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Umlernen, neu lernen, einmal Gelerntes verlernen

Rezension: Buen Vivir. Vom Recht auf ein gutes Leben von Alberto Acosta
Werner Rätz

Das aus den Anden stammende Konzept des Buen Vivir, des Guten Lebens, hat in den letzten Jahren auch hierzulande viel Aufmerksamkeit erfahren. Nunmehr liegt erstmals eine umfassende deutschsprachige Darstellung desselben in Buchform vor. Ihr Autor, Alberto Acosta, weiß, wovon er redet. Er war als Präsident der Verfassunggebenden Versammlung Ecuadors maßgeblich daran beteiligt, dass das Buen Vivir Verfassungsrang erhielt. Vorher war er Bergbau- und Energieminister in der Regierung Rafael Correa gewesen, später dessen Herausforderer bei der Präsidentschaftswahl 2013.

Das Buch erschien bereits vorher in Ecuador (2012) und wurde für die deutsche Fassung neu bearbeitet und aktualisiert. Ältere, zum Teil auch auf Deutsch vorliegende Artikel gingen ein. Es gliedert sich in acht inhaltliche Kapitel, eine Einführung und einen kurzen Ausblick. Nachdem die Einführung nochmals an die Yasuní-ITT-Initiative erinnert, die darauf zielte, das Erdöl im Yasuní-Nationalpark in der Erde zu lassen, wird im ersten Kapitel das westliche Konzept der „Entwicklung“ dargestellt und aus Sicht des Guten Lebens kritisiert, „da es heute als Antriebskraft das Leben eines Großteils der Menschheit reguliert und bestimmt, obwohl es diesem Großteil perverserweise unmöglich ist, die so sehnsüchtig angestrebte ‚Entwicklung‘ zu erlangen“ (S. 33). Dagegen ermöglicht „das ‚Gute Leben‘ – als vorurteilsfreier Vorschlag, der auf Harmonie mit der Natur, Gegenseitigkeit, Relationalität, Ergänzung und Solidarität zwischen Einzelpersonen und Gemeinschaften basiert, das Konzept der ständigen Akkumulation ablehnt und eine Rückkehr zu den Gebrauchswerten anstrebt – eine Formulierung alternativer Lebensvorstellungen“ (S. 39).

Schon die Wortwahl in dieser knappsten und genauesten Definition des Buen Vivir zu Beginn des zweiten Kapitels lässt erahnen, dass eine saubere Trennung von Kritik des westlichen Entwicklungsgedankens und des andinen Bezugs auf die Gemeinschaften nicht gewollt ist.
Vielmehr wird das Gute Leben durchaus in Konfrontation zur kapitalistischen Gesellschaft entwickelt. Herauszuheben ist dabei nicht zuletzt der Hinweis darauf, dass in dieser „die Bürger selbst“ nicht selten „in ihrer Eigenschaft als Verbraucher zu Urhebern ihrer eigenen Entfremdung“ werden (S. 41). Damit befindet sich Acosta nahe am Diskurs über Biomacht und Selbstzurichtung, wie er nicht zuletzt von Michel Foucault angestoßen wurde, ohne dem aber weiter nachzugehen. Er folgt vielmehr den Spuren der kapitalistischen Krise, die ja auch schon vor ihrer aktuellen Zuspitzung in den industriellen Kernländern für die arm gemachten Länder des Südens in Form der Verschuldung und anderer Phänomene dramatische Folgen hinterließ.

Ob der Missgriff, diesen Gegensatz mehrfach mit dem Begriffspaar „globaler Süden – globaler Norden“ zu fassen, tatsächlich vom Autor stammt, möchte ich fast bezweifeln, meint diese Sprachregelung doch ausdrücklich, dass Armut, also bildhaft „der Süden“, auch im geografischen Norden und Reichtum, also bildhaft „der Norden“, auch im geografischen Süden zu finden ist. Wenn wir schon bei der Sprache sind: Auch der regelmäßig genutzte Begriff „Lebensphilosophie“, die beispielsweise „das Tor für dieses emanzipatorische Projekt“ öffnet (S. 45), ist irreführend. Im spanischen Original ist die filosofía de la vida eine leicht verständliche und klare Formulierung, im Deutschen ist „Lebensphilosophie“ ein feststehender Begriff für eine bestimmte philosophische Richtung, die Grundlage der Konservativen Revolution der 20er-Jahre des letzten Jahrhunderts war und damit eine der reaktionärsten Strömungen deutscher Geistesgeschichte. Das ist schade bei einem ansonsten gut übersetzten und lektorierten Buch.

