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Eine Zwischenbilanz

Dieter Boris' Buch über die Linksregierungen in Lateinamerika
Gert Eisenbürger

Es sind inzwischen 16 Jahre her, dass Hugo Chávez im Dezember 1998 erstmals die Präsidentschaftswahlen in Venezuela gewann. Sein Wahlsieg markierte den Anfang einer Reihe von Regierungswechseln in Lateinamerika, bei denen Mitte-Links-Allianzen oder linke Bündnisse die in den 90er-Jahren dominierenden neoliberalen Regierungsparteien ablösten. Letztere waren bei weiten Teilen der Bevölkerungen diskreditiert, weil ihre Politik nicht nur zu größerer sozialer Ungleichheit geführt, sondern sich auch als äußerst krisenanfällig erwiesen und zudem die Korruption begünstigt hatte.

Unter dem Titel „Bolívars Erben“ hat Dieter Boris, bis zu seiner Emeritierung Professor für Soziologie an der Universität Marburg, nun eine Monographie vorgelegt, die die bisherigen Erfahrungen der Linksregierungen in Lateinamerika kritisch reflektiert. Dabei analysiert er insbesondere deren Wirtschafts- und Sozialpolitik und die dadurch beförderte Änderung der Sozialstrukturen. Ein eigenes Kapitel widmet er der Konzentration der Medienmacht in ausgewählten lateinamerikanischen Ländern und den Versuchen, diese durch neue gesetzliche Regelungen einzuschränken.

Auch wenn das Buch den Untertitel „Linksregierungen in Lateinamerika“ trägt, konzentriert sich Dieter Boris auf Südamerika, die von den ehemaligen Guerillaorganisationen FSLN und FMLN gestellten Regierungen in Nicaragua und El Salvador blendet er weitgehend aus.

Obwohl es zwischen den einzelnen Staaten Südamerikas, in denen in den letzten Jahren linke oder Mitte-Links-Koalitionen die Politik bestimmt hatten, erhebliche Unterschiede gibt und auch die Ausgangsbedingungen sehr verschieden waren, zeigt Dieter Boris, dass es zahlreiche Politikelemente gibt, die alle Linksregierungen verbinden. Dazu gehört, dass sie in der Wirtschaftspolitik keineswegs einen durchweg radikalen Bruch mit der Praxis ihrer Vorgängerinnen vollzogen. Bestimmte Grundelemente von deren neoliberaler Politik, wie die Orientierung auf die Erzielung von Haushaltsüberschüssen, eine Politik der hohen Zinsen und die starke Förderung des Extraktivismus, das heißt der Förderung und des Exports von mineralischen, fossilen und agrarischen Rohstoffen mit oft negativen sozialen und ökologischen Begleiterscheinungen, wurden von den Linksregierungen weitgehend übernommen. Hintergrund für die kaum gebrochene Kontinuität in der Haushaltspolitik waren die negativen Erfahrungen aus der prä-neoliberalen Phase der Importsubstitution der 60er-und 70er-Jahre, die zuletzt durch Haushaltsdefizite, wachsende Außenverschuldung und die daraus resultierende Abhängigkeit von den Finanzmärkten und den Internationalen Finanzinstitutionen sowie hohe Inflationsraten gekennzeichnet war.

Allerdings gab es auf der anderen Seite in den meisten von Linken regierten Staaten Südamerikas auch deutliche Veränderungen gegenüber der bis dato betriebenen neoliberalen Politik. So wurde die von den Neoliberalen im Interesse großer nationaler und internationaler Konzerne betriebene Privatisierungspolitik durchweg beendet. Rückgängig gemacht wurde sie freilich nicht. Es kam nur zu einzelnen Re-Verstaatlichungen vorher privatisierter Unternehmen und auch nur dann, wenn diese vollkommen heruntergewirtschaftet waren.

Die wichtigste wirtschaftspolitische Veränderung war die Förderung der Binnennachfrage durch eine auf breite Einkommenssteigerungen zielende Lohn- und Sozialpolitik. Damit wurde nicht nur die Armut deutlich reduziert, am stärksten vielleicht in Brasilien, sondern auch die durch die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingen (hohe Rohstoffpreise, erhöhte Nachfrage und Investitionsbereitschaft) beförderte günstige ökonomische Entwicklung verstärkt, was allenthalben zu einer Stärkung der lokalen Industrie und Produktion und hohen wirtschaftlichen Wachstumsraten führte. Letztere konnten allerdings auch die meisten konservativ regierten Länder Lateinamerikas vorweisen.

