ila

Dogma statt Argumente

Die Verdammung des bolivianischen Kinder- und Jugendgesetzes durch die Internationale Arbeitsorganisation steht auf schwachen Füßen

Im Oktober 2014 (siehe Artikel „Bolivien geht neue Wege. Statt Kinderarbeit zu verbieten, werden die Rechte arbeitender Kinder geschützt“ in  ila 379) hatten wir ein neues Kinder- und Jugendgesetz vorgestellt, das unter Mitwirkung von Kindern und Jugendlichen zustande gekommen war. Nun hat die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) auf ihrer Internationalen Arbeitskonferenz, die vom 1. bis 12. Juni 2015 in Genf stattfand, dieses Gesetz ins Visier genommen. Statt sich Gedanken zu machen, ob sie anders als die bisherige Verbotspolitik gegen „Kinderarbeit“ den Schutz arbeitender Kinder verbessern könnte, hat die Konferenz sich damit begnügt, das Gesetz zu verdammen. Erneut wurde arbeitenden Kindern verweigert, sich auf der Konferenz zu Wort zu melden.

Manfred Liebel
Peter Strack

Die ILO wurde 1919 mit dem Ziel gegründet, den mit der kapitalistischen Wirtschaftsweise entstandenen Klassenkampf zwischen „Arbeit“ und „Kapital“ in friedliche Bahnen zu lenken. Sie sollte zum geregelten Austragen von Interessenkonflikten und zum sozialen Ausgleich in den Arbeitsbeziehungen sowie zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen beitragen. Um diese Agenda zur Humanisierung des Kapitalismus erfolgreich zu gestalten, kam man auf die Idee, die Arbeitgeberorganisationen und die Gewerkschaften in dasselbe Boot zu holen. Sie sollten gemeinsam mit den Regierungen an internationalen Übereinkommen zur Regelung der Arbeitsbeziehungen basteln und ihre Umsetzung kontrollieren.  

Seit 1946 ist die ILO eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen mit gegenwärtig 186 Mitgliedsstaaten. Sie ist die einzige UN-Organisation, in deren Entscheidungsgremien nicht nur Regierungen, sondern in Gestalt von Gewerkschaften (in der offiziellen ILO-Terminologie workers) und Arbeitgeberverbänden (employers) auch gesellschaftliche Organisationen vertreten sind (sogenannte Drei-Parteien-Struktur tripartism). Das höchste Entscheidungsgremium ist die Internationale Arbeitskonferenz, die in der Regel alle zwei Jahre in Genf tagt. Innerhalb der Arbeitskonferenz überprüft ein Normenkontrollausschuss regelmäßig, inwieweit die Mitgliedsstaaten die von ihnen ratifizierten ILO-Konventionen bei der Gesetzgebung beachten.1 Diesem Ausschuss ist ein Sachverständigenausschuss vorgelagert, der eine Vorprüfung vornimmt. Während im Normenkontrollausschuss die drei Parteien der ILO vertreten sind, gehören dem Sachverständigenausschuss 20 Personen (allesamt Juristen) an, die vom ILO-Generalsekretär ernannt werden.

Eines der Hauptziele der ILO ist die Bekämpfung und Abschaffung der „Kinderarbeit“ (child labour), wobei zu bedenken ist, dass die ILO ein spezifisches Verständnis davon hat, das sich im Laufe der Zeit verändert hat. Hierzu wurden seit Bestehen der ILO zahlreiche Konventionen verabschiedet. Die heute gültigen Konventionen sind die 1973 beschlossene Konvention 138, in der ein Mindestalter für die Erwerbstätigkeit von Kindern festgelegt ist, und die 1999 beschlossene Konvention 182, die gegen die „schlimmsten Formen der Kinderarbeit“ gerichtet ist.