Im dritten Kapitel spürt der Autor Elementen des Konzepts der Entwicklung nach, die er als „flüchtiges Gespenst“ (S. 47) begreift, als leeres Versprechen, das zwar viele in seinen Bann zog, aber kaum einmal jemandem zuteil wurde. Kolonialismus und Rassismus sind in ihm noch hochaktuell. „Sie sind nicht nur eine Erinnerung an die Vergangenheit, sondern erklären die derzeitige Organisation der Welt und sind ein grundlegender Aspekt des Modernitätsdiskurses.“ (S. 57f) Nicht immer ist dabei nachvollziehbar, warum sich Alberto Acosta bei der Darstellung der europäischen Diskussion auf ganz bestimmte Quellen bezieht.
Wenn er etwa betont, dass „das ‚Gute Leben‘ als Alternative zur ‚Entwicklung‘ ein zivilisatorischer Vorschlag (ist), der den Ausweg aus dem Kapitalismus neu konfiguriert“ (S. 56), dann ist der Hauptautor der Studie „Zukunftsfähiges Deutschland in einer globalisierten Welt“ des Wuppertal-Instituts, Wolfgang Sachs, bei allen Verdiensten vielleicht nicht die naheliegendste Referenz.

Aber die Aussage des Buches bleibt klar und unmissverständlich: Es geht nicht um alternative Entwicklungen, sondern um „Alternativen zur Entwicklung“ (S. 70).
Dabei ist das „Gute Leben“ oder „Sumak Kawsay“ auf Quichua ein Ansatz, der „auf der Vision einer utopischen Zukunft aus dem Anden- und Amazonasraum aufbaut“ (S. 68). Das wird sehr deutlich werden, wenn der Autor im achten Kapitel darangeht, konkrete Vorstellungen zu präsentieren, wie Staat und Gesellschaft von den bestehenden Gemeinschaften her aufgebaut werden könnten. Da ist offenkundig, dass dies alles nur möglich ist, wo noch intakte ursprüngliche Gemeinschaften existieren. Das ist Acosta auch bewusst, selbst für Ecuador konstatiert er, dass „aufgrund der Binnenmigration immer mehr Menschen in den Städten leben“ und es gelte, „Antworten für breite, dort oft marginalisierte und ausgebeutete Bevölkerungsschichten“ zu finden. „Eine Konzeption des ‚Guten Lebens‘ für die Städte und von ihnen ausgehend zu finden, ist eine der größten und komplexesten Herausforderungen.“ (S. 169) Die durchaus auch in Lateinamerika breite Diskussion zum entsprechenden Thema, etwa bei Raúl Zibechi und anderen, referiert er dann aber nicht. „Dennoch“, heißt es in Fortführung unseres obigen Zitats, „darf diese Annäherung (also die geografische Herkunft des Konzepts aus den Anden und vom Amazonas – WR) weder ausschließend noch dogmatisch sein. Sie muss notwendigerweise ergänzt und erweitert werden und verwandte Vorschläge aus verschiedenen Regionen des Planeten, die auch auf den Kampf für einen zivilisatorischen Wandel abzielen, miteinbeziehen.“ (S. 68) Dem geht er im vierten Kapitel nach, indem er anhand der mit dem Buen Vivir verbundenen Philosophie danach fragt, bei welchen DenkerInnen Ähnliches auftaucht. Auch hier erscheinen die angeführten Bezüge manchmal zufällig, manchmal lückenhaft, aber überdeutlich ist der ehrliche Versuch, nicht selbstreferenziell zu bleiben: „Das ‚Gute Leben‘ ist kein monokulturelles Angebot. Es ist ein plurales Konzept und betrifft viele gute Arten des Zusammenlebens.“ (S. 83)

