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Ein Rembrandt in Cuba?

Über den neuen Roman von Leonardo Padura und andere Gedanken

Kaum sind drei Jahre seit der Veröffentlichung des mehr als 700 Seiten umfassenden Trotzki-Romans „Der Mann, der Hunde liebte“ (vgl. ila 351) vergangen, da legt uns Leonardo Padura mit „Ketzer“ wieder ein Buch gleichen Umfangs vor. Um die Wartezeit zu verkürzen, gab es zwischendurch ein Häppchen, „Der Schwanz der Schlange“, ein Kriminalroman, der im Chinesenviertel Havannas spielt.

Ute Evers

Vielschreiber oder Genius? Die Frage ist nicht abwegig, nimmt sich Padura in den beiden in Deutsch vorliegenden Romanen keineswegs einfacher Themen an. Dennoch liefert er seinen Lesern innerhalb weniger Jahre annähernd 1400 Seiten Prosa mit historischem Hintergrund.1

Im „Ketzer“ beschäftigt sich Padura mit der jüdischen Diaspora seit dem 17. Jahrhundert. Auch Cuba unter seinem Präsidenten Federico Laredo Bru (1936-1940) hat hier seinen dunklen historischen Fleck. Universale Themen wie Exil, individuelle Freiheit und Angst tauchen leitmotivisch auf, ähnlich wie in seinen vorherigen historisch geprägten Romanen „Der Mann, der Hunde liebte“ und „La novela de mi vida“ (Letzterer, eigentlich der erste aus dieser Reihe, harrt noch seiner Übersetzung ins Deutsche).

Der „Ketzer“ besteht aus vier Kapiteln – Das Buch Daniel, Das Buch Elias, Das Buch Judith und Genesis. Jedes gäbe für sich schon genug Stoff für einen eigenen Roman. Innerhalb dieser religiös anmutenden Kapitel springt der Erzähler leichtfüßig zwischen Jahrhunderten und Ländern hin und her. Die Zeitspanne liegt zwischen 1643 in Amsterdam und 2007-2009 in Havanna. Es gibt Stationen in Polen, 1684, und in Miami, 1958-1989. Kleinere Sprünge gibt es auch nach London, 2007, oder ins Nazideutschland.

Das „Buch Daniel“ beginnt 1939 in Havanna. Erzählt wird die tragische Episode des Überseedampfers MS St. Louis, der mit 937 Juden von Hamburg in Richtung Cuba ausgelaufen war (vgl. ila 251). Vor den Nationalsozialisten flüchtend, hatten sie in Deutschland ihr Hab und Gut aufgegeben, um ein Visum für Cuba und die Überfahrt dorthin zu bezahlen, später wollten sie in die USA. Daniel, der Protagonist dieser historischen Epoche (Havanna 1939 bis Miami 1989) wird die Ankunft des Dampfers von der anderen Seite, vom Malecón aus, beobachten. Seine Familie ist auch an Bord und mit ihr ein ominöses Heiligenbild, das als verbindendes Element zwischen den Epochen und Ländern fungieren wird. Seine Odysee macht es zu einem symbolischen Bild der jüdischen Diaspora. Vom Amsterdam des flämischen Malers Rembrandt gelangt es über Umwege nach Cuba in die Zeit des Zweiten Weltkrieges, um Jahrzehnte später von dort auf klandestinem Weg wieder zu verschwinden. Um das Gemälde kreisen viele Geschichten, die sich um die Schoah drehen, und zwei mutmaßliche Kriminalfälle in Cuba, der eine mehr als 50 Jahre vergangen, der andere wird sich im Verlauf der Nachforschungen um das Bild noch zutragen.

Mario Conde, der Ex-Polizist aus der Havanna-Trilogie, der in „Der Mann, der Hunde liebte“ nur schemenhaft auftauchte, tritt im „Ketzer“ wieder voll in Aktion und mit ihm sein Lebensfrust, der den Lesern der Padura-Romane nur allzu bekannt ist: „Mit seinen vierundfünfzig Jahren gehörte er zu dem, was er und seine Freunde vor einigen Jahren die ,verborgene Generation' bezeichnet hatten: älter gewordene, gescheiterte Männer, die sich in ihre Schlupfwinkel verkrochen und zur enttäuschten, kaputtesten Generation innerhalb des im Entstehen begriffenen Landes entwickelt (oder besser gesagt: zurückentwickelt) hatten.“ 

Vor mehr als 20 Jahren ist Conde aus dem Polizeidienst ausgetreten. Seit „Die Nebel von gestern“ (2008) wissen wir, dass er als Händler antiquierter Bücher in Havanna unterwegs ist. Doch er kann der Versuchung nicht widerstehen, als sich ihm die erste Gelegenheit bietet, seiner Lieblingsbeschäftigung wieder nachzugehen. Verhinderter Schriftsteller hin oder her, El Conde ist, selbst wenn er nur noch als Pseudo-Privatdetektiv aktiv werden kann, aus tiefster Seele immer noch Polizist. 

