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Puerto Rico ist nicht Griechenland

Die Schuldenkrise im US-Kolonialismus

Wochenlang wurde in diesem Sommer auf EU-Ebene die griechische Wirtschaftskrise verhandelt, wobei letztlich ein Austeritätsprogramm durchgesetzt wurde, dessen Auflagen die Autonomie der griechischen Regierungspolitik stark einschränken und die Krise weiter verschärfen werden. Zeitgleich erreichte auch in Puerto Rico die Wirtschafts- und Schuldenkrise einen neuen Höhepunkt. Ende Juni erklärte Alejandro García Padilla, der Gouverneur des mit den USA „frei assoziierten Staates“ die Verschuldung von 72 Milliarden US-Dollar für nicht zahlbar. Genauer gesagt konnte die Regierung fällige Zahlungen nicht fristgerecht tilgen, weshalb ihre Kreditwürdigkeit herabgestuft wurde und die Zahlungsunfähigkeit droht. Wenige Tage nach Padillas Bekenntnis scherzte Bundesfinanzminister Schäuble bei einer Bundesbank-Konferenz, er habe seinem US-Amtskollegen Jack Lew angeboten, Puerto Rico in die Eurozone zu übernehmen, wenn die USA im Gegenzug Griechenland in die Dollarunion nehmen würden. Dieser Vergleich erweckt nicht nur den Anschein, beide Staaten seien Handelsobjekte, er ignoriert auch den fundamental verschiedenen historischen Hintergrund beider Währungsunionen und wird der Komplexität von Puerto Ricos Schuldenkrise nicht gerecht.

Hannah Göppert

Oberflächlich gesehen gibt es Parallelen zwischen Griechenland und Puerto Rico: Beide Länder stecken in einem Teufelskreis, in dem Versuche, der hohen Verschuldung durch Sparmaßnahmen beizukommen, dramatische soziale Auswirkungen haben und die Wirtschaft weiter schwächen. Die seit einer Dekade andauernde Krise Puerto Ricos ist nicht nur an der Höhe des Schuldenstandes festzumachen. Seit Jahren bewegt sich die Arbeitslosigkeit auf einem Niveau von 12-15 Prozent, die Armutsrate beträgt 45 Prozent. Eine Besonderheit der Karibikinsel ist, dass sich viele Puerto RicanerInnen aufgrund der schlechten Wirtschaftsbedingungen und mangelnden Perspektiven für die Migration in die USA entschließen. In den letzten zehn Jahren ist die Bevölkerung Puerto Ricos um fünf Prozent geschrumpft, sodass viele Medien von einem „Exodus“ berichten. Dieser Trend trägt nicht nur zur Überalterung der Gesellschaft bei, sondern senkt auch die Steuereinnahmen und verstärkt die soziale Spaltung der Gesellschaft, da vor allem junge, gut ausgebildete Menschen das Land verlassen. Zurück bleiben einerseits diejenigen mit sicheren Arbeitsplätzen und andererseits jene, die es sich nicht leisten können zu emigrieren.

Auch die vorherrschenden Deutungen der Schuldenkrise erinnern an oft gehörte neoliberale Argumente in der Debatte um Griechenland. Demnach sei die Krise die Folge schlechter Haushaltsführung, insbesondere zu hoher Sozialausgaben, bei gleichzeitig zu niedrigen Steuern. Doch statt Gemeinsamkeiten mit Griechenland zu suchen, ist es für das Verständnis von Puerto Ricos Situation nötig, das Verhältnis zu den USA zu betrachten. Denn sowohl die Ursachen der Krise, als auch die Schwierigkeiten, einen Ausweg zu finden, sind tief darin verwurzelt.