Dies sollte hierzulande durchaus auch als eine Warnung davor gelesen werden, das Konzept des Buen Vivir einfach auf unsere Situation zu übertragen, so wie immer wieder Teile der Solidaritätsbewegung ihre eigenen nicht durchsetzbaren Hoffnungen auf die Befreiungsbewegungen projiziert haben, auch wenn Acosta das so keineswegs sagt. Er warnt vielmehr vor anderen Formen der Vereinnahmung (Kapitel fünf). Einerseits gibt es Versuche, das „Gute Leben“ schlicht als Chiffre für all das zu benutzen, was die sogenannten fortschrittlichen Regierungen in Ecuador und Bolivien ohnehin tun. Andererseits erfolgt von indigener Seite gelegentlich der pauschale Vorwurf, damit sei das Buen Vivir zu einem alternativen Entwicklungsansatz verkommen und nur das Sumak Kawsay als Bezugspunkt übriggeblieben. Tatsächlich enthalte „das ‚Gute Leben‘ als Kern...“ ein großes revolutionäres Potenzial und lädt uns dazu ein, die anthropozentrischen Visionen durch biozentrische zu ersetzen und uns auf die damit einhergehenden politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Konsequenzen einzulassen“ (S. 91).

Die hier angesprochene Frage der Rechte der Natur, die ja als solche in der ecuadorianischen Verfassung ebenso verankert sind wie das „Gute Leben“, erörtert der Autor im sechsten Kapitel anhand verschiedener Aspekte der Ausplünderung des lateinamerikanischen Kontinents. Auch die fortschrittlichen Regierungen halten am Extraktivismus, am Ausgraben der Bodenschätze aus der Erde um jeden Preis ökologischer Zerstörung, fest. Sie diffamieren Kritik daran als kindisch, als staatsfeindlich und als abhängig von imperialistischen Interessen, weil sie die Armut festschreiben wolle. Dagegen betont die ecuadorianische Verfassung das Recht der Natur auf völlige Wiederherstellung im Falle der Zerstörung, nicht damit die armen Länder gar nicht mehr wachsen könnten, sondern damit Wachstum in einer Weise geschehe, in der es „nicht der Motor der Wirtschaft und nicht ihr höchstes Ziel sein“ kann (S. 106). Eine „internationale Strategie zur Errichtung einer universellen Naturrechtserklärung“ werde „immer dringlicher“ (S. 114). In der Verfassung Boliviens fehlen die Rechte der Natur, dafür definiert sie das Land ausdrücklich als „plurinationalen Staat“, was die ecuadorianische nicht tut. So kompliziert es in der Praxis auch sein mag und so sehr die bolivianische Regierungspolitik das Ziel im Konkreten auch ebenso verfehlen mag wie die ecuadorianische bei den Rechten der Natur, so notwendig erachtet Acosta diesen Ansatz. Die Indigenen treten „nicht einfach als individuelle Subjekte, sondern als kollektive und zusammenstehende Subjekte, als Inhaber gemeinschaftlicher Rechte auf“ (S. 135). Ihre „Kämpfe sind nicht nur Klassenkämpfe. Es müssen gesellschaftliche Probleme mit patriarchalen, rassistischen Implikationen angegangen werden sowie die enormen, wachsenden Generationenkonflikte“ (S. 138). Ein Konzept nicht nur individueller Bürgerbeteiligung, sondern auch „gemeinschaftlicher Bürgerschaften“ zusammen mit den Rechten der Natur kann den Weg zu einem „ökologischen Metabürgersein“ (S. 140, Eduardo Gudynas zitierend) öffnen. „Die Aufgabe besteht darin, einmal Gelerntes zu verlernen, gleichzeitig umzulernen und neu zu lernen.“ (S. 141)

Damit beschreibt das Buch nicht nur das Konzept des Buen Vivir verständlich und umfassend, sondern geht auch auf praktische, soziale und psychologische Schwierigkeiten ein, die mit dessen Rezeption verbunden sind. Das ist ein faszinierender Stoff, von einem scharfen Denker präsentiert, der den Ausgeschlossenen nicht nur in Sympathie zugewandt ist, sondern sich redlich bemüht, sie aus diesem Ausgeschlossensein heraus als Subjekte wahrzunehmen und in ihren Rechten anzuerkennen. Von ihnen und ihrem jahrhundertealten Beharrungswillen ist zu lernen, von ihnen aus die Welt neu zu denken. Ob alle Vorschläge, auf die Acosta sich im abschließenden Kapitel bezieht, wirklich brauchbar sind, kann dahingestellt bleiben, nach der Lektüre des Buches wird die/der LeserIn so viele Anregungen bekommen haben, dass man sie ohnehin nicht alle aufnehmen und verarbeiten kann.