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… nicht unabhängig vom Alltag

Raúl Zibechi zu informeller Arbeit, Organisierung und Bewegungen

130 Millionen Menschen arbeiten laut Zahlen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Lateinamerika im informellen Sektor. Das ist fast die Hälfte der Arbeitenden. Sie schlagen sich auf der Straße durch, sie leben unter prekären Bedingungen an den Rändern der Städte, und sie melden sich immer wieder mit Aufständen zu Wort. Wir sprachen mit Raúl Zibechi (Uruguay), der viele dieser Bewegungen untersucht hat, über den Zusammenhang von Arbeits- und Lebensbedingungen, Organisationsformen und Kämpfen.

Alix Arnold

In mehreren deiner Bücher erwähnst du den Zusammenhang zwischen der Organisation der Arbeit und der Form, in der sich ArbeiterInnen organisieren. In Genealogía de la Revuelta (über den Aufstand in Argentinien) schreibst du, dass die Organisierung in großen Gewerkschaften der fordistischen Arbeitsorganisation und den Hierarchien in der Fabrik entspricht. Könntest du diesen Zusammenhang näher erläutern?

Der Kapitalismus hat verschiedene Phasen durchlaufen. In der Manufaktur im 19. und in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts, hatte der Arbeiter noch weitgehende Kontrolle über die Arbeitsrhythmen und die Arbeitsorganisation. Die qualifizierten Arbeiter hatten eine wichtige Rolle. Die mengenmäßige Beschränkung dieser nicht-standardisierten Produktion, aber vor allem die Macht der Arbeiter über ihren Arbeitsplatz, mit der sie viel durchsetzen konnten, wurden für das kapitalistische System zum Problem. Es antwortete darauf mit der Einführung der Massenproduktion: Taylorismus und Fordismus. Für die Organisation der Arbeiter bedeutete dies das Ende der Berufsgewerkschaften, die von den handwerklich qualifizierten Arbeitern geprägt waren. 

Mit der Massenproduktion ging eine neue Arbeitsteilung einher, gleichzeitig kamen Massen ungelernter Arbeiter in die Fabriken. Dies führte zu einer neuen Art von Gewerkschaft, zur modernen Massengewerkschaft des 20. Jahrhunderts mit vielen ungelernten Arbeitern. Diese Gewerkschaften funktionierten bis in die 70er-Jahre. Sie hatten große Kampfkraft und konnten die Produktion lahmlegen. Grundlage der Produktion war das Fließband. Wurde die Arbeit an einer Stelle unterbrochen, stand das gesamte Band. Damit wurde in den großen Streiks und Kämpfen der 60er- und 70er-Jahre das tayloristisch-fordistische System ausgehebelt. 

Dann kam es zu einer dritten, diesmal wesentlich komplexeren Veränderung der Arbeitsorganisation. In den Fabriken wurde der sogenannte Toyotismus eingeführt, mit starker Automatisierung, besonders in bestimmten Branchen wie der Autoindustrie. Die Großfabriken werden abgebaut, in vielen Kleinbetrieben werden Teile gefertigt und die Fabrik wird zu einem Ort der Montage. Millionen Arbeiter fallen dadurch aus der Produktion raus. Viele von ihnen landen im Dienstleistungssektor, unter prekären Bedingungen, ohne Aufstiegsmöglichkeiten. Aus der Industriegewerkschaft wird dadurch eine Art Berufsverband, wie von Anwälten oder Ärzten – das benenne ich vorläufig so vage, weil wir dafür noch keinen Begriff haben. Der Arbeiter, der heute noch die Möglichkeit hat, sich gewerkschaftlich zu organisieren, ist qualifiziert und verdient gut – Paradebeispiel wäre der Boeing-Arbeiter in Seattle, der einen Stundenlohn von 100 US-Dollar hat. Gleichzeitig bekommt ein Arbeiter in einer Maquila in Mexiko zwei Dollar pro Stunde. Aber es ist nicht nur eine Frage des Lohnes, sondern auch, wo sie in der Produktion stehen. Die einen arbeiten in der Fabrik des 19. und die anderen in der Fabrik des 21. Jahrhunderts, wo der Arbeiter vor einem Computerbildschirm sitzt und sich nicht mehr die Hände schmutzig macht. Das heißt: Während der Fordismus zu Homogenität in der Arbeiterklasse geführt hat, wird sie durch die neuen Arbeitssysteme immer heterogener.