Der Estado Libre Asociado de Puerto Rico ist juristisch gesehen noch immer eine Kolonie der USA. Die Regierung in San Juan ist zwar größtenteils autonom in der Verwaltung, besitzt jedoch keineswegs volle politische Souveränität. Dies hat eine Reihe von absurd anmutenden Konsequenzen: Zwar erhalten die BewohnerInnen des „Freistaats“ per Geburt die US-Staatsbürgerschaft, bei den Präsidentschaftswahlen sind sie jedoch nicht wahlberechtigt. Auch Puerto Ricos Delegierter im US-Repräsentantenhaus hat kein Stimmrecht. Zugleich mit der mangelnden politischen Repräsentation steht Puerto Rico unter der Jurisdiktion der Vereinigten Staaten. Außerdem zahlt es wie alle anderen Bundesstaaten Steuern an die US-Regierung, mit Ausnahme der Einkommenssteuer, die von der Lokalregierung festgelegt werden kann. Ebenso ist Puerto Rico in die sozialen Sicherungssysteme der USA eingebunden, sodass seine BürgerInnen sowohl einzahlen als auch bezugsberechtigt sind.

Harry Franqui-Rivera, Blogger und Historiker am Zentrum für Puerto Rico Studien an der City University of New York, erklärt, dass dieser komplizierte Status es der Regierung Puerto Ricos nahezu unmöglich macht, die Finanzlage zu sanieren.1 Als US-Territorium können sich weder der Inselstaat als Ganzes noch einzelne Gemeinden oder öffentliche Unternehmen bankrott erklären. US-Kommunen hingegen haben die Möglichkeit, ein Insolvenzverfahren einzuleiten. Diesen Mechanismus nutzte beispielsweise 2013 die Stadt Detroit, um ihren Schuldenstand von 18 Milliarden US-Dollar umzustrukturieren. Nachdem die Regierung in San Juan Einspruch gegen den Ausschluss von dieser Regelung erhoben hatte, bestätigte ein Gericht in den USA im Juli, dass die Insel keine Möglichkeit hat, einen Konkursantrag zu stellen. Trotzdem erlaubt der Abhängigkeitsstatus es nicht, von internationalen Geldgebern wie dem IWF ein Rettungsprogramm anzufordern. Hinzu kommt, dass Puerto Rico aufgrund der Währungsunion mit den USA seine Währung nicht abwerten kann, um Exporte anzukurbeln oder mit niedrigen Zinsen Anreize für Investitionen zu schaffen. In dieser Hinsicht ähnelt die Situation also tatsächlich der Griechenlands. Harry Franqui-Rivera bezeichnet die Gesamtheit dieser Bedingungen als „koloniales Dilemma“.

Das Verhältnis zu den USA erschwert nicht nur aktuell die politische Handlungsfähigkeit der Regierung von Gouverneur Padilla, sondern ist auch mitverantwortlich für das Entstehen der Krise. In den 1990er-Jahren hörten die USA auf, Investitionen in Puerto Rico, die Arbeitsplätze generiert hatten, zu unterstützen. Franqui-Rivera erklärt dies mit dem nachlassenden Interesse der USA an Puerto Rico mit dem Ende des Kalten Krieges, weil es ideologisch nicht mehr notwendig war, die Insel wie das wohlhabende karibische Gegenüber Kubas aussehen zu lassen. 2006 wurden zudem jahrzehntelang bestehende Steuervergünstigungen für in Puerto Rico produzierende Unternehmen eingestellt. Diese politischen Entscheidungen sind eingebettet in die globalen Trends der politischen Ökonomie in den 1990ern, die unter dem Paradigma von Deregulierung und Freihandel im Namen der wirtschaftlichen Globalisierung standen. Den Regeln des Marktes folgend, zogen sich viele US-Firmen, die aufgrund der niedrigeren Kosten im Vergleich zum Festland jahrzehntelang Produktionsstätten in Puerto Rico betrieben hatten, zurück. Außerdem verlagerte sich ein Teil der Textilproduktion an noch günstigere Produktionsorte, zum Beispiel in Mittelamerika. Deshalb ist seit 1996 die Zahl der Arbeitsplätze in der Industrie Puerto Ricos von 160 000 auf 75 000 gesunken.2 Die politischen und ökonomischen Veränderungen sorgten zudem auch für einen Rückgang des Tourismus, weil nun andere lateinamerikanische Länder als sichere und günstige Ziele für US-AmerikanerInnen und EuropäerInnen galten. Alle diese Faktoren trugen dazu bei, dass Puerto Rico 2006 in eine Wirtschaftskrise stürzte, von der es sich bis heute nicht erholt hat.

