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Thunfisch, Autismus und Feminismus...

...haben viel miteinander zu tun im Roman „Die Frau, die ins Innerste der Welt tauchte“ von Sabina Berman
Gaby Küppers

Anfang der 90er-Jahre steht die mexikanische Thunfischindustrie vor dem Aus. Der Hauptabnehmer USA macht seine zwei Jahrzehnte schwelenden Drohungen war und verbietet die Einfuhr von Thunfisch, bei dessen Fang Delphine als Kollateralschaden mitsterben. Tatsächlich geht es brutal zu, wenn die Fischtrawler im Südpazifik auf Jagd gehen. Sobald die Mannschaft einen Schwarm Delphine auf hoher See entdeckt, werden Ringnetze ausgeworfen. Denn wo sich oben Delphine tummeln, schwimmen in tieferen Wasserzonen Gelbflossenthunfische. Wenn das Ringnetz zusammengezogen ist, wird die Beute aus dem Wasser aufs Schiffsdeck gezogen und das Gemetzel beginnt. An die vielen mitgeschlachteten Flipper aber sollen US-KonsumentInnen beim Öffnen einer Thunfischdose nicht mehr denken müssen. Tierschutzverbände und US-Konkurrenten setzten durch, dass nur noch Dosen mit dem Prädikat dolphine safe eingeführt werden durften. Das war 1994. Seither liegen die USA und Mexiko im Streit, vor allem bei der ein Jahr später gegründeten Welthandelsorganisation (WTO). Bis heute. Noch im Januar 2014 wurde erneut ein Panel zum Thema eingerichtet.

Mit der realen Schließung der US-Grenze 1994 setzt die Haupthandlung von Sabina Bermans 2010 auf Spanisch, 2012 auf Deutsch erschienenen Romans ein. Mit dem sperrigen Titel „Die Frau, die ins Innerste der Welt tauchte“ ist Karen Nieto gemeint. Die Waise ist dabei, in die im mexikanischen Mazatlán gelegene Thunfischfabrik Consuelo S.A. ihrer Tante Isabelle einzusteigen. Der Industrie geht es schlecht, der Hauptabsatzmarkt USA bricht weg. Karen hat Ideen. Sie studiert Zootechnik beim Erfinder des sogenannten humanen Tötens von Rindern und Schweinen und übernimmt dessen Technik. Fortan werden die Thunfische von Consuelo S.A. lebend an Land gebracht und erst dort mit aufgesetzter Pistole erschossen. Außerdem springt die passionierte Taucherin selbst mit weiteren Froschmännern in die Ringnetze und wirft die Delphine eigenhändig hinaus. Greenpeace erklärt die Consuelo-Thunfischdosen zu „100 Prozent dolphin safe“, ein nach Mazatlán eingeflogener US-Rabbiner legt selbst Hand an die Thunfischpistole – also alles garantiert „koscher“.

Doch es hilft nichts, der US-Markt bleibt verschlossen, dafür sorgen die dort ansässigen Konkurrenzunternehmen. Mit Hilfe Mr. Goulds, eines schottischen Milliardärs mit Sinn für geniale Geschäftsideen, wechselt Karen vom Gelb- zum Blauflossenthunfisch, erschließt neue Fischgründe im Mittelmeer und neue Absatzmärkte, vor allem in Japan. Die Thunfische landen nunmehr frisch erschossen und eingeflogen auf den Gaumen betuchter asiatischer Gourmets. Karen jetsettet und logiert in Hotelsuiten zwischen Tokio, Montreal und Paris. Nach anderen Medaillen überreicht man ihr dort gar den Coup de Coeur, den Nobelpreis der Branche. Doch im Publikum sitzen auch Tierschützer. „Mörderin!“, skandieren sie. Karen erhält Morddrohungen. Die Frau mit der Visitenkarte „Ingenieurin für humanes Schlachten“ denkt die Fakten gründlich durch. Sie verzichtet auf den Fang auf offener See, baut Käfige, vergrößert sie, schafft „Thunfischparadiese“, züchtet junge, schlachtet nur noch nach Neugeburten. Und denkt schließlich zu Ende. Teilt ihre Entscheidung ihrem Kompagnon Gould mit. Doch bevor er sie mit Entschädigungsklagen überziehen kann, schreitet Karen kurzerhand zur Tat. Es spritzt ordentlich, soviel sei hier verraten.

