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(K)ein Grund zum Feiern?

Zehn Jahre MediNetzBonn bedeuten vor allem eine Anklage der bundesdeutschen Flüchtlingspolitik
Sigrid Becker-Wirth

In Deutschland leben mindestens 500 000 Menschen ohne Aufenthaltstitel, im Bonner Raum ca. 4000. Als billige Arbeitskräfte sind sie begehrt. Sie schuften als Putzhilfe, Babysitter, Küchenhilfe in Restaurants, in der Pflege von alten und kranken Menschen, auf dem Bau, immer ohne Kranken- und Sozialversicherung. Ihr bloßer Aufenthalt ist nach deutschem Rechtsverständnis ein Straftatbestand. Ein Leben in der Illegalität ist ein Leben in Rechtlosigkeit in allen Bereichen. Die ständige Furcht vor Entdeckung, Denunziation und Abschiebung prägt das Leben dieser Menschen. Krankheit wird für sie zu einem Sicherheitsrisiko und zu einer privaten Katastrophe. Aus Angst vor Abschiebung gehen sie meist nicht oder erst, wenn die Schmerzen nicht mehr auszuhalten sind, dann auf private Rechnung, zum Arzt.

Ausgelöst durch den Schwerpunkt der ila 250 („Ohne Papiere“) wurde am 10. Juli 2003 in der Bibliothek der ila die Menschenrechtsinitiative MediNetzBonn gegründet, eine medizinische Beratungs- und Vermittlungsstelle für Flüchtlinge. Ziel war es, auch in Bonn ein medizinisches Netz für eine kostenlose und anonyme medizinische, psychologische und zahnmedizinische Behandlung für Flüchtlinge ohne Papiere zu knüpfen.

Im Laufe von nunmehr zehn Jahren wurde MediNetz im Bonner Raum für Flüchtlinge ohne Papiere zum etablierten Anlaufpunkt – nicht nur in Fragen medizinischer Hilfe. Die vermittelten ambulanten Behandlungen sind kostenlos, wie es die ehrenamtliche Tätigkeit der MediNetz-MitarbeiterInnen ist. Kosten entstehen dennoch für teurere Diagnostik, Medikamente, für Krankenhausaufenthalte, Operationen, Geburten, Impfungen für die Kinder etc. Diese Ausgaben werden aus Spenden finanziert.

Jeden Montag kommen fünf bis zehn Leute in die Sprechstunde ins ila-Archiv, in zehn Jahren waren es etwa 4000 kranke Menschen ohne Papiere: Akute Zahnschmerzen, fiebriger Infekt bei einem Kind, Schwangerschaft, Blut im Urin, ein gebrochener Fuß... Beispiele ließen sich in beliebiger Zahl berichten. Mit einer Krankenversicherung meist kein großes Problem, ohne Papiere schnell Auslöser von Existenzängsten. Illegalität macht krank. Manchmal sind die Erkrankungen auch so gravierend, dass ein Krankenhausaufenthalt indiziert ist: Perforierter Blinddarm, Herzinsuffizienz, Krebsoperationen, Kopfverletzung mit schwerer Gehirnerschütterung bei einem kleinen Kind … Allen schwer erkrankten PatientInnen war und ist eines gemeinsam: Sie hätten die Kosten für die notwendigen Krankenhausaufenthalte und für die zum Teil komplizierten und lebensrettenden Operationen nicht bezahlen können.

Von Anfang an war das Anliegen von MediNetzBonn neben der praktischen Hilfe die politische Arbeit, um sich überflüssig zu machen. Die praktische Hilfe kann nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein, jedoch keine Lösung für die Hunderttausende Menschen, die ohne Aufenthaltsstaus und Krankenversicherung in Deutschland leben. Einrichtungen wie das Bonner MediNetz können das Problem nur innerhalb der Region und auch dort nur bedingt lösen. Die finanziellen und fachlichen Kapazitäten sind begrenzt, eine der Regelversorgung gleichwertige Versorgung ist nicht gewährleistet. Gleichzeitig sind solche Einrichtungen für kranke Flüchtlinge ohne Papiere oft die letzte Rettung, da sie sonst keinerlei Hilfe bekämen. Für die Arbeit war und ist MediNetzBonn kontinuierlich auf die Kooperation von Ärztinnen und Ärzten, die bereit sind, Menschen ohne Papiere kostenlos zu behandeln, auf die Zusammenarbeit mit engagierten Krankenhäusern, die stationäre Therapien zu reduzierten Sätzen durchführen, und auf Spenden angewiesen.

Das Engagement von MediNetzBonn ist notwendig, aber es schafft eine Parallelstruktur, wo eigentlich das öffentliche Gesundheitswesen gefordert wäre. Diese Arbeit wird inzwischen auch von offiziellen Stellen anerkannt und gelobt, was auch an den Preisen, die MediNetzBonn in den vergangenen zehn Jahren bekam, deutlich wurde. Es ist ein Skandal, dass es MediNetzBonn überhaupt geben muss und die Menschen ohne Papiere noch immer nicht durch das Gesundheitssystem medizinisch versorgt werden. Die Einlösung des Menschenrechts auf Gesundheit in Deutschland wird zivilgesellschaftlichen Initiativen und der kostenlosen Arbeit von engagierten HeilberuflerInnen übertragen.

Sind zehn Jahre MediNetzBonn ein Erfolg, auf den wir stolz sein können? Ja und nein! Wir haben uns nicht, wie bei unserer Gründung angestrebt, überflüssig gemacht. Davon sind wir so weit entfernt wie vor zehn Jahren, weil in Deutschland der politische Wille fehlt, endlich das Grundrecht eines jeden Menschen auf medizinische Versorgung, unabhängig von Herkunft und Status, in eine Gesetzgebung umzusetzen.

Machen wir also weiter mit dem Balanceakt zwischen Parallelstruktur, Lückenbüßerfunktion, dem Versuch, Sand im Getriebe zu sein, und unserer notwendigen Hilfe für die Flüchtlinge, die aus Not, Verzweiflung und Bedrohung in unser Land geflohen sind.

Zehn Jahre MediNetzBonn, (k)ein Grund zum Feiern? Solidaritätsparty am Samstag, den 23. November 2013 im Kult 41, Hochstadenring 41, Bonn