ila

Zwei Frauenmorde am Tag

Gewalt gegen Frauen, weil sie Frauen sind

Sie liegen an Straßenrändern, mitten in einem Park oder wie weggeworfen auf einer Müllkippe. Oft sind die toten Körper mit Müllsäcken abgedeckt, aber viele Täter machen sich noch nicht einmal die Mühe, die Leichen zu verstecken und ihre Taten zu verschleiern. Was hier reißerisch und für manch einen als unangebracht übertrieben beschrieben klingt, spiegelt letztendlich doch nur die Realität der sexistisch und machistisch geprägten Gesellschaft von Guatemala.

Kirsten Clodius

Seit Ende der 1990er-Jahre haben alle Formen häuslicher und sexueller Gewalt, Frauenmorde eingeschlossen, in Mittelamerika stark zugenommen. Expertinnen sprechen von epidemischen Ausmaßen. El Salvador und Guatemala belegen weltweit die Plätze eins und zwei in Fällen extremer Gewalt gegen Frauen.1 

Belastbares Zahlenmaterial zu finden war lange Zeit eine Herausforderung, weil über Jahrzehnte keine Statistik geführt wurde. Noch immer fehlt es an einer systematischen, umfassenden Datenerfassung. Das staatliche Institut für Gerichtsmedizin von Guatemala (INACIF) gibt für das Jahr 2014 705 Fälle von ermordeten Frauen an. 2013 waren es 748. Etwa zwei Frauen verloren demnach pro Tag ihr Leben durch vorsätzliche Anwendung von Gewalt. In den letzten 15 Jahren wurden über 9000 Frauenmorde registriert. Dazu kommt die hohe Dunkelziffer der Fälle, die nie zur Anzeige gebracht oder nicht statistisch erfasst wurden. Entsprechend der Datenauswertung wurden die meisten Frauen erschossen, das zweithäufigste Mordwerkzeug waren Hieb- und Stichwaffen wie Messer, Macheten etc. An dritter Stelle wurde Tod durch Ersticken festgestellt. Es wurden aber auch Frauen durch Enthauptungen regelrecht hingerichtet.
Um das Phänomen der Frauenmorde und Gewalt gegen Frauen besser zu verstehen, müssen vor allem die strukturelle, institutionelle Gewalt, das Versagen des Justizapparates und die Straflosigkeit der Täter näher betrachtet werden. Häusliche Gewalt und im Besonderen gegen Frauen bis hin zum Mord ist in Guatemala keine neue Realität. Sie hat eine lange Geschichte und vielfach werden kulturelle, ideologische und religiöse Traditionen angeführt, um ihren Fortbestand zu rechtfertigen. Frauen sind täglich von Gewalt bedroht – durch ihre Väter, Verwandte, Ehemänner, aber auch durch fremde Männer. Die Gewalt nimmt dabei unterschiedliche Formen an: Die Frauen werden eingeschüchtert, kontrolliert, verfolgt, sexuell belästigt und vergewaltigt – sowohl im häuslichen als auch im sozialen Umfeld. Im privaten Bereich untersagen Männer Frauen nicht selten den Kontakt zu Freunden und ihrer Familie. Frauen werden so vom sozialen Umfeld isoliert. Bei den Mayas, der größten indigenen Gruppe in Guatemala, werden Frauen und Mädchen besonders diskriminiert. Schon während des Bürgerkriegs richtete sich die staatliche Gewalt vor allem gegen indigene Frauen. Vergewaltigung war ein häufiges Kriegsverbrechen und wurde strategisch eingesetzt.

