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Kohlestollen unter Wohnhäusern

Illegalisierte Minen in Cali

Über die Westhänge Calis erstrecken sich die marginalisierten Wohnviertel der Comuna 20, bekannt als das gefährliche Viertel Siloé, über das stets im Kontext von Bandenkriminalität und Drogenhandel berichtet wird. Nur Eingeweihte wissen, dass es sich nicht nur um normale Wohnhäuser handelt, sondern sich darin Eingänge zu illegalen Kohleminen verbergen. Durch die Häuser geht es hinab in ein labyrinthartiges Tunnelsystem. Und nicht nur heute hat Kohle weiterhin eine Bedeutung in Siloé, sondern die Geschichte der gesamten Stadt ist mit dem „schwarzen Gold“ eng verflochten.

Anna-Lena Dießelmann
Manuel Eisele

Die Geschichte der Kohle in Cali beginnt in Siloé. Javier Cisneros, der als erster Ingenieur mit dem Bau der Pazifikeisenbahn beauftragt wurde, kaufte 1881 eine Hacienda am Rand von Cali. Vier Jahre später dokumentiert er den ersten Abbau von Kohle auf seinem Land. Ihm und anderen Landbesitzern war bereits um 1800 bekannt, dass die Hangregion Calis Teil eines „Kohlestreifens“ ist, der sich über die östliche Flanke der westlichen Kordillere Kolumbiens von Buenaventura an der Pazifikküste bis nach Popayán erstreckt. Aus Europa wussten sie um die Bedeutung der Kohle bei der wirtschaftlichen Entwicklung, es fehlten ihnen im dünn besiedelten Cauca-Tal lediglich Arbeiter zum Kohleabbau.

Dieses Problem sollte sich bald auf makabre Weise lösen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kamen Vertriebene des Bürgerkriegs aus der Region Viejo Caldas, vor allem aus den Städten Marmato, Santa Rosa de Osos und Supía. Die Vertriebenen stammten aus einer goldreichen Region, aus der sie vor dem tausendtägigen Krieg um 1900 fliehen mussten. Um 1905 suchten sie in Cali eine neue Heimat. Sie siedelten in den Hangregionen, dort wo heute Siloé ist, da das fruchtbare Tal vollständig im Besitz von Zuckerrohrfirmen war. In Cali begannen sie mit der Arbeit, die sie aus ihrer Heimat kannten. Von den Goldminen vertrieben, stiegen sie in Siloé in die Kohleminen hinab. Die größeren Minen wurden nach der alten Heimat benannt: Marmatico. Die LandbesitzerInnen verboten ihnen häufig die Nutzung des Oberbodens, weswegen die Flüchtlinge keine festen Häuser bauen konnten. Die neuen Minenarbeiter lebten in ärmlichen Behausungen, oft direkt über den Eingängen zu den Minen. Diese wurden sowohl vertikal als auch horizontal in die Erde getrieben. Hauptabnehmer der Kohle waren die Pazifikeisenbahn und die Eisenbahn von Caldas sowie die aufstrebende Industrie in der nahe gelegenen Stadt Yumbo.

Die erste „Kohlekrise“ traf die Stadt und vor allem deren ärmste Bevölkerungsgruppe der Minenarbeiter am 11. Mai 1931. Aufgrund der Stilllegung einer der größten Kohleminen Los Chorros musste die Pazifikeisenbahn massenhaft Arbeiter entlassen. Die Eisenbahn hatte zuvor als einziger Arbeitgeber in Cali Rechte von Arbeitnehmern anerkannt. Die Entlassungen führten zu massenhaften Streiks der verbleibenden Arbeiter und zu Protesten, die die gesamten 30er-Jahre andauern sollten. Die demonstrierenden Minenarbeiter forderten unter anderem, die Eisenbahn nicht von Kohle auf Petroleum umzustellen. Angestoßen von dieser Protestbewegung gründeten Minenarbeiter der gesamten Region Gewerkschaften, um sich gegen die Unsicherheit ihrer Arbeitsplätze zu wehren, forderten Recht auf Arbeit, Arbeitsrechte und Sicherheitsvorkehrungen. Die Arbeiter kamen aus der Unsichtbarkeit untertage heraus und machten ihre Situation öffentlich, sogar in den Zeitungen wurde über sie berichtet. In diese Zeit fällt auch Calis größter Minenstreik von über 700 Arbeitern. Die damals während des Streiks gegründete Gewerkschaft der Minenarbeiter besteht bis heute.

Den Abbau der Kohle tätigten die marginalisierten Flüchtlinge in Siloé, den Handel mit der Kohle übernahmen die reichen BewohnerInnen des Viertels San Antonio in den sogenannten Carboneras, den Kohlemärkten. Kohle löste vor allem in den Küchen der teuren Hotels aber auch in der Industrie und nach und nach in den Wohnhäusern das Holzfeuer ab. Noch bis in die 50er-Jahre wurde dieses Kohlegeschäft hauptsächlich von ausländischen Ingenieuren und Landbesitzern kontrolliert, jedoch konnten sich auch lokale Unternehmer beim Abbau und der Vermarktung der Kohle etablieren.