Im Falle des bolivianischen Gesetzes hatte der Sachverständigenausschuss zu Beginn des Jahres 2015 eine Stellungnahme vorgelegt, in der Verstöße gegen die ILO-Konventionen 138 und 182 festgestellt wurden.2 Diese Stellungnahme wurde nun durch den Normenkontrollausschuss mit Blick auf die Konvention 138 im Wesentlichen bestätigt. Dabei hat sich der Ausschuss nicht die Mühe gemacht, die Bestimmungen des Gesetzes in ihrer immanenten Logik und im spezifischen bolivianischen Kontext zu würdigen, sondern sich darauf beschränkt, ihre vermeintlichen Abweichungen von der Konvention 138 festzustellen. Der bolivianische Staat wurde aufgefordert, ein neues Gesetz zu erarbeiten. Um ihm dabei „behilflich“ zu sein, wurde beschlossen, eine „technische“ Kommission (technical assistance) nach Bolivien zu entsenden.      

Zur Erinnerung: In dem neuen Gesetz wird betont, dass alle arbeitenden Kinder das Recht haben, durch den Staat auf allen seinen Ebenen, durch die Familie und durch die Gesellschaft vor wirtschaftlicher Ausbeutung und vor jeglicher Arbeit geschützt zu werden, die Gefahren mit sich bringt und insbesondere ihr Recht auf Bildung, ihre Gesundheit, ihre Würde und ihre integrale Entwicklung gefährdet. Der Staat verpflichtet sich, auf allen politischen Ebenen Vorsorge- und Schutzprogramme für arbeitende Kinder unter 14 Jahren durchzuführen und insbesondere die Familien zu unterstützen, die in extremer Armut leben. Damit soll nicht nur ein umfassender Schutz der arbeitenden Kinder gewährleistet, sondern ihnen auch erleichtert werden, sich gegen die Verletzung ihrer Rechte zu wehren. Durch die Bekämpfung der Armut soll zumindest ein Teil der Gründe beseitigt werden, die Familien nötigen, auf die Arbeitskraft ihrer Kinder zurückzugreifen, oder die Kinder nötigen, zum Lebensunterhalt mit jeglicher Arbeit vorlieb zu nehmen, die sich ihnen bietet. Auf diese Weise soll den strukturellen Ursachen der wirtschaftlichen Ausbeutung der Kinder entgegengewirkt werden.

Internationales Aufsehen hatte erregt, dass in dem neuen Gesetz erstmals kein generelles Verbot der Erwerbstätigkeit von Kindern (also von „Kinderarbeit“) unter 14 Jahren vorgesehen ist, sondern eine Regelung gewählt wird, die nach Art der Arbeit und Alter der Kinder differenziert. Kindern im Alter von 10 bis 14 Jahren wird „in Ausnahmefällen“ und unter besonderen Voraussetzungen die Arbeit gestattet und ihnen werden entsprechende Arbeitsrechte und Schutz vor Gewalt und Ausbeutung garantiert.

Mit den Regelungen wird zwar die wirtschaftliche Ausbeutung von Kindern nicht aus der Welt geschafft, das ist mit einem Gesetz allein ebenso wenig möglich, wie mit internationalen Konventionen, aber es wird ein rechtlicher Rahmen vorgegeben, der arbeitenden Kindern garantiert, dass ihre Rechte beachtet werden und dass sie sich gegen deren Verletzung wehren können. Bei allen Schwierigkeiten, die bei der praktischen Umsetzung zu erwarten sind, wäre anzuerkennen, dass hier ein Versuch unternommen wird, die Lage der arbeitenden Kinder und insbesondere ihren Schutz zu verbessern. Bei der Arbeit, die Kindern nach diesem Gesetz gestattet wird, würde es sich nicht mehr um Arbeit handeln, die Kindern schadet. Damit stellt sich die Frage ob die ILO-Konventionen zur „Kinderarbeit“ überhaupt anwendbar sind.

