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Ein und dasselbe Wirtschaftssystem

John Gibler über Funktionsweise, Nutznießer und Opfer im mexikanischen Drogenkrieg
Gaby Küppers

Acht Grabsteine stehen in zufälliger Anordnung auf einem Friedhof. Im Uhrzeigersinn steht auf ihren Inschriften: „Sie hing sicher irgendwie mit drin“, „Es war ein Bandenstreit“, „Sie haben sich gegenseitig umgebracht“, „Was machte sie auch um die Zeit dort“, „Es war eine Abrechnung“, „Sie zog sich aufreizend an“, Wer weiß, in was er verwickelt war“, „Sie war Hure“. Die Zeichnung stammt aus der Feder des mexikanischen Karikaturisten Antonio Helguera und wurde im März 2010 in der Wochenzeitschrift Proceso veröffentlicht. John Gibler hat deren Titel für sein 2011 auf Englisch erschienenes Buch verwendet, das im Folgejahr auf Spanisch und Deutsch herauskam und seit August 2015 auch in französischer Version zu lesen ist. Letztere Ausgabe sei besonders empfohlen, da ihr ein weiteres Kapitel vom Autor beigefügt und zudem sehr liebevoll mit exzellenten Zeichnungen von Yoel Jimenez ausgestattet ist.

Die Karikatur beschreibt eine wesentliche Technik des Mordens in Mexiko. Die Opfer werden doppelt Opfer, lastet ihnen doch der Verdacht an, selbst schuld zu sein. Die allermeisten bleiben anonym, während umgekehrt ihre Angehörigen die Verschleppten nicht finden. Seit dem gewaltsamen Verschwindenlassen der 43 Studierenden der Landuniversität Ayotzinapa in Guerrero vor einem Jahr, am 26. September 2014, haben BewohnerInnen begonnen, in der Gegend zu graben und allein in den ersten sieben Monaten nach dem Verbrechen in ihrer Stadt mehr als 100 anonyme Leichen zutage gefördert, schreibt John Gibler in dem aktualisierenden Kapitel der französischen Ausgabe. Und er weist auf die neue Praxis des Verbrechens: Fünf Menschen wurden direkt noch am Abend ermordet, einer im Morgengrauen furchtbar verstümmelt tot aufgefunden, 43 sind einfach fort. Die Täter rekonfigurieren ihre Taktiken und Praxis, passen sie den sozialen und politischen Gegebenheiten an, um Terror zu säen, schreibt Gibler.

Eines der Themen des Autors ist, die Opfer der Unsichtbarkeit zu entreißen, ihre entsetzlichen Leidensgeschichten zu erzählen. Dass dabei Entführungs-, Folter- und Mordgeschichten von JournalistInnen im Vordergrund stehen und er dabei besonders auf die nördlichen Staaten Mexikos eingeht, mag man dem US-amerikanischen Journalisten Gibler, der seit 2006 in Mexiko lebt, nicht verübeln, gibt er doch eigene Interviews wieder und redet von denen, deren Metier es ist, Dinge dem Schweigen zu entreißen. Genau das bringt sie wörtlich in die Schusslinie, ebenso wie die ebenfalls erwähnten MenschenrechtsverteidigerInnen und zentralamerikanischen MigrantInnen auf ihrem Weg durch Mexiko Richtung USA.

Was durch Terror zum Schweigen gebracht werden soll und was für ein System hinter dem zehntausendfachen Morden in Mexiko steckt, ist das zweite große Thema des Buchs. Auf Betrachtun- gen Michel Foucaults und Achille Mbembes zu Macht, Realitätsproduktion und Herrschaftssicherung gestützt (keine Angst, die Gedanken sind auch ohne diesen theoretischen Rückgriff verständlich) und mit neueren Beispielen illustriert beschreibt John Gibler das Funktionieren der Drogenökonomie in Mexiko sowie in den USA.