Obwohl Puerto Ricos Probleme eng mit dem Verhältnis zu den USA zusammenhängen, sind auch die häufig wechselnden lokalen Regierungen und ihr Umgang mit der Krise verantwortlich für die Höhe der Verschuldung und die drohende Zahlungsunfähigkeit. Seit Beginn der 2000er haben sich alle Regierungen in Reaktion auf die Liquiditätsprobleme kontinuierlich größere Summen geliehen. Außerdem haben sowohl die Partido Nuevo Progresista (PNP), die den US-Republikanern nahesteht, als auch die mit den US-Demokraten assoziierte Partido Popular Democrático (PPD) während ihrer Regierungszeiten versucht, die Finanzlage mit neoliberalen Maßnahmen zu verbessern. Dazu gehörten Privatisierungen sowie Steuer- und Rentenreformen, die letztlich vor allem die ökonomisch Benachteiligten weiter in die Armut drängten. Um mögliche Wege aus der Krise aufzuzeigen, hat die seit 2012 regierende PPD einer Gruppe renommierter Ökonomen unter der Leitung der Wirtschaftsprofessorin und ehemals leitenden IWF-Mitarbeiterin Anne O. Krueger den Auftrag gegeben, eine detaillierte Analyse der Krise zu erstellen. Das Ergebnis ist der sogenannte Krueger Report, der im Sommer der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Darin geben die AutorInnen eine Reihe von Empfehlungen, die das Wirtschaftswachstum in Puerto Rico durch strukturelle Reformen ankurbeln sollen. Sie zielen darauf ab, die Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen und das Vertrauen für Investoren und Kreditgeber wiederherzustellen. Außerdem soll eine Haushaltsreform den Schuldenabbau voranbringen.

Hector Cordero-Guzmán, Professor für Soziologie und öffentliche Verwaltung an der City University of New York, hat die Argumente und die Datengrundlage des Krueger Reports einer gründlichen Analyse unterzogen. Er kritisiert, dass der Bericht eine Deutung der Krise liefert, die sich auf ihre ökonomische und fiskale Dimension konzentriert, während er soziale und politische Aspekte außer Acht lässt. Die Empfehlungen knüpfen damit an die wenig erfolgreiche Politik der Vorgängerregierungen an, denn bei den „Sparmaßnahmen“ handelt es sich unter anderem um den massenhaften Abbau öffentlicher Stellen, die Streichung von Subventionen für Universitäten und Kürzungen im Gesundheitssystem sowie von Unterstützungsleistungen für Einkommensschwache; außerdem wird eine Absenkung des Mindestlohns nahegelegt. Um die Staatseinnahmen zu erhöhen, werden zudem verkaufsbasierte Steuererhöhungen, sprich eine höhere Mehrwertsteuer, empfohlen, was besonders für Geringverdienende eine Belastung darstellen würde. Cordero-Guzmán weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der Bericht nicht auf Armut und Ungleichheiten eingeht. Statt eine Umverteilung von Reichtum anzuvisieren, beispielsweise durch eine stärkere Besteuerung hoher Einkommen, würden die partikularen Interessen von Regierung, politischen Parteien, dem Privatsektor und Geldgebern geschützt. Der Krueger Report erscheint damit ganz im Stil der Auflagen, an denen nicht nur die Vorgängerregierungen von Syriza in Griechenland schon scheiterten. Auch in Irland, Portugal und Spanien zeigte der Umgang mit Haushaltsdefiziten in den letzten Jahren, dass häufig nicht das bessere ökonomische Argument gilt: Austeritätspolitik ist als Bestandteil kapitalistischer Ideologie zu verstehen, bei der es um den Erhalt von Vertrauen und Macht geht.3

