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Die Schande von Iguala

Die Allianz von Sicherheitskräften und Organisierter Kriminalität in Mexiko

„1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 26, 27, 28, 29, 30, 31, 32, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 39, 40, 41, 42, 43 – JUSTICIA! Lebend haben sie sie genommen, lebend wollen wir sie wieder!“ So hallte es im Oktober auf vielen der zentralen Plätze und Straßen in Mexiko. Über das Schicksal der 43 Studenten und Studentinnen der ländlichen Lehreruniversität Ayotzinapa, die in einer koordinierten Attacke von Polizisten und Organisiertem Verbrechen am 26. September in der Stadt Iguala im südmexikanischen Bundesstaat Guerrero verschleppt wurden, gibt es auch einen Monat später keine endgültige Aufklärung. Bereits zuvor hatten Polizisten in Iguala das Feuer auf demonstrierende StudentInnen eröffnet und sechs getötet. Die Wahrscheinlichkeit, dass auch die 43 Entführten ermordet wurden, ist trotz der verzweifelten und gleichzeitig wutgefüllten Hoffnung ihrer Angehörigen groß. Immer noch (23. Oktober) ist unklar, ob in den im Umkreis Igualas bisher gefundenen fast 30 (!) Massengräbern auch die Leichen der Studierenden sind. Politisch und in den Herzen vieler MexikanerInnen leben die Studenten und Studentinnen von Ayotzinapa jedoch. Das wurde bei den bisherigen Demonstrationen und unzähligen weiteren Protestaktionen deutlich. In der 130 000-Einwohnerstadt Iguala überwanden die Menschen die Angst. Etwa 20 000 gingen dort auf die Straße. In Mexiko-Stadt füllte sich der Zócalo, der zentrale Platz vor dem Nationalpalast. Vor allem die Kontingente privater und öffentlicher Schulen und Universitäten dürften in dieser Breite und Masse nie zuvor zusammen demonstriert haben.

Gerd Goertz

Die Studierenden von Ayotzinapa gehören landesweit sicher zu den radikalsten und sind tief in den sozialen Bewegungen ihres Bundesstaates verwurzelt. Doch auch die weniger politisierten Studierenden in Mexiko scheinen zu spüren: Das Verbrechen von Iguala und die verspäteten und zum Teil zynischen Reaktionen der Bundesregierung unter Präsident Peña Nieto von der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) sind ein Angriff auf sie alle, auf die Zukunft des Landes. Gleichzeitig wächst der konkrete Zorn, der sich auch in der Zerstörung öffentlicher Gebäude in Guerrero Luft verschafft hat. Die nationalen Ermittlungsbehörden sind trotz der Festnahme am Verbrechen beteiligter Polizisten und von Mitgliedern des Drogenkartells Guerreros Unidos (Vereinigte Krieger) und so aufwändig wie offenbar ineffektiv angelegte Suchaktionen nicht in der Lage oder willens, die Verschwundenen aufzufinden. Der passive und der Realität enthobene Gouverneur Ángel Aguirre, früherer PRI-Politiker und als Kandidat der oppositionellen Partei der Demokratischen Revolution (PRD) 2011 ins Amt gewählt, klammerte sich trotz aller Rücktrittsforderungen bis zum 23. Oktober an seinen Posten. Erst dann bat er die örtliche Legislative um seine „Freistellung“. Die Mehrheit seiner sich offiziell immer noch der Linken zurechnenden Partei unterstützte ihn wochenlang in beschämender Weise. Dadurch wurde die angespannte Lage in Guerrero weiter verschärft.

Die Bestrebungen der mexikanischen Bundesregierung sind darauf gerichtet, die Hintergründe des Massakers – und das ist es auch bei bisher „nur“ sechs Toten – auf die lokale Verschmelzung von Politik und dem Drogenkartell der Guerreros Unidos (Vereinigte Krieger) zu reduzieren. Als Hauptverantwortliche und Auftraggeber nennt Generalstaatsanwalt Jesús Murillo Karam das flüchtige Bürgermeisterehepaar Igualas. Allenfalls wird noch eingestanden, dass fast im gesamten Bundesstaat Guerrero Politik und Polizei vom organisierten Verbrechen „infiltriert“ seien. In 12 Landkreisen Guerreros übernahmen die Armee und die Bundespolizei die Kontrolle. „Inmitten von Schmerz und Tragödie” verwalte die politische Klasse die Schäden, so der Vorwurf des bekannten Journalisten und politischen Analysten Luis Hernández. Lange schon war es ein offenes Geheimnis in Iguala, dass José Luis Abarca zuerst Krimineller und dann PRD-Bürgermeister war. Vor einem Jahr klagte ein Überlebender eines anderen Massakers Abarca an, persönlich den Aktivisten Arturo Hernández ermordet zu haben. Die Presse berichtete darüber. Niemand agierte, weder in Iguala noch in Dutzenden oder Hunderten anderer Landkreise in verschiedensten Bundesstaaten mit ähnlichen Vorkommnissen. Nicht von ungefähr werden 98 Prozent aller Straftaten in Mexiko nicht aufgeklärt. Der Bundesstaat Michoacán hat eine ähnliche Struktur lokaler „Narcoregierungen“ wie in Guerrero. Der Zentralregierung ging und geht es mehr darum, die dort auf Gemeindebasis entstandenen Selbstverteidigungsgruppen zu befrieden als die Struktur der Drogenkartelle zu zerstören. José Mireles, eine der anerkanntesten Persönlichkeiten unter den Selbstverteidigungsgruppen, verweigerte sich der Einvernahme. Er sitzt seit Juni wegen unerlaubtem Waffenbesitz in Haft.