Wie aus dem Nichts steht mitten in der Nacht ein Fremder vor Condes Haustür. Es ist Elias Kaminsky, „ein Hüne mit Pferdeschwanz“. Er sei der Sohn eines polnischen Juden, Daniel Kaminsky, der viele Jahre in Havanna gelebt habe, bis er mit seiner Frau 1958 nach Miami auswanderte. Elias selbst lebe seit vielen Jahren als Maler in New York und sei nun nach Cuba gekommen, um Informationen über ein Gemälde zu erhalten. Aber nicht über irgendeines, sondern über „einen Rembrandt“. Ein gemeinsamer Freund aus Miami habe ihm Mario Conde empfohlen, der ihm bei der Frage, wie und wann der Rembrandt Cuba verließ, behilflich sein könne. Dass sich El Conde mit diesen Informationen nicht zufrieden gibt, ist naheliegend. Hier beginnt Elias die von Tragödien geprägte Geschichte seiner Familie („Das Buch Daniel“) und die wundersame Entstehungsgeschichte des Gemäldes zu erzählen („Das Buch Elias“). Während im Kapitel „Das Buch Daniel“ die rückblickenden Erzählungen immer wieder gebrochen werden und in die Gegenwart zurückkehren, präsentiert sich „Das Buch Elias“ wie eine hermetisch abgeschlossene Geschichte. Es handelt vom jungen Elias Ambrosius Montalbo de Ávila, der seine Leidenschaft für die Malerei entdeckt und heimlich Rembrandts Schüler wird, das Risiko in Kauf nehmend, von seiner – jüdischen – Gemeinde bestraft zu werden. 
El Conde, der zweifelt, ob er diesen seltsamen Fall annehmen soll, akzeptiert schließlich, denn immerhin ist es für den chronisch blanken Expolizisten eine Möglichkeit, an ausländische Währung heranzukommen. Und davon verspricht ihm der Hüne viel.

Im Kontext des Holocaust wagt sich der cubanische Schriftsteller an eine heikle Frage. „In einem Brief schrieb er – Daniel – an seinen Sohn wie sehr das furchtbarste Kapitel der gesamten jüdischen Geschichte, ... , seinen Grund in einer Anlage zum Gehorsam hatte, der häufig in einen Zwang zur Unterwerfung als Überlebensstrategie umgeschlagen war ... Natürlich sprach er auch von seiner streitbaren Beziehung zum Gott Abrahams, vor allem jedoch von den Ereignissen während des Holocaust, bei denen so viele Juden ihr Schicksal als unabänderlich akzeptiert und es als einen Fluch oder ein Urteil Gottes angesehen hatten.“ Auch wenn man dem in der Historie bewanderten Schriftsteller keineswegs antisemitische Ansätze unterstellen darf, bleibt ein bitterer Nachgeschmack bei diesen Zeilen zurück. Die Fragestellungen sind meines Erachtens zu leichtfüßig in den Raum geworfen.

Auf die Frage, warum er gerade auf das Thema der Schoah gekommen sei, antwortete Padura kürzlich, dass „ich ursprünglich einen Roman über einen jungen Cubaner und sein Verhältnis zur Freiheit schreiben wollte. Aber mir war klar, dass ich mit der Konstellation ,Jugendlicher-Cuba-Freiheit' meinen Roman zu sehr in die politische Ecke bringen würde ... Ich stieß auf das Amsterdam des 17. Jahrhunderts, als die Juden dort ein großes Maß an Freiheit genossen. Gleichzeitig aber unterlagen sie in ihrer eigenen Glaubensgemeinschaft vielen Einschränkungen. Daraus erwuchs die Idee, eine Brücke zu den Juden nach Cuba zu schlagen, wo sie ebenfalls in großer Freiheit, aber eben auch in den Grenzen lebten, die ihnen ihre Gruppe setzte. Über die historischen Momente, in denen die Handlungsstränge spielen, versuche ich die spannungsreiche Beziehung des Individuums zur Freiheit zu zeigen.“