Nicht seien Drogenbanden am Werk, denen der Staat über seine Ordnungskräfte Militär und Polizei vergeblich Einhalt zu gewähren versuche, führt Gibler aus. Auch handle es sich nicht (mehr) um Korruption einzelner staatlicher Kräfte, die sich in den Dienst des Drogenhandels stellten, oder besser: lokaler politischer Kräfte – das ist im Übrigen die These der mexikanischen Regierung im Hinblick auf Ayotzinapa. Vielmehr hätten Polizei- und militärische Kräfte und das organisierte Verbrechen fusioniert. Sie „koexistieren im Inneren derselben politisch-industriellen Maschine“ (s. 208-209, frz. Ausgabe). Die Illegalität der Drogen, von Kokain über Marihuana bis zu synthetischen Drogen, garantiert Lukrativität. Der Drogenhandel ist ein „normales“ kapitalistisches Geschäft, Gewinne aus dem illegalen Markt werden in die legale kapitalistische Wirtschaft eingespeist und halten Banken liquide, selbst wenn die spekulativen Märkte einbrechen, wie infolge der Krise 2008/2009. Die mexikanische Armee macht in diesem Zusammenhang das, was sie immer gemacht hat, schreibt Gibler, sie verkauft eine Plaza (einen Drogenstandort) an ein Kartell und eliminiert die Rivalen (S. 186-187, frz. Ausgabe). Der mörderische Kampf um Einflusssphären ist Teil der Geschäftsstrategie, um Gewinne hoch zu halten.

So gesehen sind die spektakulären Festnahmen von Drogenbandenmitgliedern und speziell deren Capos in den letzten Jahren eben nur das: Spektakel, vom Fernsehen verbreitet, um die Grausamkeit dieser Ökonomie mit blutrünstigen Details, waffenstrotzend und mit Siegergewalt und Unterlegenenposen bildlich vor jedermanns und jeder Frau Augen zu führen. Die Verlierer sind demnach die von einer Plaza Verjagten oder in Ungnade Gefallenen und Verratenen, austauschbar. Dagegen habe Calderón, der vormalige mexikanische Präsident, der 2006 den Krieg gegen die Drogen ausrief, kein Unternehmen und keine Bank geschlossen, kein Vermögen eingefroren, keineN hochrangigeN Militär oder PolitikerIn strafverfolgt (ebda., S. 84). Die Straflosigkeit ist allgegenwärtig. Ein guter Kontext, um soziale AktivistInnen und Oppositionelle straffrei und oft mit brutalsten Methoden zu entsorgen und das Gebot des Schweigens aufzuerlegen. Denn das Geschäft ist ein offenes Geheimnis, von dem niemand reden darf.

An dieser Stelle zeigt sich das Besondere dieses Buchs. Der US-Amerikaner John Gibler zieht die Parallelen zu seinem Land, zum Prohibitionismus, der die Drogen nicht zum Verschwinden gebracht, sondern zur Verstetigung der Geschäftsgewinne und zur sozialen Kontrolle und Kriminalisierung der armen und schwarzen Bevölkerung geführt hat. Ronald Reagans Drogenkrieg in Zentralamerika Anfang der 80er hat die dortige Drogenökonomie und den Waffenhandel so richtig auf Trab gebracht. Schon Ende der 60er begann die damalige Regierung Nixon unabgesprochen die mexikanische Grenze rigoros zu kontrollieren. 1976 schickt er die Armee und DEA (US-Drogenkontrollbehörde) zur Entlaubung von Marihuana in den Norden Mexikos, der Ursprung des Sinaloa-Kartells. Unter dem mexikanischen Präsidenten Salinas und seiner neoliberalen Öffnung breitete sich die illegale Ökonomie weiter aus. Die Ablösung der über 70-jährigen PRI-Herrschaft durch die konservative PAN unter Vicente Fox im Jahr 2000 zerschnitt bestehende (Handels-) Netze. Sein Nachfolger Calderón rief den Drogenkrieg aus, ein erklärter Krieg, im Unterschied zu den USA, wo der Krieg, so Gibler, unerklärt, unsichtbar ist. In Mexikos Straßen patrouillierende Soldaten, Waffen, Kampf rivalisierender Banden um die Einflusssphären, Verschwundene und Ermordete, Terror und soziale Desintegration auf der einen, Gewinne aus dem Drogengeschäft auf der anderen Seite stiegen gleichermaßen in nie dagewesene Höhen. 8 bis 39 Milliarden Dollar fließen jährlich schwarz aus den USA nach Mexiko zurück, davon landen 10 bis 25 Milliarden jährlich gewaschen im legalen mexikanischen Finanzsystem, sagt die DEA (ebda., S. 184). Das hat sich unter Calderóns Nachfolger Peña Nieto seit 2012 nicht geändert.

