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Das Land der Oligarchen

Paraguay ist fest im Griff einer illegitimen Machtelite

Der Schlüssel zum Verständnis der heutigen Situation in Paraguay stammt von den griechischen Philosophen Platon und Aristoteles sowie ihren Schulen, das heißt aus der Zeit von ca. 400-100 v. Chr. Platon sprach von den Wenigen, den oligoi, gemeint sind die Reichen, die versuchen, Herrschaft ausschließlich zum eigenen Vorteil auszuüben, ohne sich an Recht und Gesetz zu halten. Daraus ist im Deutschen der Begriff Oligarchie entstanden. Polybios systematisierte diese und andere Überlegungen: Unter formalen Gesichtspunkten kann die Herrschaft von einer, von mehreren Personen oder von allen ausgeübt werden. Inhaltlich sind zwei Kriterien zu beachten. Die Herrschenden sind legal, also unter Beachtung von Recht und Gesetz an die Herrschaft gelangt; die Herrschenden üben die Herrschaft zum Wohle aller aus. Diese Herrschenden sind „gut“ zu nennen. Wer als Usurpator, das heißt widerrechtlich, die Macht an sich gerissen hat und an das eigene Wohl denkt, nicht an das Wohl aller, übt die Herrschaft „böse“ aus.

Manfred Etscheid

Paraguay erlangte am 15. Mai 1811 die Unabhängigkeit vom Königreich Spanien. Die paraguayischen „Helden der Unabhängigkeit“ waren spanischstämmige Großgrundbesitzer und Kolonisatoren, die die wirtschaftliche Deckelung, die politische Abhängigkeit und die Diskriminierung durch die spanische Krone nicht mehr ertrugen. Denn die in den Kolonien geborenen SpanierInnen galten gegenüber den in Spanien geborenen als minderwertig. Diese „Helden“ kämpften für die Mehrung ihrer wirtschaftlichen Einkünfte und ihres politischen Einflusses. Für Nachfahren der UreinwohnerInnen änderte sich mit der Unabhängigkeit fast nichts. Ihre billlige Arbeitskraft war eine der wirtschaftlichen Grundlagen der gerade unabhängig gewordenen BürgerInnen. Es galt, das Land der Indigenen, wenn möglich, dem eigenen Großgrundbesitz zuzuschlagen.
Zweihundert Jahre nach der Unabhängigkeit lebt die Gruppe der „Helden der Unabhängigkeit“ insbesondere in den Viehzüchtern fort, die vor allem Rindfleisch für den Export produzieren. Am 31. August 2014 hatte das „Netz der Viehwirte“ (www.redganadera.com) 3998 Mitglieder, die bei der Schlachtung, den Kühlketten und der Vermarktung kooperieren. Das sind, um mit Platon zu reden, die Wenigen, die die Geschicke der ca. sieben Millionen ParaguayerInnen maßgeblich beeinflussen.
Die meisten Viehwirte wohnen in der Hauptstadt Asunción oder einer großen Provinzstadt. Dort gehen sie „bürgerlichen“ Berufen nach, das heißt, sie sind Richter oder Staatsanwälte, Abgeordnete oder Unternehmer, Minister oder Staatspräsident (u. a. Stroessner, Rodríguez, Wasmosy, Cubas Grau und jetzt Horacio Cartes). Sie besuchen regelmäßig „ihren“ Agrarbetrieb (oft mit einer Cesna oder einem Hubschrauber). Mit den Angestellten vor Ort haben sie sonst über Funk Kontakt. Sie betreiben ihr Viehunternehmen, das meistens die Rechtsform einer Aktiengesellschaft oder einer GmbH hat, mit Hilfe von angestellten Geschäftsführern, die die Stellung vor Ort halten. Der größte Teil ihres Einkommens stammt aus diesem „Nebenerwerb“. Die Beschäftigten vor Ort, insbesondere die Vorarbeiter, sind mit Handfeuerwaffen (Pistolen, Gewehre usw.) ausgerüstet. Gelegentlich werden sie auch als Auftragsmörder eingesetzt. Es ist wegen der beachtlichen Präsenz von Viehzüchtern in der Justizverwaltung nicht verwunderlich, wenn für die „kleinen“ Angelegenheiten der „einfachen Leute“ (z. B. Landraub von indigenen Gruppen, Mord an einem Indigenen oder an einem Hilfsarbeiter) Justizpersonal (Untersuchungsrichter, Strafrichter usw.) nicht in ausreichender Zahl zur Verfügung steht. Das Denken und die Interessen der Viehwirte prägen das Denken und Handeln derselben Menschen, die im höheren Dienst der Rechtssprechung tätig sind und dort mit ihren Entscheidungen auch über das Wohl von ihresgleichen entscheiden.
Der politische Wille der Oligarchen wird in Paraguay durch zwei Parteien ausgedrückt, nämlich die ANR (Asociación Nacional Republicana – Partido Colorado), die 1887 gegründet wurde und mit Ausnahme der Epoche von 1904-1946 und der Regierungszeit von Fernando Lugo (2008-2012) den Präsidenten stellte, sowie der fast zeitgleich gegründete Partido Liberal, aus der nach einigen Zerwürfnissen die PLRA (Partido Liberal Radical Auténtico) hervorgegangen ist.
Der Herrscher, auch der oligarchische, bedarf der Legitimation seiner Herrschaft durch die Masse. Dafür muss diese organisiert werden. Das geschieht in Paraguay vor allem über die Colorados, die Rothemden. Mehr als die Hälfte der Wahlbevölkerung ist Mitglied dieser Partei. Die einfachen Mitglieder erhoffen sich die Brosamen der Reichen sowie einen Job, eine Anstellung im öffentlichen Dienst gab es bis 2008 (und vermutlich heute wieder) nur mit einem Colorado-Parteibuch.

