ihrer Sache nie sicher sein. Immer wieder kam es zu Aufständen und Widerstand. Entlaufene SklavInnen zogen sich in Berge und Wälder zurück, schlossen sich zusammen und verteidigten sich gegen die von den Plantagenbesitzern und Kolonialbehörden ausgesandten Strafexpeditionen.

Die spannende und fundiere Darstellung wird abgerundet von einem letzten Kapitel, in dem der Autor das Ende der Sklaverei und der Plantagenwirtschaft auf Hispanola schildert. Leider ist dieser Epilog im Unterschied zu den anderen Abschnitten des Buches etwas verkürzt. Martin schreibt, Toussaint L'Ouverture, der Führer der Aufstandsbewegung Ende des 18. Jahrhunderts, habe die Unabhängigkeit Haitis proklamiert, was das Ende der Rohrzuckerfabrikation auf Hispaniola markierte. Das ist nicht ganz korrekt. L'Ouvertures Kampf richtete sich gegen das System der Sklaverei. Die Zugehörigkeit Saint Domingues, des späteren Haiti, zu Frankreich und die Zuckerproduktion stellte er dagegen nicht in Frage. Er wollte die ehemaligen SklavInnen zu LohnarbeiterInnen in der Zuckerwirtschaft machen. In der Fortführung der Plantagenökonomie, auf der allein die Wirtschaft Saint Domingues basierte, sah er die einzige Möglichkeit, die Autonomie der Kolonie und die Emanzipation der Schwarzen zu verteidigen. Das widersprach natürlich den elementaren Interessen der ehemaligen SklavInnen, die die Revolution vor allem gemacht hatten, um dem Terror der Plantagen zu entkommen. Mit einem 1800 erlassenen Arbeitspflichterlass versuchte L'Ouverture, den Massenexodus der Schwarzen von den Plantagen zu stoppen.

Erst als Napoleon ein Expeditionscorps nach Saint Domingue entsandte und Toussaint L'Ouverture festnehmen und nach Frankreich deportieren ließ (wo er 1803 im Kerker verhungerte), vollzogen die Generäle der schwarzen Befreiungsarmee um Jean-Jacques Dessalines und Henri Christophe den Bruch mit der Kolonialmacht. Nach dem Sieg über die französischen Truppen proklamierte Dessalines 1804 die Unabhängigkeit Haitis. Henri Christophe versuchte noch bis 1820 in dem von ihm beherrschten Norden die Plantagenwirtschaft aufrechtzuerhalten, weil sich nur über deren Erlöse die zur Verteidigung der Unabhängigkeit notwendigen Waffen beschaffen ließen. Doch gelang dies nur mit zunehmender Repression. Nicht einmal die schwarzen Revolutionäre Toussaint L'Ouverture und Henri Christophe konnten die Menschen ohne Zwang zur Arbeit in der Zuckerproduktion mobilisieren. Nach dem Tod Henri Christophes war die Ära der Zuckerplantage in Haiti Geschichte, oder wie Peter Martin es formuliert: „Am Ende der Kolonialzeit zeigte sich so, was man schon in den ersten Tagen der Kolonie schmerzlich erfahren hatte: Freie Lohnarbeiter und für die Unternehmer annehmbare Verwertungsbedingungen ihres Kapitals in diesem Wirtschaftszweig ließen sich hier nicht vereinen.“

In verschiedenen Veröffentlichungen ist bereits früher herausgearbeitet worden, welchen Einfluss das in den Kolonien akkumulierte Kapital für die Entwicklung des europäischen Kapitalismus hatte. Das spannende Neue an Peter Martins Analyse ist, dass auch die den Kapitalismus bis heute prägenden Arbeitsbeziehungen ihre Wurzeln in der kolonialen Plantage haben. Mit dem Buch ist es dem Autor gelungen, eine ebenso interessante wie verständliche Geschichte des Zuckers vorzulegen. Dazu ist es ansprechend gestaltet und mit zahlreichen interessanten wie nützlichen Abbildungen illustriert, die die Aussagen des Textes sehr gut ergänzen.

Peter Martin: Zucker für die Welt. Die Anfänge der Sklaverei und der Fabrikgesellschaft in Amerika, Universitätsverlag der TU-Berlin, 133 Seiten A4, zahlreiche Abbildungen, 18,- Euro, Bezug: Buchhandel oder  publikationen@ub-tu-berlin.de (+ 2,00 Euro Porto)