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Wenn wir die Kultur verlieren, hören wir auf zu existieren

Eine Begegnung mit der Kazika Francisca Mendoza in Tartagal, Argentinien

39 bis 40 Grad waren für den Tag vorausgesagt, als ich Francisca Mendoza treffen will, eine normale Temperatur für die Gegend, in der sie lebt und arbeitet, aber nicht gerade mein „Arbeitsklima“. Francisca ist Kazika (cacica). Das Wörterbuch LEO bietet für Kazike (cazique) die ideologisch gefärbte Übersetzung „Häuptling, Ortstyrann, Bonze, Parteigewaltiger“ an (weshalb die Autorin im Folgenden das Ursprungswort verwendet). Die weibliche Form existiert gar nicht. Und tatsächlich ist die Wahl von Frauen als Gemeindevorsteherin in den indigenen Gemeinden Argentiniens historisch betrachtet ein relativ neues Phänomen. Seit etwa 20 Jahren werden zunehmend Frauen auf diesen Posten gewählt, bei den Guaraní in der Region Tartagal sind es inzwischen mehrheitlich Frauen, aber auch bei den Wichi gibt es heute viele cacicas. Tartagal ist die Kreisstadt des Departements General San Martín in der Provinz Salta in Nordargentinien, in der neben der Provinz Jujuy die meisten Angehörigen der pueblos originarios, der Ursprungsvölker, leben.

Inga Kreuzer

Francisca ist Guaraní-Chané, 63 Jahre alt, hat neun Kinder und lebt in der Gemeinde Peña Morada, von der sie 1998 zur cacica gewählt wurde. Ihre Gemeinde liegt etwa 30 km von der bolivianischen Grenze entfernt. Wir treffen uns in Capiazuti in einer Schule, in der sie gerade zeigt, wie ein für die Region typisches Kunsthandwerk hergestellt wird. Entgegen der Vorhersage sind es nur gefühlte 35 Grad, bedeckt und es weht ein laues Lüftchen, sodass wir uns draußen unter einen Baum setzen.

Francisca erklärt die zunehmende Wahl von Frauen zu cacicas damit, dass Frauen durch ihre tägliche Präsenz in Haushalt und Gemeinde besser deren Bedürfnisse kennen. Gewählt wird auf Gemeindeversammlungen, in denen jede/r ab 18 Jahren wählen kann. Voraussetzung für eine Wahl zur cacica sind deren Fähigkeiten und das Vertrauen der Gemeinde in die Person. Sie selbst wurde in Peña Morada, einer Ansiedlung, die ihr Vater mitbegründet hat, geboren. Alle EinwohnerInnen kennen sie seit langem. Eine besondere Ausbildung habe sie nicht, sie hat die höhere Schule abgebrochen, als sie ihre erste Tochter bekam. Ihr Einkommen verdient sie vor allem mit der Herstellung von Korbwaren, ein Handwerk, das sie von ihrem verstorbenen Mann erlernt habe.

Für ihre Aktivitäten als cacica erhält sie nichts, auch keine Erstattung für Kosten, wie zum Beispiel das Fahrgeld für die Fahrten in die Provinzhauptstadt Salta. Und sie fährt häufig dorthin, etwa um Druck zu machen für die Umsetzung des Gesetzes Ley Felipe Burgos – Desarollo Rural para la Agricultura Familiar,1 an dessen Entstehung sie maßgeblich beteiligt war. Ihre Hauptaufgabe sieht sie darin, die „Dinge zu organisieren, die die Gemeinde braucht“. Dabei zieht sie es vor, vollkommen ehrenamtlich tätig zu sein, das würde ihre Unabhängigkeit garantieren. Die Dauer des Kazikenamtes hängt vom allgemeinen Verhalten und der Amtsführung einer cacica oder eines cacique ab; sie oder er kann bei schlechter Amtsführung jederzeit von der Gemeindeversammlung abgewählt werden.

Als sie 1998 das Amt der cacica übernahm, hatte die Gemeinde kein fließendes Wasser, keinen Strom und keine Schule. Zu dieser Zeit versorgte sich die Ansiedlung unter anderem aus einem selbstangelegten Brunnen mit Wasser. Heute haben alle Wasser und Strom und seit 2005 gibt es auch eine Schule. Seit dem Jahr 2000 hat die Gemeinde den Titel einer „Juristischen Person“, was ihr den Zugang zu Fördermitteln durch die Provinzregierung erleichtert habe. Das Wichtigste jedoch, nämlich die juristische Übertragung des Landes, auf dem die Gemeinde lebt und arbeitet, hätten sie bis heute nicht erreicht.