Der ILO-Normenkontrollausschuss hat sich weder diese Frage gestellt, noch die einzelnen Regelungen des Gesetzes erörtert. Er hat schlicht den Blick darauf gerichtet, ob Kindern unterhalb des in der ILO-Konvention 138 vorgesehenen Mindestalters von 14 Jahren eine Arbeit erlaubt wird. Die dafür formulierten Voraussetzungen und vorgesehenen Schutzregelungen wurden als irrelevant betrachtet. Die im Ausschuss geführte Debatte drehte sich allein um die Frage, ob das Gesetz darauf gerichtet ist, jegliche Arbeit von Kindern zu bekämpfen und ihre Abschaffung in die Wege zu leiten.3

An der Debatte beteiligten sich außer den Vertretern aus Bolivien (Regierung, Nationaler Gewerkschaftsbund COB, Arbeitgeberverband der Privatwirtschaft CEPD) sieben Regierungen (Cuba, zugleich im Namen der Gruppe der Länder Lateinamerikas und der Karibik, sowie im einzelnen Nicaragua, Venezuela, Kanada, Schweiz, Ägypten und Pakistan) sowie zwei Gewerkschaften (Uruguay und Ghana).

Die Debatte wurde vom Arbeitsminister Boliviens eröffnet. Er betonte die gleichbleibende Selbstverpflichtung seiner Regierung, die Gründe erzwungener und gefährlicher Arbeit und der wirtschaftlichen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen zu beseitigen. Hierzu hätte die Arbeit von Kindern, die weitgehend in der informellen Wirtschaft stattfinde, sichtbar gemacht werden müssen. Ebenso sei zu bedenken, dass die Gründe für die Kinderarbeit struktureller Natur seien und deshalb vielfältige politische Maßnahmen zur allmählichen und effektiven Beseitigung dieser Gründe erforderlich gewesen seien. Er führte zahlreiche Maßnahmen auf, die der bolivianische Staat seit 2006 ergriffen habe, um allen BürgerInnen ein würdiges und besseres Leben zu ermöglichen. Der Mindestlohn sei zwischen 2004 und 2015 um 400 Prozent auf 237 US-Dollar angehoben worden und die in extremer Armut lebende Bevölkerung habe sich seit dem Jahr 2000 von 45 auf 18 Produzent reduziert. Das neue Gesetz sehe Präventions- und Schutzprogramme für alle arbeitenden Kinder unter 14 Jahren vor. Die für das Mindestalter der Beschäftigung von Kindern getroffenen Ausnahmeregelungen seien vorläufig und würden bis zum Jahr 2020 gegenstandslos. Unter Nennung der einzelnen Bestimmungen des Gesetzes bestritt er, dass die Konvention 138 verletzt werde, und beteuerte die Absicht seiner Regierung, letztlich jegliche Kinderarbeit zu beseitigen. 

Die Vertreter des bolivianischen Arbeitgeberverbandes unterstrichen unter Berufung auf die vorangegangene Stellungnahme des ILO-Sachverständigenausschusses, dass das neue Gesetz in vielerlei Hinsicht die Konvention 138 verletze. Sie forderten die ILO auf, mittels „technischen Beistands“ darauf hinzuwirken, dass das Gesetz dieser Konvention angepasst werde. Die Vertreter des Gewerkschaftsbundes betonten ihrerseits, das Gesetz verletze die ILO-Konvention, indem es die Arbeit von Kindern unter 14 Jahren „legalisiere“. Dies stärke die Kinder nicht, sondern öffne die Tür zu allen Arten von Missbrauch, nicht zuletzt deshalb, weil die Regierung nicht die Kapazitäten habe, die Arbeitsbedingungen von 850 000 arbeitenden Kindern zu überwachen. Die Regierung habe sowohl innerhalb des Landes als auch gegenüber den Nachbarländern das „falsche Signal“ gesetzt. Überdies beklagten die Gewerkschaftsvertreter, die „Sozialpartner“ seien bei der Ausarbeitung des Gesetzes nicht konsultiert worden, wobei ihnen belanglos erscheint, dass die unmittelbar betroffenen arbeitenden Kinder umfassend konsultiert wurden. Im Lauf der weiteren Diskussion beklagten auch die Arbeitgebervertreter, nicht konsultiert worden zu sein. Paradoxerweise behaupteten sie gleichzeitig, in dem von ihnen repräsentierten Arbeitssektor gäbe es keine Kinderarbeit, die finde vorwiegend in der „informellen Ökonomie“ statt. Am Ende schlossen sich die Gewerkschaftsvertreter der an die ILO gerichteten Bitte des Arbeitgeberverbandes an, der bolivianischen Regierung technischen Beistand zu gewähren, um ein neues Gesetz auszuarbeiten.       