Als Gibler 2011 sein Buch abschloss, war ein Ruck durch die mexikanische Gesellschaft gegangen. Der bekannte Dichter Javier Sicilia hatte eine ganze Nation mobilisiert, nachdem sein Sohn Juan Francisco zusammen mit sieben weiteren StudentInnen tot in einem Auto entdeckt worden war. Sicilia glaubte nicht an die offizielle Version einer Abrechnung im drogenkriminellen Milieu. Mit Sicilia gingen Hunderttausende auf die Straße. Im letzten Kapitel der gerade erschienenen französischen Ausgabe seines Buchs zeigt sich Gibler enttäuscht über das spätere Abflauen der Bewegung.

Eine neue Bewegung hat sich nach dem Drama von Ayotzinapa gebildet, auch international (die französische Ausgabe ist sicher auch der Empörung angesichts Ayotzinapas in Frankreich zu verdanken). Aber auch 2015 ist es zunehmend schwer, der Übermacht der „offiziellen Geschichte“ von der Abrechnung zwischen Banden unermüdlich die Stirn zu bieten. Nach den Winterferien nahm die Mobilisierung ab. Gerade deswegen unterstreicht er, dass die Hoffnung auf Gerechtigkeit nur dann Früchte trägt, wenn es Menschen gibt, die aufstehen und handeln (ebda. S. 220).

Seit Inkrafttreten des Freihandelsvertrags NAFTA zwischen den USA, Kanada und Mexiko 1994 haben sich die Wirtschaft und gerade auch die Landwirtschaft Mexikos grundlegend verändert. Während die Drogenökonomie die gesamte Gesellschaft erfasste, Summen wie die oben genannten einspielte und vielleicht 100 000 Menschen das Leben kostete, gingen zwischen 2000 und 2009 allein 1,1 Millionen, also 27 Prozent der Arbeitsplätze im verarbeitenden Sektor, verloren und befindet sich heute ein Drittel der Beschäftigten im informellen Sektor (ebda., S. 184).

Im Jahre 2000 trat das Globalabkommen EU-Mexiko in Kraft, das den beiderseitigen Handel um 237 Prozent gesteigert und die Handelsbilanz sehr stark zugunsten der EU-Mitgliedsländer umgekehrt hat. In den kommenden Monaten beginnen Verhandlungen zur „Modernisierung“, also Erweiterung dieses Abkommens. Giblers Buch über Akteure, Verantwortliche, Nutznießer und Opfer im Wirtschaftssystem Mexicos sollte da eigentlich Richtschnur sein. 

 

Die französische Ausgabe: John Gibler: Mourir au Mexique. Narcotrafic et Terreur d’Etat, traduit par Stephen Sanchez et Anna Touati, mit aktuellem Nachwort des Autors, Toulouse: CMDE, August 2015, 15 Euro.
Zu beziehen über: CMDE (Collectif des métiers de l’ édition),  43, rue de Bayard, F-31000 Toulouse, contact@editionscmde.org, www.editionscmde.org