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Ich verabscheue jeglichen Realismus

„Das Museum von Eternas Roman“ des Argentiniers Macedonio Fernández
Ute Evers

Manche mögen die Spiegelmetapher des französischen Schriftstellers Stendhal in Le Rouge et le Noir kennen. Sie stand für das realistische Abbild der europäischen zeitgenössischen Gesellschaft, deren Struktur sich im Umbruch von einer feudal-landwirtschaftlichen zu einer bürgerlich-industrialisierten befand. Der realistische Roman wollte die Wirklichkeiten der damaligen Gesellschaft literarisch einfangen und wurde damit salonfähig. Das war in den 1830er-Jahren. 
Knapp 100 Jahre später schreibt der argentinische Schriftsteller Macedonio Fernández „Das Museum von Eternas Roman (Erster guter Roman“), ein Buch, das das Konzept des Realismus in der Literatur komplett auf den Kopf zu stellen scheint. 

„Ich habe mir vorgenommen, den ersten echten Kunstroman zu schreiben“, verkündet der Autor-Erzähler in einem seiner ca. sechzig unterschiedlich langen Prologe und ähnlichen Texten. Doch was meint er damit? „Die Wahrheit von Leben, die Kopie von Leben, verabscheue ich. Liegt hierin nicht das eigentliche Versagen von Kunst, die größte, vielleicht die einzige Vereitelung oder Verstümmelung, nämlich dann, wenn eine Figur zu leben scheint?“ Weiter unten bringt er es auf den Punkt: „Ich verabscheue jeglichen Realismus.“ Kunst beginne erst jenseits jeglicher Form von Wahrheitswiedergabe. 

Der Autor-Erzähler bezeichnet sein Buch auch als „Vorwort-Roman“, obwohl er im Verlauf der nicht enden wollenden Prologe (sie erstrecken sich über 175 Seiten!) viele Bezeichnungen findet. Er verkündet, dass es sich um einen Roman handelt, „dessen Lektüre irritiert“ und der seine Leser „ärgern“ will. Die Leser sind für den Autor von großer Bedeutung. Über sie lässt er sich ausgiebig mal humorvoll, dann wieder ironisch aus. Auch hier ist seine Position eindeutig: „Aber es gibt einen Leser, mit dem ich mich nicht anfreunden kann: den Leser, der will, was zu ihrer Schande alle Romanciers anstreben, – die Halluzination... sobald der Leser der Halluzination verfällt, dem Schandfleck der Kunst, habe ich eher einen Leser verloren als gewonnen.“ Dem „sprunghaften Leser“ fühlt er sich nahe. Ihm widmet er seinen Roman. „Du wirst mir ein ganz neues Gefühl verdanken: das der geordneten Lektüre. Der disziplinierte Leser wird hingegen die ungewohnte Erfahrung einer sprunghaften Lektüre machen, wenn er dem Text eines sprunghaften Autors folgt.“ Er sucht durch direkte Anrede auch stets die Kommunikation zum Leser, den er als Protagonisten gewinnen will, „sodass er für einen Moment glaubt, dass er selbst nicht lebt“.

Seiner Macht als Autor, also Erschaffer von Figuren, und der daraus resultierenden Willkür über seine Figuren ist er sich bewusst. „... ich habe die Möglichkeit, den einen oder anderen aus dem Roman zu werfen, weil er mich ärgert, ob zu Recht oder zu Unrecht...“ Aber, wie so oft, wenn er eine These aufstellt und diese dann wenig später wieder infrage stellt, steht seine Macht nicht wirklich auf sicherem Boden. Die hier gefeierte Omnipotenz fängt nämlich im zweiten Teil des Buches an zu wackeln. Die Figuren Quasigenius und Herzallerliebste beginnen, sich über ihr Leben und auch über den Autor Gedanken zu machen. Letzterer kann seine Empörung vor seinen Lesern nicht unterdrücken. „Was fällt meinen Figuren ein! Die ganze Zeit suche ich sie schon und finde sie nun abseits in ein Gespräch vertieft, womit sie entschieden ihre Befugnisse überschreiten.“

Der Autor-Erzähler beschreibt seine Figuren ausführlich, um kaum Zweifel ob ihrer Rolle und Funktion offenzulassen, Beschreibungen, die er oft mit philosophischen Exkursen verbindet, etwa über Existenz und Nichtexistenz, Erinnerung, Bewusstsein, Vergänglichkeit und Unvergänglichkeit oder Traum und Wirklichkeit. 

Die Namen der Protagonisten – Eterna, die Herzallerliebste, der Vater, Quasigenius, der treue Liebhaber, Simpel, der abwesende Kavalier und der Präsident – bestätigen seinen antirealistischen Ansatz, dass sie mehr Allegorien denn Prototypen aus dem wirklichen Leben sind, wie es auch Gerhard Poppenberg in seinem hilfreichen Nachwort bezeichnet. 

Hat man sich erst einmal an die Dynamik, die Sprunghaftigkeit des Erzählers und das Verschmelzen verschiedener Genres gewöhnt, ist man geneigt, diesen scheinbar wirren, kontextlosen Traktaten eine gediegene Literatur- bzw. Kulturkritik abzugewinnen. Immerhin werde man ja, wie es immer wieder angekündigt wird, im Anschluss an die theoretische Grundsteinlegung damit belohnt, im zweiten Teil den ersten guten Roman lesen zu dürfen. Doch der/die kluge LeserIn ahnen es indes schon. Es würde auch den Prologen widersprechen. Schon das erste Kapitel „I (Die Zeit verrinnt. Ein Grund zu weinen)“ weist darauf hin, dass Geduld, Fantasie und Konzentration weiterhin gefordert werden.