Währungspolitisch sind die meisten links regierten Länder zu einem System flexibler Wechselkurse zurückgekehrt. Die zur Bekämpfung der Inflation verschiedentlich betriebene Anbindung an den US-Dollar wurde aufgeben, was den Regierungen wirtschaftspolitische Handlungsspielräume zurückgab. Ecuador und El Salvador, die in den 90er-Jahren die eigenen Währungen ganz abgeschafft und den US-Dollar zur Landeswährung erklärt hatten, wagten indes nicht den Schritt der Wiedereinführung eigener Währungen, weil sie für diesen Fall erhebliche wirtschaftspolitische Turbulenzen fürchteten.

Während Dieter Boris relativ breit die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Linksregierungen darstellt und deren teilweise beeindruckende Erfolge in der Armutsreduktion würdigt, geht er leider nicht auf andere wichtige Politikfelder ein, wie die Frage der inneren Sicherheit (ein Thema, das die Rechte mit Forderungen nach härterem Vorgehen gegen Straftäter immer wieder durchaus erfolgreich instrumentalisiert), die Gesundheits- oder die Bildungspolitik. Vor allem letztere spielt in den meisten lateinamerikanischen Ländern eine grundlegende Rolle bei der Fortschreibung sozialer Ungleichheit. Weil das öffentliche Schulsystem fast überall äußerst schlecht ausgestattet ist, bieten häufig allein Privatschulen die Voraussetzung, höhere Qualifikationen und damit bessere Berufsperspektiven zu erreichen. Da nur die Mittel- und Oberschichten in der Lage sind, ihren Kindern den Besuch der relativ teuren Privatschulen zu finanzieren, sind die sozialen Aufstiegsmöglichkeiten für ärmere Bevölkerungssektoren weithin begrenzt. Auch wenn die Linksregierungen die Bildungsausgaben erhöht haben, wurde der Zustand der institutionalisierten Ungleichheit im Bildungswesen noch nicht aufgebrochen. Die Ausstattung und damit Qualität der öffentlichen Schulen ist weiterhin deutlich schlechter als die der Privatschulen. Dass fast überall, wo Linke die Regierungen stellen, mehr Geld in den Hochschulsektor fließt, war angesichts der chronischen Unterfinanzierung der öffentlichen Universitäten überfällig, begünstigt aber wieder vor allem die Mittel- und Oberschichten, deren Kinder die große Mehrheit der Studierenden stellen.

Relativ ausführlich widmet sich Dieter Boris in verschiedenen Abschnitten des Buches der Frage, ob und inwieweit die Linksregierungen demokratische Strukturen und Partizipationsmöglichkeiten gestärkt oder geschwächt haben. Mit gutem Grund und überzeugenden Argumenten widerspricht er bürgerlich-liberalen und konservativen AutorInnen, die die Qualität von Demokratie allein an der Existenz und dem Funktionieren formaldemokratischer Strukturen und Regularien wie regelmäßigen Wahlen, der Monopolisierung politischer Entscheidungsprozesse durch Parteien und Parlamente oder den als „Pressefreiheit“ bezeichneten, privatwirtschaftlich organisierten Medienstrukturen festmachen und andere Formen demokratischer Partizipation schnell als „populistisch“ denunzieren. Boris zeigt, dass die Linksregierungen neue politische Interventionsmöglichkeiten der Bevölkerung wie die Verfassungsprozesse in Ecuador, Venezuela und Bolivien, die Möglichkeit von Abwahlreferenden (in Venezuela und Bolivien), die Schaffung regionaler und ethnischer Autonomieregelungen (die er im Fall Bolivien als durchaus problematisch und widersprüchlich diskutiert), die Einführung kommunaler Räte in Venezuela oder die Schaffung von Schnittstellen zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteuren und Regierungen (in Brasilien und Uruguay) beförderten. Er sieht dabei durchaus die Möglichkeit, dass verschiedene dieser Elemente auch benutzt werden können, um Bevölkerung und Bewegungen zu kontrollieren, und verweist darauf, dass es sich letztlich in der Praxis erweisen müsse, welchen Charakter und demokratische Qualität diese Strukturen haben werden. Ich würde hinzufügen, dass demokratische Räume auch gegen bevormundende Staatsbürokratien erkämpft und bewahrt werden müssen, die – und dafür gibt es durchaus Anzeichen in einigen links regierten Ländern – schnell dabei sind, kritische Positionen als reaktionär oder dem Transformationsprozess feindlich gesinnt zu diffamieren.