Gefördert wird die strukturelle gesellschaftliche Gewalt  durch das passive Verhalten der guatemaltekischen Regierung. Nur selten werden Fälle von Gewalt gegen Frauen oder Frauenmorde verfolgt. Das hohe Maß an Straflosigkeit senkt die Hemmschwelle zur Gewaltanwendung, der Staat macht sich also zum Mittäter, sowohl an der Gewalttat als auch an den strukturellen Ungerechtigkeiten, die Frauen täglich erleiden. Man spricht von einer „Kultur der Straflosigkeit“, die seit dem Bürgerkrieg längst zur Tradition gehört. Berichte in öffentlichen Medien gehen selten ernsthaft auf das sensible Thema ein. Strukturelle Hintergründe bleiben ohne Analyse, ein gesellschaftliches Umdenken wird nicht angestoßen. Im Alltag werden traditionelle Rollenbilder des „männlichen Latino“ kontinuierlich reproduziert. Mütter erziehen ihre Kinder, wie sie selbst erzogen wurden, Fernsehen, Musik, Bilder, Internet und Medien stellen die Macho-Kultur nicht in Frage, sie verstärken sie. Alles in allem wird Gewalt als ein probates Mittel zur Durchsetzung des männlichen Willens anerkannt. In der Erziehung spielt das gebetsmühlenartige Wiederholen von geschlechtsbezogenen Attributen eine starke Rolle: Männer werden als das starke Geschlecht verherrlicht und Eigenschaften wie „mächtig“ und „gewaltsam“ als männlich definiert. Dagegen wird die untergeordnete Rolle der Frau verstärkt. Besonders in der indigenen Bevölkerungsschicht Guatemalas ist ein traditionelles Rollenbild lebendig, in der die Frau dem Mann unterwürfig ist.

Der rechtliche Schutz, den der guatemaltekische Staat mit dem Gesetz zur Verhütung, Bestrafung und Sanktionierung von familiärer Gewalt (1996), dem Gesetz zur Würdigung und Förderung von Frauen (1999) und dem Gesetz gegen Femizid und andere Formen von Gewalt gegen Frauen (2008) bietet, konnte bisher die Gewalt gegen Frauen nicht hinreichend bremsen. Aber die Gesetze, insbesondere das zuletzt verabschiedete Gesetz gegen Femizid und andere Formen von Gewalt gegen Frauen, symbolisieren zumindest ein gewachsenes Bewusstsein für das Unrecht und die Dringlichkeit, Gewalt gegen Frauen strafrechtlich zu verfolgen. SEPREM, das staatliche Frauensekretariat, das mit der Umsetzung des Gesetzes befasst ist, stolpert in der Realität über fehlende interne Rollen- und Aufgabenbeschreibungen und letztendlich den fehlenden politischen Willen der Regierung zur Anwendung der gesetzlich festgelegten Maßnahmen.

Als eine von Gewalt betroffene Frau Anzeige zu erstatten ist leider allzu oft aussichtslos und nicht nur deshalb sprechen viele Gründe gegen den Weg zur Polizei. Häufig können Frauen nicht stundenweise oder gar einen halben Tag von der Familie oder der Arbeit fern bleiben.
Vor allem Frauen aus bildungsferneren Kreisen im ländlichen Raum, die häusliche Gewalt erfahren oder sogar Gefahr laufen, ermordet zu werden, stehen oft ohne institutionelle Unterstützung da.