Die „Helden der Unabhängigkeit“ leben seit 40-50 Jahren in einer weiteren Gruppe fort, nämlich in den Agroproduzenten, die Baumwolle, Soja, Tabak oder Getreide anbauen. Paraguay hat ungefähr die Größe eines kleineren brasilianischen Bundesstaates, es gehört aber zu den sechs weltgrößten Sojaexporteuren. Das Saatgut von Soja und Baumwolle ist fast ausschließlich genetisch verändert. Zusätzlich werden Pflanzenschutzmittel aus niedriger Flughöhe auf die Felder gesprüht. Auf die am Rande der Felder lebenden campesinos und Indigenen wird kaum Rücksicht genommen.
2008 veröffentlichten drei Ärztinnen aus Encarnación und Asunción einen Fachaufsatz, in dem sie nachwiesen, dass die Häufigkeit von Missbildungen bei Neugeborenen wie Verformungen von Extremitäten und Kopf, von Nerven, fast vollständiges Fehlen der Muskulatur usw. mit der räumlichen Nähe zum versprühten bzw. zu sprühenden Gift steigt. Von den Gesundheits- und vergleichbaren Behörden werden diese Missbildungen ebenso wie gehäufte Krebserkrankungen, Asthma, toxische Polyneuropathien oder Enzephalopathien, die unmittelbare Folgen der Exposition nach Versprühen von Agrargiften sind, aber als unbeachtlich bewertet.
Die zuständigen Behörden tolerieren ebenso die Kontamination des Grundwassers mit Pflanzenschutzmitteln, in den Teilen des Landes, die agroindustriell genutzt werden.
In der auf Soja- und Baumwollproduktion spezialisierten Landwirtschaft sind vor allem BrasilianerInnen führend. Einigen von ihnen ist es gelegentlich gelungen, in den kleinen Kreis der paraguayischen Viehproduzenten einzudringen.
Weite Flächen des landwirtschaftlich genutzten Landes stammen u. a. von der Carlos Casado Ltda. und vergleichbaren Firmen. Die argentinische Carlos Casado Ltda hat nach dem verlorenen Triple-Allianz-Krieg (1865-1870) halb Paraguay zu einem Spottpreis aufgekauft, um das Land so in die Lage zu versetzen, einen Teil der Kriegsschulden zu bezahlen. Solange die Carlos Casado Ltda oder vergleichbare Firmen das Land nicht eingezäunt hatten, konnten dort Indigene in ihren angestammten Wohngebieten leben. Die neuen Eigentümer begannen aber bald nach dem Kauf des Landes das Gebiet einzuzäunen und vertrieben damit die Indígenas, die dort bisher gelebt hatten.
2006 urteilte der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte (Corte Interamericana de Derechos Humanos) im Falle der Sawhoyamaxa (Volk der südlichen Enxhet, Chaco), dass der paraguayische Staat verpflichtet sei, diesen Indígenas, die am Rand der Straße Pozo Colorado-Concepción leben, das ihnen angestammte Land als Eigentum zu übergeben. Der Besitz dieses Landes wurde und wird von dem in Deutschland u. a. wegen der Aneignung dieses Grundbesitzes als Betrüger verurteilten Deutschen Heribert Roedel beansprucht. Der paraguayische Staat ist weder willens noch von seinen effektiven Kräften her in der Lage, diese vom Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof als rechtmäßig anerkannten Eigentumsrechte durchzusetzen.
Weite Teile des jetzt zur Viehwirtschaft oder zur industriellen Landwirtschaft genutzten Landes sind Staatsbesitz bzw. Staatsbesitz gewesen. Der früher führende Colorado-Politiker Blas Riquelme konnte sich 1970 Land in der Gegend von Curuguaty rechtswidrig aneignen, das dem Verteidigungsministerium gehörte. Diese Landaneignung wurde nicht legalisiert. Als dieses Land von landlosen campesinos/as besetzt wurde, forderte Blas Riquelme die Polizei auf, diese aus seiner Sicht rechtswidrige Situation zu beenden. Die Räumung des Gebietes von Marina Cue erfolgte am 15. Juni 2012, damit wurde die Absetzung von Präsident Lugo eingeleitet. Obwohl das Räumungsverlangen von Blas Riquelme keine Rechtsgrundlage hatte, was dem Gericht bekannt ist, werden einige ehemalige BesetzerInnen strafgerichtlich verfolgt; der Haftbefehl gegen sie ist weiterhin gültig.