Als Folge ihrer Amtsführung nennt sie den Zuwachs der Gemeinde. Waren es 1998 nur 14 Familien, so sind es heute 32. Junge Leute, die zur Ausbildung in die Stadt gehen, kommen zurück. Für den Bau des Gemeindezentrums hätten sie seinerzeit einen externen Maurer engagieren müssen. Heute haben sie selber Maurer, Klempner, Elektriker und andere Fachleute in der Gemeinde.

Sie hätten sich auch den veränderten sozialen Bedingungen angepasst, denn die jungen Leute leben jetzt und in dieser Gesellschaft. Früher war es verpönt (bis verboten), mit einer Weißen oder einem Weißen zusammenzuleben. Die Gemeinde habe beschlossen, dass sie zwar weiterhin nicht den Zuzug einer komplett weißen Familie mit einer ganz anderen Kultur wollen, dass aber akzeptiert wird, eine Weiße (einen Weißen) zu heiraten und in die Gemeinde zu integrieren.

Francisca sagt, dass sie den Guaraní angehöre, erst auf Nachfrage konkretisiert sie, dass sie zum Volk der Chané gehört. Sie zieht es vor, nur von pueblos originarios zu sprechen. Nur so könnten die verächtlichen Bezeichnungen für manche indigenen Völker, die durch die Jahrhunderte bis in die heutige Alltagssprache übernommen wurden, abgeschafft werden.

In der Provinz Salta leben vor allem Angehörige zweier großer indigener Sprachfamilien, die Guaraní und die Wichi, denen jeweils eine Vielzahl indigener Völker angehören, die eine ähnliche Kosmovision und den gleichen Sprachstamm haben. Daneben gibt es Minderheiten der Toba, Kolla und Diaguita. Wer mehr über sie wissen will, dem bleibt nur die Fahrt zu den Gemeinden, denn die Geschichte der pueblos originarios wird nur mündlich überliefert, praktisch nur über zwei Generationen: Die Großeltern und Eltern vermitteln sie den (Enkel-)Kindern. Zwar gibt es in der Bibliothek des Franziskaner-Konvents in Salta vielfältige Literatur über die Beobachtungen und Untersuchungen der Missionare, sie sind jedoch meist dem Zeitgeist verhaftet und letztlich vom Ziel der Missionierung bestimmt. Bei dem Versuch, die Vielzahl der indigenen Völker zu erfassen, werden bis hin zu jüngeren Untersuchungen, auch von Seiten der Universität Salta, despektierliche Bezeichnungen für manche Völker übernommen, die ihnen schon zu Inkazeiten auferlegt wurden. Als Beispiel soll hier die Bezeichnung matacos (zur Wichi-Nation gehörend) genügen, die von den Inka abwertend „wilde Tiere“ genannt wurden. Sie selbst nennen sich wichi bzw. ka wichi, das heißt „Leute“ beziehungsweise die „wirklichen Menschen“.

Die Diskriminierung habe zwar abgenommen, bestehe aber fort, etwa in Schulen oder im Krankenhaus. Ihre Eltern konnten nur wenig Spanisch, sie sprachen Guaraní, so sei sie selbst auch aufgewachsen. Ihr Vater wurde deshalb in der Schule abgelehnt.

Anders erging es Evo Morales, der Ende November 2014 zu einem privaten Besuch in die Provinz Salta kam; er besuchte unter anderem seine ehemalige Grundschule im Dorf Campo Santo. Bei der Gelegenheit berichtete er, dass er nur Aymara sprach, als er vor fast 50 Jahren als Kind mit seinem Vater auf der Suche nach Arbeit nach Argentinien kam. Er habe nichts von dem verstanden, was die Lehrerin sagte. Nur dass sie ihn „Evito“ (kleiner Evo) nannte. Durch diese Lehrerin habe er dann Spanisch lesen und sprechen gelernt. Einige Schulen auf dem Land würden heute bilingual unterrichten, erzählt Francisca. Unter Freunden und Verwandten sprechen sie Guaraní, doch gäbe es auch Eltern, die es mit den Kindern nicht mehr sprechen, weil sie sie vor Diskriminierung schützen wollten.

