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Interessen und Instrumentalisierungen

Max Meiers Untersuchung über die andine Festkultur
Gert Eisenbürger

Unter dem Titel „Engel, Teufel, Tanz und Theater“ hat Max Meier (vgl. den vorangegangenen Beitrag) im Jahr 2008 seine Dissertation über die Festkultur in den peruanischen Anden veröffentlicht. Ins Zentrum seiner Studie stellt er die Feierlichkeiten zu Ehren der Virgen de Candelaria, die jährlich Anfang Februar in der am Titicacasee gelegenen Stadt Puno begangen werden. Heute gelten die mehrtägigen Aktivitäten um Maria Lichtmess als eines der wichtigsten Feste in Peru und ziehen nicht nur viele BesucherInnen aus der Region, sondern auch Ströme von TouristInnen aus dem In- und Ausland an.
Doch bevor Max Meier die wechselvolle Geschichte und die vielfältigen Veränderungen des Candelariafestes in Puno analysiert, stellt er nach dem obligatorischen Überblick über die Dimensionen des Themas, Forschungsstand und Materiallage zunächst die Geschichte des Katholizismus und speziell des Marienkultes in den Anden dar. Nachdem die spanischen Eroberer in verschiedenen theologischen Disputen für sich geklärt hatten, dass die „Wilden“, sprich die autochthonen BewohnerInnen Amerikas, doch Menschen seien, begannen sie diese zu christianisieren. Die zunächst mit der Mission beauftragten Dominikaner, die in Europa für die Inquisition zuständig waren, gingen dabei äußerst brachial vor. Sie tauften die Indígenas zwangsweise und drohten denjenigen mit drakonischen Strafen, die es weiterhin wagen sollten, ihre religiösen Traditionen zu pflegen.

Ab 1576 übernahmen die Jesuiten die „Indianermission“ und gingen dabei wesentlich intelligenter vor. Ihnen war klar, dass es zur langfristigen Absicherung der spanischen Herrschaft notwendig war, das Christentum tatsächlich in den Köpfen der Indígenas zu verankern. Dafür lernten sie autochthone Sprachen wie Quechua oder Aymara und setzten sich mit der Kosmovision der indigenen Kulturen auseinander. Anders als im Katholizismus wurden deren Gottheiten nicht verehrt, weil sie gut und heilig waren, sondern weil sie zentrale Naturgewalten repräsentierten, den Regen, die Erde, den Donner usw. Diese mussten durch Opfer dazu gebracht werden, sich zu revanchieren und zum Beispiel eine gute Ernte zu ermöglichen. Die Jesuiten versuchten einerseits an dieser Weltsicht anzusetzen, indem sie den Leuten erklärten, der christliche Gott und die Heiligen seien ungleich mächtiger und damit nützlicher als ihre Götter. Andererseits versuchten sie den Indígenas zentrale Inhalte des Christentums durch Predigten und religiöse Theaterstücke nahezubringen.

Dabei akzeptierten sie durchaus theologische Ungenauigkeiten – was kulturell erhebliche Konsequenzen hatte. Zwar erklärten sie die Heiligen nicht zu Göttern, was jeder katholischen Dogmatik widersprochen hätte, ließen aber zu, dass die Indígenas sie als etwas Götter-ähnliches betrachteten, auch wenn sie dies natürlich offiziell nie verkündet hätten. So nahmen sie zum Beispiel billigend in Kauf, dass in der Jungfrau Maria auch die Pachamama (Mutter Erde) verehrt wurde. Laut Meier sind einige Ethnologen gar der Ansicht, die „Karriere“ der Pachamama in der indigenen Kosmovision sei durch den Kolonialismus richtig befördert worden. Vorher sei sie nur eine von mehreren wichtigen Gottheiten gewesen, erst ihre Verbindung mit der Jungfrau Maria habe ihr die herausragende Bedeutung zuteilwerden lassen, die sie heute für die Weltsicht vieler Indigenen habe.

Jedenfalls wurde die Jungfrau Maria im andinen Katholizismus, aber auch in ganz Lateinamerika bald zur populärsten Heiligen. Zu ihr, sprich zu Marienbildern oder -figuren, pilgerten bald auch die Indígenas, wenn sie ein Anliegen hatten. Ihr brachten sie nun ihre Opfergaben dar und erwarteten im Gegenzug Hilfe.

Angesichts dieser zentralen Bedeutung der Virgen in der Volksreligiösität bot es sich für die Mächtigen geradezu an, den Marienkult für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Immer wenn es galt, bestimmte soziale und ethnische Gruppe zu befrieden oder auch zu mobilisieren, erschien die Jungfrau jemandem – bevorzugt Kindern – und überbrachte die gewünschten Botschaften. Am Ort eines solchen „Wunders“ wurde alsbald eine Kirche errichtet, zu der die Gläubigen dann pilgern und den Segen der Jungfrau erbitten konnten – dies übrigens nicht nur in Lateinamerika, sondern auch in Europa, am bekanntesten sicher die Wallfahrtsorte im südfranzösischen Lourdes und im portugiesischen Fatima.