Codero-Guzmán sieht außerdem in vielen im Krueger Report angeführten Argumenten auf kolonialen Stereotypen fußende Mythen über Puerto Rico widergespiegelt. So werde der Inselstaat als ein Ort dargestellt, an dem die Menschen schlecht ausgebildet und Sozialleistungen, Arbeitsrecht und Mindestlohn zu hoch seien. Damit würde der Bericht die Vorstellung, Puerto Ricaner seien faul und würden lieber von Unterstützungsleistungen leben als zu arbeiten, implizieren. Diese Logik lässt die Armen, die Geringverdienenden und andere benachteiligte Mitglieder der Gesellschaft als für die Krise verantwortlich erscheinen. Derartige Argumente würden typische Sorgen von Mittelschichtangehörigen, die Angst vor dem Verlust ihrer Arbeitsplätze und ihres Wohlstandes haben, bedienen und dadurch Missgunst gegenüber den Schwächeren schüren. Durch den wissenschaftlichen Charakter des Krueger Reports und den Stellenwert, der ihm zugeschrieben wird, werde derartigen Stereotypen neue Legitimität verliehen.

Puerto Ricos Regierung befindet sich in einem Dilemma. Einerseits ist sie bemüht, den Anforderungen ihrer Geldgeber gerecht zu werden, andererseits droht das von Anne Krueger und ihren Kollegen verschriebene Austeritätsrezept, die Krise und ihre Auswirkungen weiter in die Länge zu ziehen. Deshalb verlangt Gouverneur Padilla konkrete Unterstützung von der US-Regierung, und auch in der Zivilgesellschaft werden Forderungen nach Finanzhilfen, Schuldenerlass und einem Investitionsplan, der die Wirtschaft stabilisiert, laut. Der Mangel an Reaktionen aus Washington auf diese Appelle bestätigt, dass die Wirtschaftskrise auch eine politische Krise ist.

Es ist daher nicht überraschend, dass die Frage nach einer Reform von Puerto Ricos Staatsform erneut im Raum steht. Im jüngsten Referendum von 2012 äußerte eine knappe Mehrheit der Bevölkerung den Wunsch nach einer Änderung des Status Quo. Die Anhänger der Unabhängigkeitsbewegung argumentieren, dass Puerto Rico, von den USA losgelöst, sich an andere Geldgeber wenden könnte. Harry Franqui-Rivera sieht in der Unabhängigkeit jedoch keine Lösung, da sie für die PuertoricanerInnen den Verlust ihrer US-Staatsbürgerschaft bedeuten würde. Außerdem müssten viele Institutionen, die bis­lang von Washington aus geregelt werden, neu aufgebaut und eine eigene Währung etabliert werden. Damit hätte das Land sehr schwierige Startbedingungen, um die Krise zu bewältigen.4 Ein Großteil der Bevölkerung scheint das ähnlich zu sehen. Im Referendum stimmten 61 Prozent dafür, ein vollwertiger Bundesstaat der USA zu werden, während nur 5,5 Prozent eine unabhängige Republik als präferierte Staatsform angaben.

Anders als Griechenland ist Puerto Rico zumindest formell nicht dazu verpflichtet, die Sparmaßnahmen zu befolgen. Deshalb wäre – mit entsprechendem politischem Willen – ein anderer Kurs denkbar. Harry Franqui-Rivera sieht Poten­tial für nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung in der Diversifizierung des Agrarsektors und der Förderung von kleinen und mittelständischen Unternehmen. Dazu sei es notwendig, die Mittelschicht zu entlasten, statt an steuerlichen Vorteilen für große (US-)Unternehmen und Millionäre festzuhalten.

Den Gemeinsamkeiten im Diskurs um Puerto Rico und Griechenland liegt das Paradigma der vermeintlich alternativlosen Austerität zugrunde. Doch die fehlende politische Souveränität Puerto Ricos, seine Schulden umzustrukturieren oder den Bankrott zu erklären, liegt im kolonialen Verhältnis zu den sich vor Verantwortung drückenden USA begründet. Schäubles Vergleich unterscheidet nicht zwischen den seit über einem Jahrhundert bestehen Abhängigkeiten und jenen, die heute in Europa neu geschaffen werden. Sein Tauschangebot sagt somit wenig über Puerto Ricos Schuldenkrise aus, vielmehr ist es eine weitere Demonstration der herablassenden Haltung der Bundesregierung gegenüber Griechenland.