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Bausteine der Befreiung

Neu gelesen: Omar Saavedra Santis' Roman über die Regierungszeit der Unidad Popular in Chile
Gert Eisenbürger

Im Jahr 1986 erschien im Verlag Neues Leben in Ost-Berlin der Roman „Die große Stadt“ des damals in der DDR im Exil lebenden chilenischen Autors Omar Saavedra Santis. Es folgte noch eine zweite Auflage in einem Berliner Kleinverlag in den neunziger Jahren. Doch bis heute ist der Roman nicht im spanischsprachigen Original erschienen. Ein Vorhaben, ihn zum 40. Jahrestag des Militärputsches erstmals in Chile zu veröffentlichen, war leider nicht erfolgreich. Dies ist äußerst bedauerlich, denn „Die große Stadt“ ist für mich einer der wichtigsten Romane des chilenischen Exils und vielleicht der Schlüsselroman über die Regierungszeit der Unidad Popular. Drei Jahre, in denen alles möglich schien, was sich die chilenische und weltweite Linke von einem sozialistischen Entwicklungsweg in Freiheit und Selbstverwaltung jenseits sozialdemokratischer und realsozialistischer Modelle erhoffte. Genau davon erzählt „Die große Stadt“. Da man weiß, wie der Traum des chilenischen Sozialismus vernichtet wurde, liegt es auf der Hand, dass ein guter Roman über diese Epoche sowohl die faszinierende Aufbruchstimmung als auch die transnationale Verschwörung zu deren Zerstörung reflektiert und verarbeitet.

Die Handlung siedelt Omar Saavedra Santis in der „Großen Stadt“ an, unschwer als die Hafenstadt Valparaíso zu erkennen, aus der der Autor stammt und in der er vor dem Putsch als linker Journalist gewirkt hat. Nach dem Wahlsieg der Linken ernennt der Präsident den Gewerkschafter Pancho Benavente aus Valparaíso zum Minister für Kunst und Kultur (der Name Allende wird im Buch nie erwähnt, seine Darstellung und Charakterisierung ist aber eine ganz eigene Geschichte und Qualität innerhalb des Romans). Er begründet diese durchaus überraschende Entscheidung – Benavente ist eher das Gegenteil von einem linken Intellektuellen – damit, dass es Ziel der neuen Regierung sei, auch den sozialen Sektoren, die bisher vom kulturellen Leben ausgeschlossen waren, eine Beteiligung an diesem zu ermöglichen. Der neue Minister ist zunächst ratlos, was er mit seinem Amt anfangen soll, erinnert sich dann aber an seinen alten Bekannten Oliverio Sotomayor, den Betreiber jener Leihbücherei, in der er lange Kunde war, auch wenn sein Interesse nicht über kitschige Unterhaltungsromane hinausging. Oliverio unterbreitet er das Angebot, das neugeschaffene Amt des Generalsekretärs der Volksbibliotheken zu übernehmen, für das es allerdings weder einen Etat zur Anschaffung von Büchern noch zur Ausstattung von Büchereien gibt.

Nachdem er zunächst ablehnen will, reizt Oliverio die Aufgabe dann doch und er sagt zu. Anstelle der nicht zur Verfügung stehenden Bücher und angesichts der hohen Analphabetenquote entscheidet er sich für den Einsatz von „Hörbüchern“, allerdings nicht solcher auf Kassette oder CD, die erst zwei Jahrzehnte später erfunden wurden, sondern für „sprechende Bücher“. Er baut Brigaden von Kindern und Jugendlichen auf, die jeweils einen Buchtitel aus der Weltliteratur auswendig lernen. Diese rezitieren sie in Betrieben, Gefängnissen, Krankenhäusern, auf Dorfplätzen oder in Agrarkooperativen. Überall wo die „Sprechenden Bücher“ auftauchen, hören die Menschen gebannt zu und diskutieren anschließend angeregt darüber, wobei sie das Handeln und die Motive der Romanfiguren anhand ihrer eigenen Lebensrealität und -erfahrung reflektieren und beurteilen. Neben verschiedenen sozialen Errungenschaften wie dem halben Liter Schulmilch/-kakao für alle Kinder werden die „Sprechenden Bücher“ zu einem großen propagandistischen Erfolg der Linksregierung. Sie sind den Leuten ein Beleg dafür, dass wirklich revolutionäre Veränderungen in Gang gekommen sind, die die Teilhabe aller ChilenInnen an den materiellen und kulturellen Erzeugnissen des Landes zum Ziel haben.

Dies ruft die reaktionären Kräfte auf den Plan, die mit Hilfe der „Firma“, des Geheimdienstes eines großen Staates im Norden des amerikanischen Kontinents, bereits einen großangelegten Plan zur Destabilisierung und zum Sturz der Volksregierung umsetzen. Kopf dieser Kräfte ist der frühere Geheimdienstchef Bruno Perthel, ein Spross der reichsten Familie der großen Stadt. Für ihn ist die Niederschlagung des Gleichheitsanspruchs der bisher Deklassierten eine persönliche Herausforderung. Diesen Leuten, die sich erdreisten, den Status quo infrage zu stellen, will er eine Lektion erteilen und ihnen klarmachen, wer im Land das Sagen hat. Die tonangebenden Kräfte der chilenischen Rechten und des Militärs verachtet er ebenso wie den afroamerikanischen Repräsentanten der „Firma“; er braucht sie, sie sind aber nur Statisten in seinem Feldzug.

