ila

Ein Gesamtkunstwerk

Gedichte von Roque Dalton und ein Dokumentarfilm
Gert Eisenbürger

In der ila 375 vom Mai 2014 hatten wir den Film „¡Fusilemos la noche! Erschießen wir die Nacht!“ von Tina Leisch vorgestellt, in dem ZeitzeugInnen, aber auch ganz junge Leute über Roque Dalton, den großen Schriftsteller und Revolutionär aus El Salvador sprechen. Durch die vielfältigen Aussagen sehr unterschiedlicher Menschen entsteht ein facettenreiches Bild des Autors, für den Literatur und Revolution stets zwei Seiten einer Medaille waren. Damals war der Film gerade in die Kinos gekommen. Nun ist eine sehr schöne DVD-Edition erschienen. Anders als bei den meisten solcher Pakete haben Tina Leisch und Erich Hackl, der auch an Drehbuch und Konzeption des Films mitgewirkt hat, kein Begleitbuch mit Fotos und Anekdoten von den Dreharbeiten zusamengestellt, sondern haben 34 Gedichte Roque Daltons ausgewählt und übersetzt. So kann man sich den Film anschauen, aber auch lesen, warum Roque Dalton eine solche Ausnahmestellung unter den salvadorianischen Autoren einnimmt und warum seine Gedichte vielen SalvorianerInnen so wichtig sind.

Die sehr ansprechend gestaltete zweisprachige Ausgabe präsentiert einige wunderschöne Liebesgedichte und zahlreiche politische Gedichte, in denen sich der Autor immer wieder mit der Orthodoxie der Linken, namentlich der Kommunisten, auseinandersetzt oder sich darüber lustig macht. Aber auch die Abhängigkeit seines Landes und dessen aufgezwungener Status als Bananenrepublik beschäftigen den Autor und begnadeten Spötter. Dabei sind die Gedichte des vor 40 Jahren, am 10. Mai 1975, ermordeten Autors oft sehr nahe an der Gegenwart. Normalerweise übertragen ÜbersetzerInnen die Texte der AutorInnen möglicht korrekt in die andere Sprache. Bei Daltons bekanntem Gedicht O.E.A. über die neokolonialen Abhängigkeitsstrukturen in Lateinamerika bieten Leisch und Hackl zwei Übersetzungen an, die wortgetreue „OAS“ (Organisation Amerikanischer Staaten) und eine „ins Hier und Heute“. Da ich keinen Zweifel habe, dass Roque Dalton mit der zweiten Version hochzufrieden gewesen wäre, möchte ich sie den ila-LeserInnen nicht vorenthalten:

EU

Der Regierungschef meines Landes
heißt im Moment Alexis Tsipras,
aber Juha Sipilä, der Regierungschef Finnlands,
ist auch Regierungschef meines Landes.
Und Mariano Rajoy, der Regierungschef Spaniens,
ist auch ein wenig Regierungschef meines Landes, wenngleich weniger
als der Regierungschef Frankreichs, also
Manuel Valls, und mehr als der Regierungschef Bulgariens,
Bojko Borissow.
Und die Regierungschefin Deutschlands ist mehr Regierungschef meines Landes als der Regierungschef meines Landes,
der, wie ich schon sagte, im Moment
Alexis Tsipras heißt.

Abgerundet wird das Buch durch einen Text des honduranisch-salvadorianischen Schriftstellers Horacio Castellanos Moya. Der steht zwar am Ende des Buches, ist aber kein klassisches Nachwort über Leben und Werk des Dichters, sondern eine literarische Hommage an Daltons subversiven Humor und seinen immerwährenden Kampf gegen Dogmatismus und Orthdoxie, sei es der katholischen Kirche, der Kommunistischen Partei oder der Guerilla.