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Wenn der Freihandelsgeist partnerschaftlich weht

50 Jahre Entwicklungspolitik der Europäischen Union

Ist die Entwicklungspolitik der Europäischen Union (EU) besser als die der Mitgliedsstaaten? Schließlich vertritt die EU-Kommission als ausführendes Organ nicht direkt die Interessen nationaler Großunternehmen und muss nicht unmittelbar koloniale Verpflichtungen bedienen? Jein, sagt Tsigereda Walelign, langjährige Mitarbeiterin für Entwicklungspolitik der grünen Fraktion im Europaparlament. Sicher sei es bei der Schaffung einer europäischen Entwicklungspolitik darum gegangen, weiterhin Zugang zu Rohstoffen zu sichern. Aber umgekehrt hätten sich die ehemaligen Kolonialländer erstmals zusammengetan und eine gemeinsame Gruppe gebildet, die AKP-Gruppe. Zunächst die frankophonen Länder, denen die anglophonen Länder beitraten, als England 1973 Mitglied der EU wurde. Damals 77 Entwicklungsländer Afrikas, der Karibik und des Pazifiks handelten als AKP-Gruppe den ersten Vertrag, das Lomé-Abkommen, mit der damaligen EG aus, das 1975 in Kraft trat. Von dem damaligen Geist ist nichts mehr übrig, sagt Tsigereda weiter. Heute rede man von der „Agenda für den Wandel“. Statt um „Entwicklung“ – mit allen ihren problematischen Aspekten – gehe es um „Partnerschaft“. Gemeint sind aber Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (EPAs, im englischen Kürzel), die an die Stelle des Cotonou-Abkommens, das Lomé ersetzte, treten sollen. Wenn Cotonou 2020 auslaufe, gäbe es nach dem Fahrplan der EU-Kommission nur noch Freihandel. Zu diesem Zweck werde die ehemalige AKP-Gruppe derzeit in konkurrierende Regionen und einzelne EPAs aufgespalten. Ob das im Hinblick auf Lateinamerika anders sei? Tsigereda blickt erstaunt: Die spanischen und portugiesischen Kolonialzeiten seien länger her, aber es wehe der gleiche Freihandelsgeist.

Tsigereda Walelign

Wirtschaftliche Zusammenarbeit meint Entwicklungshilfe reicher Länder an weniger entwickelte, arme Länder und wird als großzügige Geste der Geberländer für die Bevölkerungen in den Nehmerländern in Afrika, Asien und Lateinamerika wahrgenommen. Mit der Entwicklungspolitik wurde vor über 50 Jahren begonnen. Die Frage, ob die betroffene Bevölkerung von dieser Zusammenarbeit etwas gehabt hat, ist zulässig. Lautet die Antwort ja, dann fragt sich, weshalb die EU eigentlich noch damit weitermacht. Ist die Antwort nein, bleibt die Frage, was schief gelaufen ist. Es gibt Stimmen, die die Entwicklungszusammenarbeit kritisieren und finden, dass es nie darum ging, den Menschen wirklich zu helfen. Eine davon gehört Dambisa Moyo, einer Wirtschaftswissenschaftlerin aus Sambia. In ihrem Buch The Dead Aid1 stellt sie fest, dass Entwicklungshilfe nicht funktioniert und schlägt eine bessere Alternative für Afrika vor.

Dem Mythos, die Milliarden von Euro, die aus den reichen Ländern in die Entwicklungsländer Afrikas fließen, würden dazu beitragen, die Armut zu mindern, stellt sie die Wirklichkeit weiter wachsender Armut und anhaltenden Leidens gegenüber. In seinem Film Fatal Assistance (ebenfalls „Tödliche Hilfe“) kommt der haitianische Filmemacher Raoul Peck zu dem selben Schluss. Er zeigt in seinem Dokumentarfilm, wie es den Menschen auf Haiti nach einer groß angelegten Hilfsaktion schlechter ging. Die Geber kamen mit ihren Experten, ihren Programmen, ihrer Strategie, mit ihrem eigenen Projekt, das sie durchzogen, ohne die Leute vor Ort zu fragen, die ihre eigenen Probleme besser kennen und passendere Lösungen gefunden hätten, wenn man sie nur gelassen hätte.