Im Zuge seiner Nachforschungen um das Rembrandt-Bild, stößt Mario Conde auf die subkulturelle Gruppe der Emos auf der Calle G. in Havanna, und er lernt die junge Emo Judy kennen („Das Buch Judith“). Ohne es zu ahnen, bringt Judy El Conde zwar auf eine falsche Fährte, doch bringt sie ihm einiges über die jüngere Generation bei, das er vorher aus Unwissenheit schlicht abgelehnt hatte. Der Kreis um das Thema der individuellen Freiheit im zeitgenössischen Cuba schließt sich und mit ihm eröffnet sich eine gediegene Gesellschaftskritik à la Padura... 

Wie ist das literarische Werk von Leonardo Padura einzuschätzen, möchte man sich dabei nicht auf seinen Plot beschränken? Leonardo Padura ist kein Sprachakrobat, noch hat er sich bisher auf komplizierte Erzählstrukturen eingelassen. Schon in seinem Havanna-Quartett legte er das Fundament, nämlich Fiktion mit (zeit)historischer Realität zu verbinden. Erzählerisch nichts Neues. Für Padura ist es indes ein Instrument, historische Lücken in der offziellen Geschichtsschreibung in Cuba zu füllen. Über Trotzki hat man beispielsweise in Cuba kaum etwas lesen können. Oder wer weiß schon etwas über die dunkle Geschichte der MS St. Louis? Offensichtlich ist damit auch, dass sich der ehemalige Krimiautor von diesem Genre distanziert. 

Ein Vielschreiber ist Leonardo Padura zwar nicht, aber er schreibt so viel, dass man ihm streckenweise die korrigierende Feder eines strengen Lektors wünschte.
Als dem 1955 in Mantilla geborenen Schriftsteller, Essayisten und Journalisten 2012 von der Kulturinstitution Casa de las Américas die Semana del Autor (Die Woche des Autors) gewidmet wurde, als erstem Cubaner seit der zehnjährigen Existenz überhaupt, war eine der Begründungen von Jorge Fornet, herausragender Essayist und Leiter des literarischen Forschungszentrums der Casa, dass „Padura die Fähigkeit besitzt, auch in seinem eigenen Land Legionen von enthusiastischen Lesern mitreißen zu können.... Seine Vielseitigkeit liegt weniger in seiner Breite an Themen und Registern, als vielmehr in der Geschicklichkeit, auf gleicher Augenhöhe zu einer weitgefächerten Leserschaft zu sprechen“ (Casa de las Américas, 2013) 

Auch wenn man sich oft anspruchsvollere literarische Techniken, weniger Eindeutigkeit auf inhaltlicher Ebene (macht Fiktion nicht gerade das aus?) und mehr Vertiefung von Themen anstelle dieser Fülle an Stoff wünschte, trifft Fornet es auf den Punkt. Tatsächlich besitzt die Literatur von Padura einen hohen Unterhaltungsgrad, mit dem es ihm gelingt, viele unterschiedliche Leserschaften zu gewinnen.

Dazu trägt letztlich auch sein Antiheld Mario Conde bei. Denn ist es nicht El Conde, hinter dem sich ein überaus humaner Erzähler versteckt, der seinem Leser, trotz seines chronisch anhaftenden Frusts über sich selbst und seine Gesellschaft, stets Mut macht, dass dieses höchste Gut, die Freundschaft, doch einiges überleben kann? Ob in der Nähe oder Ferne. Und darin ist Leonardo Padura, der 2013 mit dem Nationalpreis für Literatur die höchste literarische Auszeichnung seines Landes erhielt, ein Meister.

Leonardo Padura: Ketzer, Roman, Übersetzung: Hans-Joachim Hartstein, Unionsverlag, Zürich 2014, 520 Seiten, 24,95 Euro

  • 1. Auf seine zahlreichen journalistischen Essays, die aktuellsten 2012 in dem Band Un hombre en una isla (Ein Mann auf einer Insel) in Cuba erschienen, kann hier nicht eingegangen werden, ich möchte aber auf das unermüdliche Schaffen des cubanischen Schriftstellers verweisen.