Der Niedergang der alten, gewerkschaftlich organisierten Arbeiterklasse wird meist als Verlust gesehen, weil davon ausgegangen wird, dass die prekarisierten informellen ArbeiterInnen weniger Möglichkeiten haben zu kämpfen. In deinem Buch „Territorien des Widerstands“ formulierst du eine andere These: Dass sich in der Peripherie und den informellen Verhältnissen ein neues politisches Subjekt entwickelt. Um wen geht es?

Zunächst einmal: Was ich sage, gilt nur für Lateinamerika. Dort ziehen die ArbeiterInnen, die keine reguläre Arbeit finden, an die Ränder der großen Städte. An diesen Stadträndern entstehen zunächst Mobilisierungen, Bewegungen, und schließlich Subjekte, die den sozialen Frieden, in dem sich die regulär und vollzeitbeschäftigten ArbeiterInnen eingerichtet haben, infrage stellen. Ich beobachte und beschreibe ja nur, was in Lateinamerika passiert. Seit dem Caracazo, dem Aufstand in Venezuela 1989, hat es mehr als 20 Aufstände gegeben, die von diesen Peripherien ausgingen: In Caracas sind das die Hügel, in Buenos Aires die Viertel, die Villas genannt werden, also Favelas. Die zurzeit wichtigsten Kämpfe in Lateinamerika gehen – wie auch in anderen Teilen der Welt – nicht von gewerkschaftlich organisierten ArbeiterInnen aus. Gewerkschaften mobilisieren ihre Mitglieder als ArbeiterInnen. 

Aber hier passiert etwas anderes: ArbeiterInnen mobilisieren sich sowohl als ArbeiterInnen als auch als KonsumentInnen, als Menschen. Zumindest in Lateinamerika entsteht hier ein neues plurales Subjekt, das nicht mehr so homogen ist wie die Figur des Fabrikarbeiters. Jugendliche aus den Favelas, junge StudentInnen, Frauen, prekär Beschäftigte, Leute, die mit Wohnungsnot und fehlender Gesundheitsversorgung zu kämpfen haben. Diese Menschen stehen jetzt auf und mobilisieren sich. Dabei bauen sie in den seltensten Fällen Bewegungen im alten Stil auf. Auch der Begriff der Organisation hat sich geändert. Früher beinhaltete er eine Arbeitsteilung ähnlich der in der Fabrik. In Parteien und Gewerkschaften gibt es eine interne Arbeitsteilung und eine klare Unterscheidung zwischen Funktionären und einfachen Mitgliedern, zwischen Anführern und Geführten. Dieses Organisationskonzept wird heute infrage gestellt – nicht theoretisch, sondern praktisch.

Du schreibst, dass Leute, die in informellen Verhältnissen leben, neue Fähigkeiten entwickeln. Der Zwang, den Alltag selbst zu organisieren, befähigt sie, „ohne Chefs zu produzieren und ihr Leben zu reproduzieren“. Kannst du Beispiele nennen?

Eine neue Fähigkeit ist die, Fabriken zu übernehmen und selbst die Produktion zu leiten. Und das in vielen Fällen sehr erfolgreich. In Lateinamerika gibt es Hunderte solcher übernommener Betriebe, in denen die ArbeiterInnen Formen der Produktion und Distribution entwickeln, die sie selbst kontrollieren. Oder der Aufbau eigener Betriebe am Rande von Markt und Staat: In Buenos Aires gibt es viele Betriebe, die von Piqueter@s, von Arbeitslosen gegründet wurden, in Brasilien Betriebe von Landlosen, oder Cecosesola in Venezuela, die mit mehr als 60 Kooperativen ohne Chefs in der Millionenstadt Barquisimeto 30 Prozent der Versorgung mit frischen Lebensmitteln organisieren. Das sind keine Einzelfälle mehr, hier zeigt sich eine Art von Organisation, die in Richtung einer anderen Gesellschaft weist.