Das ist die eine Geschichte. Sie ist an sich schon ein bemerkenswerter Beitrag zum Thema Tier- und Umweltschutz. Weder Greenpeace noch militante Tierschützer und auch nicht die ICCAT, die weltweite Thunfischfangquoten festlegt, gehen unbeschädigt daraus hervor. Noch eine ganz andere Dimension aber bekommt der Roman durch den Kunstgriff, dass Karen Autistin ist. Sabina Berman beschreibt nicht nur die ganz eigene Wahrnehmungsweise der hochintelligenten Karen und anderer sogenannter „Menschen mit besonderen Fähigkeiten“ (gemeinhin „Behinderte“ genannt). Sie lässt sie selbst sprechen. Als 41-jährige Ich-Erzählerin betrachtet die Autistin im Rückblick ihre Entwicklung. Ihre „Behinderung“: Sie kann „erstens nicht lügen, zweitens nicht phantasieren und drittens weiß sie, was sie weiß, und nicht mehr“. Das gibt ihr einen großen Vorsprung vor dem Rest der Menschheit, denkt sie.

Apropos denken. Das cartesianische „Ich denke, also bin ich“ hält die Autistin für Schwachsinn. Darwin sollte Descartes längst ersetzt haben, meint sie. War sie doch selbst zuerst und hat erst später denken gelernt. Erst als sie fünf oder sechs war, begann sie, das sprachlose, allein am Strand von Mazatlán vegetierende Ding, sich als Ich zu konstituieren. Da nämlich nahm sich Isabelle der verwahrlosten Kleinen an, bringt ihr sprechen, benennen, „Ich“ sagen bei. Isabelle, gerade in Mazatlán eingetroffen, um die Thunfischfabrik ihrer gerade mit 67 Jahren verstorbenen Schwester zu übernehmen, hält das Findelkind für die Tochter ihrer Schwester. Dass Letztere dann mit gut 60 Jahren Mutter geworden wäre, tut nichts zur Sache.

Der Roman nämlich ist eine Versuchsanordnung, keine weitere weibliche Familiengeschichte (davon gibt es in der lateinamerikanischen Literatur wahrlich genug). Sabina Berman legt es darauf an, den weiblichen Blick auf die Dinge konsequent durchzudeklinieren. In Karens Erinnerungen geht es nicht um ihr Innenleben, nicht um einen weiblichen Entwicklungsroman, sondern um die radikale Betrachtung der Dinge von außen, ohne vorgegebenen Sinn. Daher ist das Roman-Ich Autistin. Deren früheste Erinnerung ist die mühsam gelernte Unterscheidung von Ich und Du, die Benennung der Dinge, später dann die vor-Urteils-freie Betrachtung der Thunfischproblematik. Sie glaubt zunächst den Arbeitern, dass Tiere immer schon von Menschen zum Essen getötet wurden und dass dies meistens grausam abging. Zunehmend erlebt sie, dass Thunfische im Aussterben begriffen sind. Dass die Nichte und spätere Unternehmenserbin das alles mit dem unfreiwilligen Humor derjenigen aufschreibt, die als Autistin Ironie nicht versteht, ist eine der Quellen, die das Ganze durchaus vergnüglich gestalten und eben so gar nicht als moralisches Traktat über den Umweltschutz daherkommen lassen.

Sabina Berman, 1955 geborene Mexikanerin mit jüdischen Vorfahren, hat 2012 den LiBeratur-Preis erhalten, unter anderem für „Die Frau, die ins Innerste der Welt tauchte“, ihren bislang einzigen auf Deutsch übersetzten Roman. Hoffentlich folgen bald weitere.