Nach der Finanzkrise von 2008, die alle Länder betroffen hat, ist die Zeit gekommen, das Wirtschaftsmodell der freien Marktwirtschaft mit seinen Konsummustern zu überprüfen, denn die Krise hat alle Sektoren erfasst, die Finanzen ebenso wie die Ernährung, die Energiewirtschaft und den Klimawandel. Radikale und echte Veränderungen in der internationalen Politik sind angezeigt, um die Menschen in den Entwicklungs- und in den Industrieländern in den Mittelpunkt zu stellen. Die Politik der Europäischen Union (EU) muss konsequent den Interessen der Entwicklungsländer dienen. Einfach Geld zu geben, wird das Armutsproblem nicht lösen, solange Handels-, Fischerei- und Landwirtschaftspolitik gegenläufig wirken, indem sie die Interessen der Investoren schützen. Bis Ende der 90er-Jahre floss die Entwicklungshilfe der EU vor allem in einzelne Projekte. Dabei geschah es nicht selten, dass bis zu 60 Prozent der bewilligten Mittel für einzelne Projekte in den AKP-Ländern innerhalb der EU ausgegeben wurden, für technische Hilfen, Machbarkeitsstudien, Expertengehälter, Untervertragsnehmer und Warenbindung. Danach wurde die Projekthilfe nach und nach durch Budgethilfe ersetzt. Dabei handelt es sich um Finanztransfers zugunsten der Entwicklungspolitik, die direkt an die Finanzministerien der Nehmerländer gehen.

Ebenso wie die traditionelle, projektgebundene Entwicklungshilfe wird auch die Budgethilfe kritisiert. So wird zum Beispiel auf die Rechenschaftslegung der Regierungen in den Empfängerländern verwiesen. Budgethilfe wird direkt zwischen der Gebergemeinschaft und den Regierungen der Nehmerländer ausgehandelt. Undemokratische Regierungen haben dabei die Tendenz, eher gegenüber den Gebern als gegenüber ihrer eigenen Bevölkerung und ihrem eigenen Parlament Rechenschaft abzulegen. KritikerInnen in den Entwicklungsländern finden nicht nur, dass die Budgethilfe die Rechenschaftspflicht ihrer Regierungen behindert, sondern sehen in ihr auch eine Einmischung in die heimische Politik, da makroökonomische Bedingungen an diese Art von Hilfe geknüpft werden.

Die meisten Entwicklungsländer sind reich an Ressourcen, aber arm an demokratischen Regierungen. Diese Länder brauchen keine Entwicklungshilfe, sondern Autonomie in der Politik und Rechenschaftspflicht ihrer Regierungen, wofür es entscheidend ist, Steueroasen und Schwarzgeldflüsse zu bekämpfen. Solche Abflüsse aus Entwicklungsländern machen zurzeit etwa das Zehnfache der gesamten Entwicklungshilfe aus. Nach Angaben von Global Financial Integrity (GFI) betrug die Gesamtsumme von Schwarzgeldtransfers aus Afrika zwischen 1970 und 2008 ungefähr 865 Milliarden US-Dollar.

Um die Autonomie der Politik in den Empfängerländern zu stärken, müssen funktionierende Steuersysteme eingerichtet werden. Nur so können nachhaltige Finanzquellen für die Entwicklung erschlossen und die Rechenschaftspflicht der Regierungen gegenüber ihren Bevölkerungen gestärkt werden. Dafür sind die Entwicklungsländer und die EU gleichermaßen verantwortlich. Zusammen müssen sie die Schwarzgeldströme stoppen, die Steueroasen schließen und ganz allgemein die Korruption beenden. Missachtung des öffentlichen Interesses und Machtmissbrauch umgehen geltende Gesetze und Regeln zugunsten privater Interessen. Das muss als Korruption gebrandmarkt und bekämpft werden. Die Finanzkrise von 2008 hat die Grenzen des gegenwärtigen weltweiten Wirtschaftssystems gezeigt und die Frage aufgeworfen, ob ein einziges Wirtschaftsmodell für alle Situationen passt. Menschen und Länder brauchen eine Vielzahl von Wirtschaftsmodellen, die ihre natürlichen und menschlichen Ressourcen zum Ausgangspunkt nehmen, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen und ihre Menschen- und Umweltrechte zu respektieren. Jetzt ist die Zeit dafür gekommen, dass Entwicklungs- und Metropolenländer ihre Kräfte vereinen, um sich selbst und den Planeten zu retten.

  • 1. „Tödliche Hilfe“ – so lautet auch Titel eines Buches von Brigitte Erler, das den Untertitel „Bericht von meiner letzten Dienstreise in Sachen Entwicklungspolitik“ trägt. Brigitte Erler war Referentin im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Bundestagsabgeordnete. 2011 ist ihr Bericht in der 15. Auflage erschienen.

Übersetzung: Ulf Baumgärtner