In deinem Buch über Bolivien „Die Zersplitterung der Macht“ stellst du fest, dass die informellen ArbeiterInnen aus El Alto die ProtagonistInnen des Aufstands von 2003 waren und dass der Grund dafür eben in dieser Form zu arbeiten liegt: So wie sie bei der Arbeit keinen Chef haben, der ihnen sagt, was sie tun sollen, brauchen sie auch keine gewerkschaftlichen oder politischen Anführer, die ihnen sagen, wie sie kämpfen sollen.

El Alto ist eine spezielle Gesellschaft. Als die Leute dort hinkamen, war dort nichts, freies Feld, und sie haben selbst die Stadt gebaut – Häuser, Straßen, Fußballfelder. Sie arbeiten auf großen Märkten. Der Sonntagsmarkt in El Alto besteht aus 40 000 Ständen, 80-90 000 Leute verkaufen hier und noch viel mehr gehen zum Kaufen hin. All das wurde ohne die übliche Arbeitsteilung aufgebaut, ohne Staat und Kapital. In Selbstverwaltung – auch wenn sie das nicht so nennen. Die Selbstverwaltung stützt sich vor allem auf die Arbeit der Familie, die in den Armenvierteln in Lateinamerika große Bedeutung für das Überleben hat. Großfamilien mit starker Arbeitsteilung nach Geschlechtern, wobei Frauen und Kinder die wichtigste Rolle spielen. Das ist ein selbst organisierter Alltag, ganz anders als das Leben eines Fabrikarbeiters, der zur festgesetzten Stunde in der Fabrik erscheint und dort eine festgelegte Zeit lang nach den Anweisungen des Chefs arbeitet. 

In den selbst aufgebauten Stadtteilen und auf den Märkten haben dagegen sie selbst, vor allem die Frauen, die Kontrolle über die Arbeit. Entsprechend ist auch die Form der Organisation, die sie für den Kampf aufbauen, eher von diesem selbst organisierten Alltag bestimmt als von staatlicher Logik. Die Aymara-Gesellschaft Boliviens hat – wie die indigenen Völker Lateinamerikas allgemein – den Staat immer als fremd und weit entfernt erlebt. Der Zusammenhang ist wichtig, denn du kannst nicht sagen: Ich arbeite zwar in einer fordistischen Fabrik, aber ich baue jetzt einfach eine horizontale oder libertäre Organisation auf. So lassen sich Alltag und Ideologie nicht trennen. Die Ideologie, die Art zu denken, die politische Kultur hängen eng mit dem sogenannten gesunden Menschenverstand zusammen, mit dem Leben der Menschen. Der politische Kampf kann nicht unabhängig vom Alltagsleben gedacht werden. Da haben wir Aktivisten oft Fehler gemacht. Wenn wir diesen Zusammenhang nicht berücksichtigen, laufen wir Gefahr, etwas Künstliches aufbauen zu wollen.

Das Vordringen von Neoliberalismus und informeller Arbeit wird meist als Sieg des Kapitals gesehen, dem es gelungen ist, den ArbeiterInnen Rechte und Errungenschaften abzunehmen. Du benennst einen anderen Aspekt: Dass das Kapital durch die Kämpfe der ArbeiterInnen gegen die Fabrikdisziplin zu diesem Schritt gezwungen war und dass wir selbst die fordistische Gesellschaft begraben haben. Wenn wir zu der vorherigen Situation weder zurückkehren können noch wollen: was dann?