Das Menschenrechtszentrum Frayba gab seinem Mitte Oktober vorgestellten Bericht den Titel „Zwischen offiziellem Zynismus und der Würde der Völker“. Darin werden nicht nur die „systematischen“ Menschenrechtsverletzungen in Mexiko beklagt. Der Bericht konstatiert ebenfalls eine sich vertiefende Korruption und Straflosigkeit bei der Verfolgung von Delikten wie Morden, Hinrichtungen und Verschwindenlassen. Zu einer radikalen Erklärung dieser Situation kommt Víctor Quintana, (ehemaliger) Politiker, Akademiker, Aktivist und scharfsichtiger Beobachter. Er schrieb jüngst in der Zeitschrift alai1: „Was in Guerrero passiert, ist weder die Ausnahme noch der Extremfall in Mexiko. Es ist die unter dem Druck zerplatzte Ader, die überall in diesem hypertonischen Land pulsiert.“ Ereignisse wie Iguala sind danach möglich und werden zugelassen, weil das absolut vorrangige Interesse der Regierung auf der Durchsetzung ihrer Wirtschaftsreformen liegt. Quintana holt weiter aus: „Wenn es bei der verbrecherischen, illegalen Beraubung der Leute und der Nation die eitrige Komplizenschaft von Politikern und Kriminellen gibt, so ist sie ebenso deutlich bei der Allianz zwischen Politikern und Großunternehmern wahrnehmbar. Wie soll da die dünne rote Linie nicht überschritten werden, die das Legale vom Illegalen trennt, um sich mit zugeschnittenen Reformgesetzen den Reichtum der Nation und der Gemeinden anzueignen? Zum blutigen Raub der kriminellen Banden muss der nun formalisierte Raub des Bodenuntergrundes, der Territorien, des Wassers, der Naturschätze addiert werden. Es befremdet nicht, dass ein Staat sich zur Geisel krimineller Mafiabanden machen lässt, wenn er akzeptiert oder besser gesagt verhandelt hat, Geisel und Geschäftspartner der kanadischen Bergbaumafia, der vier multinationalen Ölkonzerne, der großen geschäftemachenden Wasser- und Gentechkonzerne zu sein.“ 

Treffend drückt Quintana den Zustand der parteipolitischen Opposition aus, wenn er die Angst der Herrschenden beschreibt: „Ihr Horror sind nicht die Parteien der Linken, sondern die ganze Vielfalt der Bewegungen. Darum kriminalisieren, morden oder verhaften sie die Führungsfiguren... Und wenn das Gesetz nicht passt, wenn die sogenannten Ordnungskräfte nicht agieren können, dann sind die Auftragsmörder des organisierten Verbrechens für die Drecksarbeit da.“ Quintana kommt aus dem nördlichen Bundesstaat Chihuahua. Wiederholt hat er seine Ansicht bekräftigt, dass im Norden die Drogenkartelle das Terrain mit ihrem Terror faktisch für zukünftige Frackingprojekte „weichklopfen“. Er beschreibt die aktuelle Lage als einem „Land aller“ gegen „das Land der Mafiagruppen“. Und: „Diese landesweite Auseinandersetzung, nicht ein lokales Problem, das steht jetzt in Guerrero auf dem Spiel.“

Die den Vorgängen um die 43 verschwundenen Studenten zu Recht geschenkte Aufmerksamkeit droht ein weiteres Massaker weitgehend unbeachtet zu lassen. Es wurde vom mexikanischen Militär begangen. Am 30. Juni dieses Jahres richtete es in dem relativ abgelegenen Landkreis Tlatlaya im Bundesstaat Mexiko nach Ergebnissen der staatlichen Nationalen Menschenrechtskommission (CNDH) mindestens 15 bereits wehrlose Personen hin. Diese gehörten möglicherweise einem Drogenkartell an. Die offizielle Version der Armee lautete damals, auf eine Aggression reagiert zu haben. Bei der Konfrontation mit ausgiebigen Schusswechseln seien insgesamt 22 Angreifer umgekommen und ein Militär verletzt worden. Zudem hätten drei entführte Frauen befreit werden können. Nach einer am 17. September auf der Internetseite der US-Zeitschrift Esquire veröffentlichten Reportage wurden von den 22 Toten 20 Männer und eine minderjährige Frau jedoch erschossen, nachdem sie sich ergeben hatten. Nur die Veröffentlichung in einem ausländischen Medium und die folgenden Reaktionen internationaler Menschenrechtsorganisationen brachten die Ermittlungen wieder in Gang. Dazu soll Druck aus dem US-Außenministerium gekommen sein. Die nordamerikanische Militärhilfe an Mexiko im Rahmen der sogenannten Merida-Initiative ist laut Vereinbarung an den Respekt der Menschenrechte gebunden. Zuvor hatten sich verschiedene Regierungsinstanzen und auch die CNDH weitgehend mit den Erklärungen der Streitkräfte und der Manipulation des Tatortes zufrieden gegeben. Nun sind bisher drei Militärs als alleinige Sündenböcke verhaftet worden. 

Im Rückblick werden diese Ereignisse, vor allem das Massaker von Iguala, vielleicht einmal als Weggabelung für Mexiko angesehen werden, als ein letzter Auf- und Warnruf an das Land, auf einen einigermaßen zivilisierten Weg zurückzukehren. Die Alternative ist ein Friedhof Mexiko. Die mexikanische Gesellschaft, allen voran die jungen Generationen, scheint aus ihrer mehrjährigen Betäubung aufgewacht zu sein. Doch alleine wird sie die unheilige Allianz zwischen Politik, Wirtschaftsinteressen und Verbrechen kaum brechen können.