Auch ist der familiäre Druck, nicht noch größeren Schaden durch eine Anzeige anzurichten, groß; Rache schüren soll vermieden werden. Trotz immer wiederkehrender Gewalt fühlen sich viele Frauen schuldig, auch wenn sie ihren Aggressor anzeigen oder ins Gefängnis bringen könnten. Erst recht, wenn es sich dabei um den Vater ihrer Kinder handelt. Vielfach kann nur eine psychologische Beratung, die zumeist von Frauenorganisationen kostenlos angeboten wird, den Betroffenen die ausreichende emotionale Stabilität ermöglichen, damit sie in der Lage sind, zur Polizei zu gehen. Die Quote derer, die ihre Anzeige zurückziehen, ist dennoch hoch. Die Erfahrung verschleppter Gerichtsprozesse, verloren gegangener Akten und völlig straffrei ausgehender Prozesse hemmen die Entscheidung, Anzeige zu erstatten. Die durchschnittliche Zahl der Anzeigen in Guatemala liegt nach Ministeriumsaussagen bei 52 000 im Jahr. Für 2015 wurde in einer offiziellen Pressemeldung bekannt gegeben, dass in den ersten fünf Monaten 304 Verdächtige festgenommen wurden, es kam zu 243 Verurteilungen.
Viele engagierte Feministinnen und Frauenrechtsorganisationen arbeiten täglich daran, den Betroffenen von Gewalt eine Stimme zu geben. Dort wo der Staat versagt, übernehmen sie als zivilgesellschaftliche Organisationen Verantwortung und bieten Betroffenen die dringend benötigte Hilfe an. Ähnlich der fehlenden politischen Gemeinschaft der Nichtregierungsorganisationen allgemein, agiert auch die Frauenbewegung nicht geschlossen. Und oftmals wird ihr Engagement von Anfeindungen und Diskriminierungen begleitet, denn bei der Bevölkerung herrschen noch immer viele Vorurteile gegenüber. Ihre Aktionen werden nicht selten als feministisch-subversiv und mit Unbehagen beäugt. Im Kampf gegen Gewalt und Feminizid spielen die Frauenorganisationen dennoch eine entscheidende Rolle, bei der sie nicht auf die Unterstützung seitens des Staates zählen können. Die Frauenorganisation UNAMG (Unidad Nacional de Mujeres Guatemaltecas) arbeitet seit Mitte der 90er-Jahre gegen sexuelle Gewalt gegen Frauen und für Geschlechtergerechtigkeit. Auch die Frauenorganisation GGM (Grupo de Mujeres Guatemaltecas) spielt seit langem eine wichtige Rolle, sie macht Öffentlichkeitsarbeit für einen gesellschaftlichen Wandel sowie politische Lobbyarbeit. 1991 gründete GGM die ersten Frauenhäuser, die eine Zeit lang durch staatliche Mittel finanziert wurden. Als Teil des Netzwerks gegen Gewalt gegen Frauen – REDNOVI – waren sie in der nationalen Koordinationsstelle zur Gewaltprävention (CONAPREVI) vertreten, bevor diese 2012 aufgrund fehlenden politischen Willens und Unfähigkeit des staatlichen Frauensekretariats zum Erliegen kam und erst Anfang 2015 die Arbeit schleppend wieder aufnahm. Drei Organisationen (Asociación Nuevos Horizontes, Grupo Guatemalteco de Mujeres und Asociación Mujeres Transformando el Mundo) vertreten dort jetzt die Zivilgesellschaft und machen sich für die Einhaltung von Frauenrechten stark. Dem Handlungsdefizit kann aber nur langsam entgegengewirkt werden. Zum Beispiel liegen die Anlaufstellen für Frauen und Frauenhäuser in der Verantwortung der nationalen Koordinationsstelle zur Gewaltprävention, sie sind aber kaum (noch) funktionstüchtig, weil es derzeit keine Mittel für ihre Bewirtschaftung gibt. Teilweise werden Frauenhäuser gänzlich in die Verantwortung von Frauenorganisationen gegeben, die dann zwar über gut eingerichtete Häuser verfügen, aber für die Deckung der laufenden Kosten auf eigene Finanzquellen angewiesen sind, eben weil der staatliche Haushalt die benötigten Mittel nicht freigibt. Politisch und institutionell hat das mitunter eine Schwächung der jeweiligen Frauenorganisation zu Folge. Für indigene Frauen macht sich zum Beispiel Ixqik stark, aber durch ihren Einsatz im Frauenhaus hat die Organisation kaum noch Ressourcen, ihre politische Lobbyarbeit weiterzuführen, und damit langfristig strukturelle Veränderungen zu erwirken. Die Bewirtschaftung der Frauenhäuser ist seit langer Zeit ein Streitpunkt innerhalb der Frauenbewegung.