Es sind beide Aspekte: Es ist ein Sieg des Kapitals angesichts der Herausforderung von Seiten der ArbeiterInnen. Wir haben zwei Möglichkeiten. Wir können versuchen, die alte Situation wieder herzustellen, was meiner Meinung nach unmöglich ist, weil zum einen die Geschichte Rhythmen und Wege einschlägt, auf denen es kein Zurück gibt, aber vor allem, weil wir uns keine Illusionen über den Wohlfahrtsstaat machen sollten. Der war sehr repressiv, besonders gegenüber den Frauen, die zu Hause waren, und den Kindern. Ich denke, dass die Krise des Fordismus viel mit den Aktionen von Frauen und der Krise des Patriarchats zu tun hat, zumindest der des alten Patriarchats. Taylorismus und Fordismus mit dem Vorarbeiter als zentraler Figur in der Fabrik waren sehr patriarchal. 

Wenn es also kein Zurück gibt – auch weil das Kapital nicht mehr auf Wohlfahrt setzt – müssen wir von dem Ort aus kämpfen, an dem wir uns befinden. Wir müssen von der Marginalität und Armut ausgehen, und von der Integration und Domestizierung eines Großteils der ArbeiterInnen. Von dort aus müssen wir kämpfen und organisieren. Das ist schwierig, vor allem in den Ländern Europas, die immer noch Vorteile durch den Kolonialismus haben und in denen weiterhin ein interner Kolonialismus herrscht – Marokkaner, Algerier, Türken oder arme Europäer, die die schlecht bezahlten Arbeiten machen, wie die Afroamerikaner und Latinos in den USA. Die Stadtteile, in denen Spanier, Marokkaner und Portugiesen zusammenleben – oder Deutsche und Türken – können die Orte sein, an denen sich ein soziales Subjekt neu zusammensetzt. Die großen Fabriken sehe ich nicht mehr als diesen Ort, da ist die Kontrolle viel zu stark.

In deinem Buch zu Argentinien hast du 2003 geschrieben: „Nach dem Verlust des Wohlfahrtsstaates und ohne Fabriken steht die Macht des Systems nackt da, sie hat den ‚gefährlichen Klassen' nichts mehr anzubieten. Wie und wie lange kann ein System überdauern, das der Mehrheit weder Arbeit noch Schutz bietet? Ein System, das nicht mehr in der Lage ist, sie zu integrieren und zu domestizieren?“ Wie siehst du das heute, zehn Jahre später?

„Nichts mehr zu bieten“ meine ich im Sinne des Wohlfahrtsstaates, im Sinne der Fähigkeit, zu integrieren und eine Zukunft innerhalb des Systems aufzuzeigen. In Argentinien bekommen heute Millionen Menschen Geld vom Staat. Wenn sie das nicht mehr bekommen, gibt es eine politische und soziale Krise. Aber trotz dieser Zahlungen herrscht in Argentinien große Unzufriedenheit und es gibt viele Kämpfe. Die Regierung, die nach Cristina Fernández kommt, egal welcher Couleur, wird diese Politik fortsetzen müssen, wenn sie sich halten will. Es gibt also Millionen, die Unterstützungszahlungen bekommen, und was sie sonst noch zum Überleben machen, hat nichts mehr damit zu tun, wie ihre Großeltern lebten.

Sie kamen vom Land in die Stadt, wo die Männer auf dem Bau arbeiteten und die Frauen putzten, aber ihre Kinder konnten qualifizierte ArbeiterInnen werden und deren Kinder konnten schon auf die Uni gehen. Eine solche Entwicklung über drei Generationen können ArbeiterInnen heute – abgesehen von sehr kleinen Minderheiten – nirgendwo in Lateinamerika machen. Die Leute werden mit Sozialhilfe ruhig gehalten, aber das löst nicht das zentrale Problem des Kapitalismus: Wie können die gefährlichen Klassen integriert werden? In Lateinamerika versucht es der Kapitalismus mit Sozialhilfe und viel Militarismus. Das wird in diesen Tagen in Brasilien deutlich, wo Militärpolizei die einzige Antwort auf die Mobilisierungen in den Favelas ist. So sieht es aus, und in diesem Sinne denke ich, dass die Aussage im Großen und Ganzen weiterhin gültig ist.

Das Interview wurde am 28. April 2014 per Skype geführt, Bearbeitung und Übersetzung: Alix Arnold.