Alle Regierungs- und Gewerkschaftsrepräsentanten, die sich anschließend äußerten, betonten gebetsmühlenartig, wie wichtig ihnen sei, die Kinderarbeit abzuschaffen. Dies scheint zum Ritual von ILO-Konferenzen zu gehören. Interessant waren allerdings einige Zwischentöne. Während die Regierungsvertreter der Schweiz und Kanadas schlicht behaupteten, das Gesetz hindere die Kinder unter 12 Jahren, der Schulpflicht nachzukommen, und sende den Familien und Kindern „die falsche Botschaft“, würdigten die Regierungsvertreter der lateinamerikanischen Länder sowie Pakistans und Ägyptens den politischen Willen der bolivianischen Regierung, die Ausbeutung von Kindern zu stoppen. Sie hoben lobend hervor, dass die bolivianische Regierung nicht einfach die Kinderarbeit, sondern ihre strukturellen Ursachen beseitigen beziehungsweise reduzieren wolle und dass das Gesetz unter „aktiver Partizipation und im Dialog mit der Zivilgesellschaft“ beziehungsweise mit Kindern, Familien, Gemeinschaften und der Nation im Ganzen ausgearbeitet worden sei. Der Regierungsvertreter Pakistans wies ausdrücklich darauf hin, dass das Gesetz darauf abziele, Kindern Schutz zu gewähren, die andernfalls außerhalb gesetzlichen Schutzes geblieben wären. Der Regierungsvertreter Ägyptens forderte, der Regierung müsse Gelegenheit gegeben werden, ihre „entsprechenden Anstrengungen fortzusetzen“, im Klartext, das Gesetz umzusetzen.   

Doch nichts von diesen abwägenden und teils positiven Kommentaren findet sich in den am Ende beschlossenen „Schlussfolgerungen“. In ihnen wird die Regierung Boliviens „ermahnt“, die Bestimmungen des Gesetzes außer Kraft zu setzen, die sich auf das Mindestalter für die Aufnahme einer Beschäftigung oder „leichten Arbeit“ beziehen (Art. 129, 132 und 133); sofort ein neues Gesetz unter Konsultation der Sozialpartner auszuarbeiten, in dem das Mindestalter für die Aufnahme einer Beschäftigung mit der Konvention 138 übereinstimmt; die Arbeitsüberwachungsbehörden mit mehr personellen und technischen Ressourcen auszustatten sowie ihr Personal besser auszubilden, um eine wirkungsvollere und konkrete Anwendung der Konvention 138 zu gewährleisten; von der Gelegenheit des „technischen Beistands“ der ILO Gebrauch zu machen, um das Gesetz mit der Konvention 138 in Übereinstimmung zu bringen und schließlich dem Sachverständigenausschuss bis zu seiner kommenden Sitzung detailliert darüber zu berichten.

Der Vertreter der bolivianischen Regierung widersprach ausdrücklich diesen „Schlussfolgerungen“ und behielt seiner Regierung das Recht vor, sie zu analysieren und die eigenen Beobachtungen zu einem späteren Zeitpunkt mitzuteilen. Aus dem „vorläufigen Protokoll“, das dieser Darstellung zugrunde liegt, geht nicht hervor, wie die „Schlussfolgerungen“ zustande kamen. Obwohl sie mit der Bemerkung eingeleitet werden, sie seien auf der Basis der Diskussion formuliert worden, scheinen Funktionäre der ILO einfach „zusammengefasst“ zu haben, was schon vor der Diskussion feststand. Dann wurde nur noch die Hand gehoben und der Daumen der Mehrheit aus Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und Regierungen des Nordens zeigte nach unten.