Die bemerkenswerte „Karriere“ der Virgen de Candelaria von Puno begann nach den großen Aufständen zu Beginn der 1780er-Jahre, als indigene Truppen unter Führung von Tupac Amaru im heutigen Peru und Tupac Katari im heutigen Bolivien große Teil des Altiplano, des Andenhochlands, unter ihre Kontrolle gebracht hatten und die noch von den Spaniern gehaltenen Städte belagerten. Puno sei einer Legende nach vor der Einnahme durch die Indioheere gerettet worden, weil seine (nicht-indigenen) BewohnerInnen die Statue der Virgen in einer Lichterprozession durch die Stadt getragen hätten. Der helle Schein der Lichter habe die Belagerer so erschrocken, dass sie sich zurückgezogen hätten. In der Zeit nach der militärischen Niederschlagung des Aufstands kam es für Kolonialmacht und Kirche darauf an, auch die ideologische Hegemonie im Altiplano zurückzugewinnen, also die aufrührerischen Ideen in den Köpfen der Indígenas zu eliminieren. Dazu bot sich die auch bei diesen beliebte Jungfrau Maria an. Durch ihre „Rettung“ Punos habe sie, so die herrschende Propaganda, deutlich gemacht, dass Aufstände gegen die koloniale Ordnung nicht in ihrem Sinne seien. Die Virgen de Candelaria wurde zur Jungfrau der Indios erklärt.

Obwohl deren Verehrung durch die indigenen Bauern und Bäuerinnen der Region von Kirche und Eliten gefördert wurde, wollten die rassistischen weißen Städter mit den indigenen Gläubigen möglichst nichts zu tun haben. Daher stand die Figur der Virgen de Candelaria nicht etwa in der Kathedrale, der Hauptkirche der Weißen, sondern in einer schlichten und schmucklosen Kirche am Stadtrand. Das musste für die Indígenas reichen. Auch von der nun alljährlich zu Mariä Lichtmess (2. Februar) stattfindenden Prozession hielten sich die alteingesessenen BürgerInnen Punos fern.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlebte die Stadt einen Entwicklungsschub. Durch den Bau der Eisenbahn nach Arequipa und die Aufnahme der Dampfschifffahrt auf dem Titicacasee nahm der Handel einen beträchtlichen Aufschwung. Angezogen durch die neuen Jobs bei der Eisenbahn und im Hafen kamen zahlreiche Menschen aus dem indigenen Umland nach Puno. Von den rassistischen weißen und mestizischen Städtern ausgegrenzt, suchten diese indigenen ArbeiterInnen, HandwerkerInnen und KleinhändlerInnen ihren Platz in der Stadt. Da sie zu den Vereinigungen und Festivitäten der Eliten, wozu auch der Karneval gehörte, keinen Zutritt hatten, machten sie die Candelariaprozession zu ihrer Sache. Mit ihren berufsständischen Vereinigungen beteiligten sie sich daran und gaben deren Gestaltung neue Impulse. Schon vorher wurde bei der Prozession nicht nur die Figur der Virgen durch die Straßen getragen, sondern – vermutlich in der Tradition der Missionstheaterstücke der Jesuiten – auch der Kampf des Erzengels Michael gegen Teufel, also die abtrünnigen Engel, dargestellt. Daraus entwickelten sich nun durch die Partizipation der indigenen Arbeiter- und Handwerkervereine Tanz- und Kostümgruppen. Die Prozession nahm dadurch eher den Charakter eines karnevalistischen Umzugs an. Die tanzenden, wild maskierten und kostümierten Teufel wurden bei den ZuschauerInnen deutlich populärer als die eher langweiligen Erzengel.

Im weiteren Verlauf seiner Arbeit zeichnet Max Meier auf, wie sich die ökonomischen, politischen und kulturellen Entwicklungen in Puno und Peru in den folgenden Jahrzehnten auf die Gestaltung des Candelariafestes auswirkten und beständig Neuerungen forcierten. So begannen sich neue gesellschaftliche Gruppen, etwa als HändlerInnen und (Klein-)UnternehmerInnen zu Geld gekommenen Cholos/as (städtische Indígenas) und Mestizen, die von den alten weißen Eliten trotz ihres relativen Wohlstands weiter verachtet wurden, in den fünfziger und sechziger Jahren bei den Festivitäten in Szene zu setzen. Sie besorgten sich aufwendige Kostüme im bolivianischen Oruro, dessen mit dem Candelariafest verknüpfter Karneval zu den bedeutsamsten Festen im Andenhochland gehört, oder engagierten professionelle bolivianische Musikkapellen. Auch das Engagement von Medien, Unternehmen (Brauereien!) und Institutionen brachte Neuerungen im Festprogramm wie etwa Wettbewerbe. So zeigt Max Meier sehr fundiert und detailreich auf, dass Feste und deren Entwicklung immer ein Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen und Veränderungen sind.