Kohleabbau in Siloé vereinte Menschen aus allen südlichen Landesteilen auf der Suche nach Arbeit, vor allem weil die Nutzung des Unterbodens dort bis 1995 erlaubt war. Erst 1995 änderte die Stadtverwaltung den Abbau von Kohle aufgrund der landesweiten Gesetzesnovelle des Landesministeriums für Bergbau, verbot den Abbau aus dem Unterboden und schloss die innerstädtischen Minen. Die Differenzierung des Bodens in Ober- und Unterboden hatte schon damals genau die Funktion, die Oberflächennutzung des Landes vom Abbau von Rohstoffen zu trennen. Der Oberboden reicht bis ungefähr drei Meter Tiefe, darunter beginnt der Unterboden. Da diese Minen oft nicht ordnungsgemäß geschlossen wurden oder illegal weiter betrieben werden, besteht eine erhebliche Einsturzgefahr. Illegaler Kohleabbau wird in mindestens zehn Minen weiter betrieben. Oft kennen nur noch die AnwohnerInnen die alten Eingänge unter ihren kellerlosen Häusern. Die Häuser und Hütten stehen auf den Minen, Schächten, steilen Abstiegen sowie horizontalen Eingängen in den Hängen. Das birgt massive Gefahren für die Statik des Viertels. Die Unterhöhlung und durch Minen verursachte unterirdische Wasserläufe führen zu einer dramatischen Erdrutschgefahr. Kleinste Beben, die in Cali häufig vorkommen, gefährden die Gebäude zusätzlich. Siloé ist eines der ärmsten Viertel der Stadt, selbst mehrstöckige Häuser werden ohne tragende Säulen und Wände gezimmert. Siloé ist dazu kartografisch nicht erfasst, es gibt keine Verzeichnisse der Minen, nur eine Karte von 1957 verzeichnet nach Wissen der AnwohnerInnen einige Eingänge. Und nicht nur das, auch die chemische Zusammensetzung des Bodens aufgrund von Bergbau und die Qualität des Wassers werden nicht untersucht. Die AnwohnerInnen schützen ihre Minen und damit ihr kleines Einkommen vor Entdeckung und Strafverfolgung und erschweren damit Untersuchungen. All dies fügt sich zu einem unkontrollierbaren Risiko zusammen.

Das ehemals marginalisierte Arbeiterviertel ist bis heute prekär. Die Überbevölkerung in Siloé äußert sich in einer extremen räumlichen Enge. In Siloé steht jeder/m BewohnerIn 16 cm² (sic!) öffentlicher Raum zur Verfügung, Calis Durchschnitt liegt bei 2,76 m². Durch diese enorme Enge sowohl im öffentlichen Raum als auch in den Wohnungen werden Konflikte geschaffen beziehungsweise katalysiert. Es gibt 47 kriminelle Banden im Viertel. Der Großteil der öffentlichen Einrichtungen liegt außerhalb Siloés: Krankenhaus, Schulen, Sportanlagen und Nahverkehr befinden sich in den angrenzenden Vierteln. Somit entstehen weite Wege für die BewohnerInnen, die mit Kosten verbunden sind. In diesem Kontext ist es nicht verwunderlich, dass viele Menschen in Siloé auch weiterhin auf Kohleabbau setzen, trotz der gefährlichen körperlichen Arbeit. Die mineros steigen ohne jeglichen Arbeitsschutz in die Minen hinab, mit Helm, Stirnlampe und Axt. Der Abbau erfolgt ohne größere technische Hilfsmittel in Handarbeit. Viele ziehen aus Mangel an Alternativen die „ehrliche Arbeit“ in den Minen dem kriminellen Milieu vor.

Deswegen wehren sich die Betreiber und AnwohnerInnen in Siloé massiv gegen den Vorwurf, illegale Minen zu betreiben. Die Unterscheidung zwischen legal und illegal würde völlig die Realitäten verkennen, sagen sie. Multinationale Großkonzerne würden mit ihrem Raubbau die Natur zerstören, Menschenrechte mit Füßen treten und wie etwa im Norden Kolumbiens in La Guajira ganze Ethnien ausrotten, alles im legalen Rahmen. Wenn aber die kleine minería artesanal (handwerklicher Bergbau) das Landeigentum infrage stelle und damit die kapitalistische Ordnung angreife, würde sofort mit Kriminalisierung reagiert. Laut Verfassung gehört der Unterboden heute nämlich dem Staat Kolumbien, der Lizenzen an multinationale Firmen vergebe, während das Nutzungsrecht des eigenen Landes nur den Oberboden beinhalte. Die Problematik der Nutzungsrechte hat sich in den letzten hundert Jahren verkehrt. Wer früher in Siloé die Genehmigung hatte, aus dem Unterboden Kohle zu holen, durfte noch lange nicht sein Haus darauf bauen. Wer heute ein kleines Haus im Viertel, selbstredend auf dem Oberboden, stehen hat, darf schon lange keine Kohle mehr aus dem Unterboden holen.