In überzeugenden Bildern und Episoden zeigt „Die große Stadt“, wie beide Seiten ihre Stärken ausspielen, wie es der Unidad Popular zunächst kreativ gelingt, auf die Destabilisierungsakte und terroristischen Angriffe erfolgreich zu reagieren, wie es die Gegenseite aber zunehmend schafft, durch den Einsatz ihrer ökonomischen, propagandistischen – die Darstellung der perfiden Propagandakampagne der Zeitung El Monitor alias El Mercurio gegen die Regierung ist eine weitere eigene Geschichte im Roman – und schließlich militärischen Kapazitäten die Oberhand zu gewinnen. Von Beginn an läuft „Die große Stadt“ auf den großen Showdown hinaus, von dem die geschichtskundigen LeserInnen allerdings von vorneherein wissen, wie er endet.

Jenseits der Darstellung und Aufarbeitung eines zentralen Kapitels der chilenischen Geschichte spricht „Die große Stadt“ aber auch ein Thema an, mit dem sich die Linke stets schwergetan hat, nämlich den Umgang mit dem kulturellen Erbe, also den künstlerischen Werken, die in der Vergangenheit geschaffen wurden. Denn es ist ja nicht einfach so, dass diese das „Gute, Schöne und Wahre“ repräsentieren, wie es Schöngeister und Kulturinstitutionen gerne behaupten. Sie sind das ideologische Grundgerüst der Konstitution des bürgerlichen Individuums und Instrumente zur Selbstvergewisserung der Identität der Eliten. Gleichzeitig gehen viele Kunstwerke aber darüber hinaus. Sie analysieren scharfsinnig die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft und offenbaren Sehnsüchte nach solidarischeren Gesellschaften, in denen das Streben nach Profitmaximierung nicht die entscheidende Triebkraft wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Handels ist.

Peter Brückner hat sich in seinen grundlegenden Büchern „Zur Sozialpsychologie des Kapitalismus“ (1972) und „Psychologie und Geschichte“ (1982) kritisch mit der Bildungskonzeption der deutschen Arbeiterbewegung und den Arbeiterbildungsvereinen im 19. Jahrhundert auseinandergesetzt. Nach seiner Analyse hatten die Führer der frühen deutschen Sozialdemokratie ein ungebrochenes Verhältnis zur bürgerlichen Kultur. Die Arbeiterbildungsvereine zielten darauf, dass die ArbeiterInnen durch „maßvolle Leitung und Haltung“ sich einen höheren moralischen Boden in der bürgerlichen Gesellschaft erwerben.

Die Übernahme bürgerlicher Normen, Werte und Identitätsvorstellungen durch die Rezeption belletristischer Bücher, Theaterstücke oder Werke der bildenden Kunst war für die frühe Sozialdemokratie nicht etwa ein Problem, sondern war ausdrücklich erwünscht. Damit wurde die kulturelle Hegemonie des Bürgertums von vorneherein anerkannt und gar nicht erst der Versuch unternommen, ihr eine eigene proletarische Kultur mit ganz anderen Normen und Werten entgegenzusetzen. Und das führte auch dazu, dass Teile der linken Kunstrezeption besonders konservativ daherkamen und die Werke der antibürgerlichen Avantgarde ablehnten (antibürgerlich ist hier ideologisch verstanden, von ihrer Herkunft her kamen die KünstlerInnen der Avantgarde sehr wohl aus dem Bürgertum).

Jener Arbeiterbildungskonzeption, die die ArbeiterInnen durch Bildung und Beschäftigung mit Werken der „Hochkultur“ auf ein „höheres“ kulturelles Niveau im Sinne der geschmacksbildenden Sektoren des Bürgertums bringen wollte, setzt Omar Saavedra Santis ein anderes Konzept entgegen, nämlich dasjenige, sich nur solche Teile der bürgerlichen Kunst anzueignen, die für das eigene Leben und die Befreiung hilfreich sind. Die sehr humorvollen Passagen, in denen die Leute nach den Rezitationen der „Sprechenden Bücher“ über die Handlungsmotive bestimmter Romanfiguren streiten und manche gutheißen und andere kritisieren, sind also keineswegs so harmlos, wie sie zunächst klingen. „Tupi or not to be“, hatten Oswald de Andrade und die brasilianischen Intellektuellen 1928 in ihrem „Anthropofagischen“ Manifest (in etwa: Kannibalischen Manifest) gefordert und damit gemeint, der Kontinent müsse aufhören, Europa zu kopieren.

Um zu einer genuin lateinamerikanischen Kultur zu kommen, müsse man sich auf die eigenen Wurzeln besinnen, sich aber sehr wohl alles von der europäischen Kultur und Geistesgeschichte aneignen, verspeisen, was für die lateinamerikanische Befreiung hilfreich und nützlich sein könne. Alles andere solle freilich auf dem Müllhaufen der Geschichte landen. Ähnlich sahen es auch die iberischen und lateinamerikanischen AnarchistInnen, die in ihren soziokulturellen Zentren, den Ateneos, mit als erstes Bibliotheken einrichteten, wo sie alle Bücher aufnahmen, die sie nur bekommen konnten – die Bücher dann aber auf ihre Art lasen und diskutierten.

So ist „Die große Stadt“ mehr als ein Roman über eine Epoche. Es ist ein Buch, das daran erinnert, dass Befreiung möglich ist, dass es Utopien braucht, um Menschen dafür in Bewegung zu setzen, und dass man sich das ideologische Rüstzeug für diese Kämpfe durch kollektives Studium und Reflexion aneignen muss. Unmoderne Gedanken? Wer weiß!

Omar Saavedra Santis: Die Große Stadt, Roman, Übersetzung: Leni López, Verlag Neues Leben, Berlin (DDR) 1986, 336 Seiten, geb. Neuauflage: Edition Schwarzdruck, Berlin 2001, 358 S., brosch. Beide Auflagen sind vergriffen, aber gut antiquarisch erhältlich unter www.zvab.de

Ein Lebenswege-Interview mit dem Autor ist in der ila 163 erschienen.