Dass es tatsächlich massive Versuche der wirtschaftlichen Machtgruppen der jeweiligen Länder, aber auch der USA und der EU gibt, die eingeleiteten Veränderungsprozesse zu torpedieren, steht außer Frage. Dafür stehen die faktischen Staatsstreiche in Honduras und Paraguay, der gescheiterte Putschversuch in Venezuela oder von der Rechten angeheizte innenpolische Konflikte oder von den wirtschaftlichen Machtgruppen provozierte Versorgungsengpässe in verschiedenen Ländern. Während Dieter Boris diese aggressiven Strategien gegen die Linksregierungen benennt, unterschätzt er meiner Meinung nach die „weichen“ Strategien der Einflussnahme. Während die Rechte in Venezuela auf der Straße gewaltsame Auseinandersetzungen provoziert, handeln Unternehmerverbände mit der Regierung „Kompromisse“ aus, was nichts anderes bedeutet, als dass sie ihre Interessen durchsetzen und dafür eine gewisse politische Zurückhaltung in Aussicht stellen. Auch wenn es aus Sicht bedrängter Regierungen als notwendig erscheinen mag, den Machtgruppen Zugeständnisse zu machen, um das eigene politische Überleben zu sichern, ist dies durchaus zweischneidig. Gerade dort, wo es für die Eliten wenig Perspektiven gibt, die Linksregierungen kurz- und mittelfristig loszuwerden, wie etwa in Bolivien und Ecuador, versuchen sie ihre Ziele durch (informelle) Kooperation und die Platzierung unternehmerfreundlicher Leute in wichtigen wirtschaftspolitischen Funktionen zu erreichen. Das zeitigt durchaus Folgen. So hat Ecuador kürzlich das vor allem dem Interesse europäischer und einiger einheimischer Großunternehmen dienende Freihandelsabkommen mit der EU, das die Regierung Correa aus gutem Grund lange abgelehnt hatte, unterzeichnet. In Bolivien mehren sich in der Regierung die Stimmen, dies ebenfalls zu tun.

Dieter Boris steht eher für einen orthodox linken Politikansatz. So verwundert es nicht, dass er libertären Konzepten wie dem John Holloways, die eine grundsätzliche Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse ohne die Übernahme der politischen Macht im Staat favorisieren, eher kritisch gegenübersteht. Es zeichnet ihn aber aus, dass er divergierende linke Positionen ernst nimmt, differenziert analysiert und dann seine Fragen stellt und seine Kritik formuliert. Insbesondere das letzte Kapitel „Staatlichkeit und Transformationsprozesse in Lateinamerika“, in dem er die Funktion, Möglichkeiten, potenziellen Gefahren und Begrenzungen staatlicher Strukturen in Veränderungsprozessen diskutiert, bietet wichtiges Material für eine notwendige Debatte, die sowohl die stärker staatsfixierten als auch die tendenziell antietatistischen Linken, zu denen sich der Autor dieser Rezension zählt, führen müssen.

Eine weitere Stärke des Buches ist, dass Dieter Boris viele Diskussionen und AutorInnen aus der lateinamerikanischen Linken, die bislang in Europa relativ wenig rezipiert werden, vorstellt. Auch wenn es auf wichtige Politikfelder nicht eingeht (was bei einem Umfang von 200 Seiten auch nicht geleistet werden kann), ist „Bolívars Erben“ als erste deutschsprachige Gesamtdarstellung der Politik und Erfahrungen der linken Regierungen in Südamerika äußerst anregend und wichtig. 

Dieter Boris: Bolívars Erben: Linksregierungen in Lateinamerika, PapyRossa Verlag, Köln 2014, 202 Seiten, 14,90 Euro