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Das Abseits als sicherer Ort

Susana Gertopáns Roman „Die dunkle Gasse“

Abgesehen vom großen Romancier Augusto Roa Bastos ist die paraguayische Literatur im deutschsprachigen Raum weitgehend unbekannt. Dass dies nicht ihrer Qualität, sondern eher dem Desinteresse des hiesigen Literaturbetriebs geschuldet ist, zeigt der 2012 im Verlag Hentrich & Hentrich erschienene Roman „Die dunkle Gasse“ von Susana Gertopán.

Gert Eisenbürger

Dieses Buch ist für mich eine der spannendsten literarischen Reflexionen darüber, welche Beschädigungen Migration Menschen zufügen und was sie ihnen an psychischen Leistungen abverlangen kann. Und zwar nicht nur der Generation, die ihre Heimatländer verlässt und anderswo eine sichere Perspektive sucht, sondern auch deren Kinder, die ihren Platz in Gesellschaften finden müssen, in denen ihre Eltern zwar leben, aber oftmals nie wirklich angekommen sind.

José, der Ich-Erzähler, erhält eines Tages Post von seinem Cousin Ariel, der einst mit seinen Eltern aus Paraguay weggezogen war und nun seinen dort gebliebenen Vetter bittet, ihm über ihre gemeinsame Jugend zu berichten. Inzwischen alt geworden, hat Ariel das Gefühl seine Wurzeln und letzt­lich seine Identität zu verlieren. Obwohl sich in ihm vieles gegen die Erfüllung der Bitte des Cousins sträubt, willigt José schließlich ein und beginnt eine schwierige Reise in die eigene Vergangenheit.

Ariel und José wurden beide in Asunción geboren. Ihre Eltern, polnische Juden, waren erst kurz vor ihrer Geburt in Paraguay eingewandert, weil sie sich in der Heimat ihres Lebens nicht mehr sicher waren. Die zurückgebliebenen Verwandten fielen dem Terror der Nationalsozialisten zum Opfer. Die Eltern von Ariel und José waren tief traumatisierte Menschen, die eines Tages in ein Land verpflanzt worden waren, mit dem sie wenig anzufangen wussten. Auch wenn sie sich als HändlerInnen eine bescheidene Existenz aufbauen konnten, blieben ihnen Klima, Kultur und die Menschen Paraguays fremd. Spanisch sprachen sie gerade so viel, wie es für ihre Geschäfte notwendig war, dass im Alltag von den meisten ParaguayerInnen gesprochene Guaraní verstanden sie gar nicht. Sie blieben in der kleinen polnisch-jüdischen Gemeinschaft unter sich und sprachen miteinander Jiddisch. Nachdem Ariels Familie weggegangen war – es bleibt offen ob nach Israel, in die USA oder nach Argentinien –, sprachen auch Josés Eltern immerfort davon, Paraguay zu verlassen, doch unternahmen sie nichts, dieses Ansinnen in die Tat umzusetzen.

Ihre ganzen Hoffnungen ruhten auf José, dem einzigen Sohn. Der sollte studieren und eine akademische Laufbahn einschlagen. Doch José wollte sich dem Erwartungsdruck und dem bedrückenden häuslichen Klima entziehen. Ihn interessierte genau das, wovor sich die Eltern fürchten, die Gassen des Viertels, die einfachen Kaschemmen und vor allem der große Markt, ganz in der Nähe des elterlichen Ladens. Dort sollte er nicht hingehen. Eines Tages ignorierte der in­zwischen Herangewachsene das Verbot und entdeckte eine andere Welt: die der popularen Schichten, ihrer Küche und ihrer sozialen Beziehungen. Ihm wurde klar, dass seine Vorstellung, es gäbe nur das selbstgewählte jüdische Ghetto auf der einen und das wirkliche Paraguay auf der anderen Seite, nicht der Realität entsprach. Vielmehr kreuzten sich auch jenseits des jüdischen Milieus die unterschiedlichsten Kulturen und ethnischen Gruppen. José lernte BinnenmigrantInnen aus den ländlichen Regionen, Indígenas, galizische EinwanderInnen kennen. Sie alle waren nicht wirklich in der Stadt angekommen.
Nach einiger Zeit fand sich José unweit des Marktes plötzlich in der verruchten dunklen Gasse wieder, in der Glücksspieler, Huren, Bettler und Wunderheilerinnen ihre Dienste anboten. Diese Welt zog ihn magisch an, hier würde er sich eines Tages – zum Entsetzen seiner Eltern – als Heilpraktiker und Kräuterkundiger niederlassen.

Über Susana Gertopáns Roman liegt eine tiefe Melancholie. José, der der bedrückenden und traurigen Stimmung seines Elternhauses zu entkommen suchte, fand zwar seinen Platz, jedoch ganz am Rande der Gesellschaft. Er gehörte zu denen, die gebraucht, nicht aber anerkannt oder gar gemocht wurden. Sexuelle Befriedigung kaufte er sich bei Huren, zu einer dauerhaften Beziehung oder Liebe ist er nicht fähig gewesen.
Zu der Unsicherheit und dem Misstrauen der verschiedenen Gruppen von MigrantInnen untereinander, kam das politische Klima der über 30 Jahre währenden Stroessner-Diktatur, das seine ganze Generation prägte. Man lernte niemanden zu trauen, jedeR konnte ein Spitzel des Regimes sein.

Doch jenseits dieser dunklen Grundstimmung, hat der Roman eine ganz eigene Poesie und wird von einer besonderen Spannung getragen. Dies nicht nur, weil Ariel und José als Jugendliche in der dunklen Gasse ein zutiefst verstörendes Erlebnis hatten, das beide zeitlebens beschäftigt, aber erst am Ende des Romans enthüllt wird.

Die Autorin spielt mit den Mustern und Erwartungen des bürgerlichen Entwicklungsromans und bricht diese, weil sie von der Wirklichkeit gebrochen werden. Der Jugendliche aus guten Hause, der zunächst gegen die bürgerliche Gesellschaft aufbegehrt, um dann ein nützliches Mitglied derselben zu werden, kann für José mit seinem biographischen Hintergrund und seiner psychischen Disposition kein Leitbild sein. Ihm bleibt nur „das Abseits als sicherer Ort“, wie der Sozialpsychologe und Publizist Peter Brückner einst sein persönlichstes Buch betitelt hat.

Vgl zu Augusto Roa Bastos eine Rezension in ila 33x.