So ist es denn auch fast unmöglich, eine Zusammenfassung des Plots zu geben. Denn es gibt keinen solchen. Wie in den Prologen angekündigt, gibt es den Präsidenten, der beschlossen hatte, sein Leben künftig der Freundschaft zu widmen. Also versammelt er in einem Haus, das La Novela (dt. Der Roman) heißt, eine Reihe von Figuren, denen er zu Beginn eine Bedingung stellt. Dass jeder seine Familie, seine Vergangenheit, seinen Schmerz und seine Einsamkeit zurückließe! Nachdem er alle Freunde in La Novela versammelt hat, verteilt er jeder einzelnen Figur eine Aufgabe, die sie alleine erledigen muss.

La Novela liegt in der Nähe von Buenos Aires und eine „alte Herzensangelegenheit“ des Präsidenten war die Rettung der großen Stadt, ihre Eroberung, und zwar mit den Mitteln der Schönheit. Buenos Aires wird thematisch aufgenommen. Es ist der Teil, dem man eine kultur-politische Lektüre abgewinnen kann. „Wenn Ernsthaftigkeit, besonnenes Verhalten, die Denkmäler und Straßen mit ihren eigenen großen Namen sich proportional zu Tugenden und klugem Denken verhielten, wie selten kämen sie dann vor.“ Zeitlich ist der Roman um die Mitte der 1920er- bis Anfang 1930er-Jahre einzuordnen, Jahreszahlen, die der Erzähler-Autor selbst nennt und die der Leser vor allem in diesem Teil in einen zeithistorischen Kontext setzen kann. Doch bleibt es schwierig, Macedonio Fernández politisch klar einzuordnen. Aus seinen hinterlassenen Briefen weiß man lediglich, dass er sich als Anarchist und Spencerianer bezeichnet.1

Es geht auch um Liebe und Leidenschaft, letztere „ein unabkömmlicher Motor“. Schließlich sei sie das höchste Erleben des Seins. So ist der Roman eben auch Eterna (Die Unvergängliche) gewidmet und der Herzallerliebsten. Aber auf „macedonische“ Art. „Dieses Buch, das eigentlich niemand braucht, habe ich nur geschrieben, weil sie ihrem Geliebten ein letztes Lächeln außerhalb dieser Liebe, von der Kunstwelt aus, schenken will.“ Dabei geht es um die zentrale Frage, ob intellektuelle Perfektion (Präsident) neben wahrer Liebe (Eterna) zur Totalliebe führen kann.

Es gäbe noch viele weitere Themen, die durchaus interessant wären, aufgezählt zu werden. Aber kommen wir zum Ende. Das Ende? Ja, aufmerksame LeserInnen dieses Versuchs einer Rezension ahnen es auch schon wieder. Es gibt kein Ende, sondern „viele lose Enden“ und einen akademischen Tod. Und um die Verwirrung zu komplettieren: Der Autor erlaubt offiziell, dass „jeder zukünftige Autor“ diesen Roman „korrigieren und publizieren“ könne, „mit oder ohne Erwähnung meines Werkes und Namens“. 

Das Gerüst des zweiten Teils könnte zwar einem Roman nahe kommen. Doch, seine Prologe miteinbezogen, kommt er einem literarischen Manifest oder gar einer (kafkaesken) Romantheorie gleich. Es ist ein interaktiver „Roman“, in welchem der Autor die Figuren und Leser in seine Reflexionen miteinbezieht. 

Macedonio Fernández war ohne Zweifel seiner Zeit voraus. Die Prosa eines Jorge Luis Borges (Fiktionen, 1944; dt. 1959), Bioy Casares (Morels Erfindung, 1940; dt. 1965) oder Julio Cortázar (Bestiarium, 1951; dt. 1979), auf die Macedonio entscheidenden Einfluss nehmen würde, lagen noch in der Ferne. Dennoch blieb die Literatur Macedonios in Argentinien lange eine Randerscheinung, bis ihn sein 1941 geborener Landsmann Ricardo Piglia viele Jahre später in seinem Roman als Protagonist in „Die abwesende Stadt“ die verdiente literarische Anerkennung gibt. 

Das nun auf Deutsch vorliegende Buch wurde in Argentinien erst 1967 von seinem Sohn Adolfo de Obieta postum veröffentlicht. Warum sollte man diesen Roman lesen, der weder einfach noch flüssig geschrieben ist und streckenweise jeglicher Logik entbehrt, trotz des genialen Humors seines Autors? Tatsache ist, dass man nach der Lektüre weitere Romane mit einem anderen Blick lesen wird. Ich empfehle dieses Buch. Noch heute, oder gerade heute, wo der Büchermarkt mit realistischen Romanen überschwemmt wird, die ihre Motivation eher im Plot denn in literaturästhetischen Aspekten sehen, hält seine literarische Sprengkraft an. Lassen Sie sich ärgern, Sie werden es nicht bereuen!

Macedonio Fernández: Das Museum von Eternas Roman (Erster guter Roman) (und der kindlich-melancholischen „Herzallerliebsten“ einer treuen Liebe, die unerkannt blieb), Übersetzung: Petra Strien-Bourmer, Die Andere Bibliothek, Berlin 2014, 421 Seiten, 36,- Euro

  • 1. Revista Contratiempo, Arte, Pensamiento y Política. „Macedonio Fernández y el peronismo: una carta inedita.“, Daniel Attala, 2011)