Bei der Stellungnahme der ILO zum bolivianischen Kinder- und Jugendgesetz wird erneut deutlich, wie fragwürdig der Kontrollmechanismus und die Entscheidungsfindung dieser UN-Sonderorganisation ist. 

Seit der Gründung der ILO vor nunmehr fast 100 Jahren war „Kinderarbeit“ eines ihrer bevorzugten Aktionsfelder. Die von der ILO vertretenen Konzepte im Umgang damit waren von den Erfahrungen in der Frühzeit des Kapitalismus in Europa geprägt, in der Kinder vor allem in der Textilindustrie und den Kohleminen in extremer Weise ausgenutzt und ausgebeutet worden waren (die Landwirtschaft nahm sie erst später in den Blick und noch viel später die Arbeit von Kindern in fremden Haushalten). Die Handlungsperspektive der ILO orientierte sich weitgehend an der Sicht der Gewerkschaften, die in den arbeitenden Kindern eine billige Konkurrenz zu den erwachsenen LohnarbeiterInnen sahen. Das zugrundeliegende Denkmuster war allein arbeitsmarktpolitischer Natur. Die einzig erfolgversprechende Lösung wurde darin gesehen, die Kinder mittels gesetzlicher Verbote und der Einführung der Schulpflicht vom Arbeitsmarkt fernzuhalten, ein Handlungsmuster, das seit Mitte des 19. Jahrhunderts von den sich modernisierenden Obrigkeitsstaaten in Europa praktiziert worden war. In den Kindern wurden bestenfalls bemitleidenswerte und zu rehabilitierende Opfer gesehen, denen durch karitative Maßnahmen geholfen werden sollte. Die freigesetzten Kinder wurden allerdings auch als potenzielle Gefahr für die bestehende Ordnung betrachtet. Sie wurden nicht selten als „Straßenkinder“ zum Objekt von Polizei-, Fürsorge- und Justizbehörden. Von Kinderrechten keine Spur.

Diese Denk- und Lösungsmuster lassen sich bis heute in den ILO-Konventionen zur Kinderarbeit besichtigen. Sie wurden nach dem Zweiten Weltkrieg lediglich auf andere Teile der Welt ausgeweitet und als Muster für die zivilisatorische Entwicklung der aus den Kolonien hervorgegangenen Nationalstaaten gepriesen. Noch in der Konvention 138 aus dem Jahr 1973 und ihren Begründungen war eine kinderrechtliche Argumentation nicht zu erkennen. Erst seit der Verabschiedung der UN-Kinderrechtskonvention im Jahr 1989 bemüht sich die ILO, ihren Kampf gegen die Kinderarbeit als Kampf für die Kinderrechte darzustellen. Aber bis heute konnte sich die ILO nicht dazu durchringen, das Recht der Kinder ernst zu nehmen, bei Entscheidungen, die sie betreffen, angehört zu werden und mitwirken zu können. Die überkommene erwachsenenzentrierte und arbeitsmarktorientierte Perspektive der ILO spiegelt sich bis heute in der Zusammensetzung und den Entscheidungsprozeduren ihrer Gremien.  

Hinsichtlich des Themas Kinderarbeit fehlte der ILO von Anfang an die nötige Kompetenz und Legitimation. Die in ihren Gremien vertretenen Organisationen hatten kaum Erfahrung mit Kindern und konnten deshalb im Umgang mit dem sozialen Problem Kinderarbeit auch nicht deren Perspektiven und Interessen aufgreifen. Dieses Problem verschärfte sich noch, seit die Orientierung an Kinderrechten weltweit zum offiziellen Maßstab des kinder- und sozialpolitischen Handelns wurde. Die spätestens seit den 80er-Jahren erhobenen Forderungen, zivilgesellschaftliche Kinderrechtsorganisationen (NRO) und die Organisationen der arbeitenden Kinder und Jugendlichen selbst, die es ebenfalls seit den 80er-Jahren gibt, in die Entscheidungsprozeduren der ILO einzubeziehen, stoßen bis heute auf taube Ohren. Umso absurder ist es, dass die ILO in dieser Zeit sogar begann, die Meinungsführerschaft in Fragen der Kinderarbeit zu beanspruchen und sich als soziale Bewegung gegen Kinderarbeit zu stilisieren.  