Einer der großen Landbesetzer Paraguays ist Horacio Cartes, im Hauptberuf Präsident der Republik Paraguay. Seine Firma Agrotabacalera del Paraguay S.A. lässt auf dem 17 343 ha großen Grundstück Tabak anbauen. Das Land wurde von der italienischen Republik zu Zwecken der Bodenreform abgetreten; im Gegenzug erhielt Italien ein Gebäude in Asunción, das es für seine diplomatische Vertretung nutzen will. Das Gelände ist unter dem Namen Colonia Barbero bekannt und liegt im Departement San Pedro del Ycuamandiyú, das heißt im Zentrum des Landes.
Eine der Voraussetzungen für den Ausbau der exportorientierten Landwirtschaft war die Abholzung des Regenwaldes, der noch vor wenigen Jahrzehnten weite Teile des Osten Paraguays bedeckte.
Mit dem Wachstum der exportorientierten Agrarwirtschaft ging der Einfluss der Viehzüchter zurück. Auch nahm die Bedeutung sonstiger Wirtschaftssektoren zu: die Produktion von elektrischem Strom (Itaipú, zusammen mit Brasilien, Yacyretá, zusammen mit Argentinien); die Schattenwirtschaft von Waren- und Geldschmuggel usw. Die Krisen der letzten 25 Jahre sind der politische Ausdruck dieses wirtschaftlichen Wandels: der Putsch gegen Stroessner, der Marzo Paraguayo (1999), die Wahl Lugos zum Präsidenten des Landes und seine Absetzung, um einige zu nennen.
In diesen Zusammenhang ist auch der Durchmarsch des Geschäftsmannes Horacio Cartes und seine Wahl zum Präsidenten des Landes 2013 einzuordnen. Als Bankkaufmann (Banco Amambay), in der nationalen Tabak- und Getränkeindustrie, wo ihm eine fast monopolartige Stellung gelang, als Viehwirt usw. sammelte er in kurzer Zeit großen Reichtum. In Kolumbien wird seine Tabakfirma beschuldigt, 15-20 Prozent des Tabakkonsums ins Land zu schmuggeln. Es gibt deutliche Hinweise, dass er auch im großen Umfang Tabak nach Brasilien schmuggelt. In einer Cesna, die einem nahen Verwandten von Cartes gehörte, wurden nach der Notlandung Drogen als Ware entdeckt. Mit Hilfe seines Reichtums gelang es Cartes innerhalb eines Jahres, die Partido Colorado aufzukaufen und zu seinen Zwecken zu nutzen, nämlich zur Organisation der Masse, die seine Wahl zum Präsidenten der Republik absichern sollte.
Präsident Cartes kann 2018 nicht wiedergewählt werden. Bis zu diesem Zeitpunkt wird die bisher führende Stellung der Viehwirte als Oligarchen weiter zurückgedrängt werden. Die Opposition muss in den nächsten drei bis vier Jahren Strategien entwickeln, mit deren Hilfe die politische Loyalität zwischen Masse und Oligarchen aufgebrochen wird.