Auf die Frage, inwieweit die Kultur im heutigen Alltag präsent sei, wie es mit der kollektiven Arbeit aussehe und ob es noch den muerte social (Ausschluss aus der Gemeinschaft) gebe, bestätigt Francisca , dass die Kultur nach wie vor das wichtigste Ferment der Gemeinschaft ist. „Wenn wir die Kultur verlieren, hören wir auf zu existieren“, sagt sie und erläutert, dass sie sich damit vor allem auf die Sprache und das Kunsthandwerk bezieht, aber auch auf einige traditionelle Gebräuche wie die Ratsuche beim Heiler (curandero) im Krankheitsfall. Allerdings nähme deren Macht ab, da die meisten curanderos bereits alt sind und keine jungen Nachfolger haben. Das Gemeinschaftsleben habe nach wie vor einen hohen Stellenwert, auch wenn sich sehr vieles verändert habe. So finde zum Beispiel in vielen Gemeinden keine kollektive Landarbeit mehr statt, diese Arbeit würde heute individuell von den Familien geleistet. Den „sozialen Tod“ kennt sie nicht. Der „soziale Tod“ kam bei einem gravierenden Verstoß gegen die Gesetze der Gemeinschaft zum Tragen. Damit konnte ein Mitglied der Gemeinde ausgestoßen werden, die schärfste Strafe der Gemeinschaft gegen ihresgleichen. Mit den Ausgestoßenen redete keiner mehr, auch Angehörige anderer Völker hatten Vorbehalte gegen sie. Die Ausgestoßenen vegetierten meist im Wald vor sich hin, manche wurden verrückt. In dem Gespräch mit Francisca lässt sich nicht klären, ob es ein sprachliches Problem ist, ich zum Beispiel einen falschen Begriff benutze, oder ob es diese Strafe tatsächlich seit langem nicht mehr gibt, in Vergessenheit geraten ist oder sich auf eine ganz andere Ethnie bezieht.

Andere wesentliche kulturelle Merkmale wie Kleidung und bestimmte Feste sind heute in den Karneval integriert. Das Erntedankfest der Guaraní wird im Januar mit chicha (alkoholhaltiges Getränk aus Mais) und pinpin (Tanz) begangen und liegt nahe am Karnevalsbeginn, der hier mehrere Wochen dauert. Der Karnevalsumzug ist in dieser Gegend ohnehin mehr ein Fest der pueblos originarios; in Salta-Stadt wurde der Umzug 2014 nach Limache verdrängt, einem ärmeren Wohn- und Gewerbegebiet. Beim Korso sind dann alle indigenen Völker präsent, in vollem Ornat und aller Farbenpracht. Viele Kostüme bestehen heute aus synthetischen Materialien und werden durch Fantasieelemente ergänzt. Auch nimmt in Salta-Stadt inzwischen eine Vielzahl von bolivianischen Einwanderergruppen teil.

Vom provinzstaatlichen Institut der Ursprungsvölker (Instituto Provincial de los Pueblos Originarios, IPI) in Salta mit seinen untereinander zerstrittenen Repräsentanten fühlen sie sich nicht vertreten, erklärt Francisca. Die Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Organisationen oder Nichtregierungsorganisationen (NRO) sei jedoch gut, zum Beispiel mit ProSoCo (Programas Sociales y Comunitarios), einer vom im Jahr 2002 ermordeten Padre Ernesto Martearena gegründeten NRO, die auch die Schule, in der Francisca Kunsthandwerksunterricht gibt, unterstützt. Ohne die NRO, meint Francisca, hätten sie grundlegende Fortschritte in der Gemeinde nicht erreichen können. Die NRO verfügten über eine Infrastruktur, die sie nicht hätten und auch nicht bezahlen könnten, zum Beispiel Internet, und über politische und internationale Beziehungen, die für sie unerlässlich seien, denn sie bräuchten Öffentlichkeit. Der nächste Schritt sei nun, dass sie auch eine Frau an die Spitze des staatlichen IPI bringen wollten – das wird bereits von verschiedenen Gemeinden gefordert.

  • 1. Das 2011 beschlossene Gesetz zur „Ländlichen Entwicklung der Familiären Landwirtschaft“ ist nach dem indigenen Bauernführer Felipe Burgos benannt, der 1976 während der Militärdiktatur verhaftet wurde und seitdem verschwunden ist.