Der Autoritätsanspruch der ILO als UN-Organisation ist zumindest in Fragen der Kinderarbeit obsolet. Die diesbezüglichen ILO-Konventionen sind weder unter relevanter Beteiligung von Kinderrechtsorganisationen noch derjenigen arbeitender Kinder und Jugendlicher zustande gekommen. Die zaghaften Zugeständnisse, die sich 1997 bei den Vorbereitungsarbeiten zur ILO-Konvention 182 abzeichneten, wurden rasch auf Betreiben von Gewerkschaften, die um ihr Monopol fürchteten, wieder abgewürgt. Seitdem wird Kindern und NRO nur noch gestattet mitzureden, wenn von vornherein absehbar ist, dass sie sich pauschal gegen jede Art von Kinderarbeit positionieren. Ein Beispiel ist die Einbeziehung des Global March against Child Labour bei der Verabschiedung der Konvention 182. Ebenso schottet sich die ILO vor wissenschaftlichen Expertisen ab, die den Sinn und die Wirksamkeit der Konventionen gegen Kinderarbeit in Frage stellen; bei Auftragsarbeiten, die zu unerwünschten Ergebnissen kommen, verhindert sie deren Veröffentlichung.

Bis heute wird auf den ILO-Arbeitskonferenzen nicht über die eigenen Konventionen offen diskutiert und über ihre Verbesserung oder Revision nachgedacht. Sie gelten als sakrosankt. Es geht immer nur darum, nationale Gesetze an ihren Maßstäben zu messen. Darin unterscheidet sich die ILO-Praxis vom Umgang mit der UN-Kinderrechtskonvention. Der für ihre Kontrolle und Weiterentwicklung verantwortliche UN-Kinderrechtsausschuss (der im Unterschied zum ILO-Sachverständigenausschuss von der Generalversammlung der Vereinten Nationen gewählt wird und in seiner Zusammensetzung kompetenter ist) lädt immer wieder zu offenen Diskussionen einzelner Artikel der UN-Kinderrechtskonvention ein und reflektiert die Notwendigkeit ihrer Weiterentwicklung in grundsätzlichen Stellungnahmen (den General Comments). Nichts davon findet im Rahmen der ILO statt.

Wie sehr die ILO-Gremien in Ritualen und Lippenbekenntnissen erstarrt sind, ließ sich nun wieder an der Debatte zum bolivianischen Kinder- und Jugendgesetz ablesen. Der autoritative Gestus, mit dem die Schlussfolgerungen präsentiert wurden, wirkt aufgesetzt und kann den Mangel an Sachkenntnis und Legitimität nur schlecht vertuschen. Besonders gravierend ist, dass auch in diesem Fall die ILO den unmittelbar betroffenen arbeitenden Kindern wieder verwehrt hat, sich an der Debatte zu beteiligen. Die 17jährige Lourdes Cruz Sánchez aus Bolivien, der es zumindest gelungen war, bei der Debatte anwesend zu sein, drückt dies so aus: „All diese Dinge über dein Land zu hören, aus dem Zusammenhang gerissen und vielfach einfach unwahr, wie die immer wiederkehrende Behauptung, dass arbeitende Kinder in Bolivien nicht die Schule besuchen können ... und du darfst selbst dazu nichts sagen. Das ist das Hässlichste, was mir in meinem Leben passiert ist. Ich musste mir anhören, dass das neue Gesetz ein Rückschritt ist. Wo es doch die Kritiker sind, die nicht merken, dass Tausende von Kindern in ihren Ländern arbeiten. Und dass sie selbst rückschrittlich sind, wenn sie die arbeitenden Kinder verstecken, statt sie in das Blickfeld zu holen, um sie zu schützen. Ich weiß nicht, ob es mehr Wut oder Ohnmacht war, die ich empfand.“4