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Diäten haben noch nie was gebracht

Der mexikanische Film „Paraíso“ zeigt die Nöte einer dicken jungen Frau
Britt Weyde

Carmen und Alfredo lieben sich. Ihr Umgang miteinander ist liebevoll, im Bett läuft’s rund, bei kleinen Meinungsverschiedenheiten wird immer ein Kompromiss gefunden. Auch optisch harmonieren sie hervorragend: Oft sind sie im Partnerlook gekleidet, die gleichen GAP-Trainingsanzüge, die gleichen karierten Hemden, sie in pink, er in hellblau. Und beide in XXL. Sie leben im Speckgürtel von Mexiko-Stadt, in der gutbürgerlichen Ciudad Satélite. Seit drei Jahren sind sie glücklich zusammen. Alfredo ist IT-Spezialist bei einer Bank, Carmen arbeitet im Steuerbüro ihrer Eltern. Also alles in Butter? Jein. Denn Alfredo ist befördert worden und hat eine Anstellung in der Bankzentrale in Mexiko-Stadt bekommen. Ein Umzug in den Moloch steht an. Alfredo ist voller Vorfreude auf die neue Lebensphase, Carmen ist da skeptischer. Schließlich muss sie viel aufgeben, ihre Berufstätigkeit, ihr gewohntes Umfeld. Und D.F ist ja so gefährlich! Deshalb schenken Carmens Eltern dem Paar einen überdimensionierten Safe für die neue Wohnung.

Die romantische Komödie nach der gleichnamigen Romanvorlage der Schriftstellerin Julieta Arévalo ist der zweite Spielfilm der mexikanischen Regisseurin Mariana Chenillo. Er lief bereits auf den internationalen Filmfestivals von Toronto und San Sebastían und letzten Dezember bei den Lateinamerika-Filmtagen in Hamburg.

Das Appartement, in das Alfredo und Carmen einziehen, sieht heruntergekommener aus als beim Besichtigungstermin. Die nächste Enttäuschung: Ihr überdimensionierter Kühlschrank passt nicht durch die Tür! Das lässt nichts Gutes ahnen. Richtig dicke kommt’s beim alljährlichen Empfang der Bank: Die beiden scheinen die einzigen Übergewichtigen im Saal zu sein, die Bankangestellten samt Anhang sind alle perfekt gestylt und gestählt. Carmen fühlt sich sichtlich unwohl. Die komplette Demütigung folgt auf dem Damenklo, wo ihr ein Dialog zweier gehässiger Tussis zu Ohren kommt: „Hast du die beiden Dicken gesehen? Als ob sie direkt aus einer Ausstellung von Botero entsprungen seien!“ – „Wie die beiden wohl zusammen Sex haben?! Er soll übrigens beim Vorstellungsgespräch kaum in unseren Bürostuhl reingepasst haben!“ Zu Hause googelt Carmen nach dem kolumbianischen Künstler Botero. Mit einem Schlag scheint ihr bewusst zu werden, dass sie dick, ja fett ist. Als sie beim Flanieren an einem Diät-Club vorbeikommt, beschließt sie abzunehmen.

Alfredo findet den Plan zunächst absurd, aber als guter Partner macht er mit. Sie quälen sich gemeinsam beim Sport ab und lassen sich vom Diätclubtrainer (gespielt vom mexikanischen Schauspielstar Luis Gerardo Méndez) einheizen: „Al mal peso – dále prisa!“, lautet der Eröffnungschor: „Übergewicht, verdrück dich!“ Nach anfänglichem Murren (Sellerieschnitze in der Brotbox!) zieht Alfredo die Diät straight durch, Carmen schwächelt. Alfredo fängt an, morgens alleine joggen zu gehen. Tatsächlich wird er im Laufe eines Jahres stolze 46 Kilo verlieren. Carmen hingegen futtert heimlich Schokolade und besucht einen Kochkurs zu galizischer Küche. Von der hauptsächlich älteren Damenriege im Kochclub wird sie herzlich aufgenommen.

Alfredo wird ein anderer. Er findet Gefallen an seinem neuen schlanken Ich. Die restliche Damenwelt bekundet Interesse. Allerdings war die betreffende Kollegin schon vorher auf ihn aufmerksam geworden, als Alfredo noch ein dicker Klops war. Was mal wieder die Ungerechtigkeit im vorherrschenden Geschlechterverhältnis zeigt: Die Typen können aus dem Leim gehen und bekommen trotzdem schöne Ladies ab, während dicke Frauen ein schlechtes Standing auf dem erotischen Markt haben. Und Diäten bringen nicht immer den erhofften Erfolg. Die einen sind nun mal schlechte Essensverwerterinnen, wie die dünne Angestellte im Diätclub, die wöchentlich das Gewicht der Teilnehmenden kontrolliert. Sie hat mit Carmen einen Deal ausgemacht: Gegen die Lieferung von galizischen Torten und anderen Köstlichkeiten notiert sie jede Woche für Carmen eine fingierte Gewichtsreduktion von 0,5 Kilogramm. Andere wiederum sind gute EssensverwerterInnen, so wie Carmen und ihre Familie.

Zum vierten Hochzeitstag schenkt Carmen ihrem Alfredo ein Hemd, das ihm drei Größen zu groß ist, er schenkt ihr einen Hometrainer. Mehr Entfremdung geht nicht. Der alljährliche Bankempfang steht vor der Tür. Dieses Mal wird Alfredo allein dort hingehen. Die Zuschauerinnenidentifikation mit Carmen ist hundertprozentig. Wer würde schon wieder diese oberflächliche, aalglatte Performance im Abendkleid ertragen wollen! Die Beziehungskrise wird manifest. „Der neue Alfredo ist eine fürchterliche Person, mit dem ich nicht mehr zusammen sein möchte!“, schluchzt Carmen.

Das Angenehme an diesem netten Beziehungsfilm: Regisseurin Chenillo betont, dass sie keine Botschaft zum Thema Übergewicht vermitteln wollte. Auch wenn dies das Gesundheitsproblem Nummer 1 in Mexiko ist, seien entsprechende Kampagnen Aufgabe der zuständigen Behörden, so Chenillo. „Ich wollte mit diesem Film eine liebenswerte Geschichte erzählen, die für das weibliche Publikum glaubwürdig ist“, sagt sie gegenüber der Zeitung El Universal. Und das ist ihr ganz gut gelungen. Der Film hat zwar mit dem Mexiko, über das wir in der ila häufig berichten, nicht so viel zu tun. Diese weiße Mittelschichtkomödie könnte genauso gut in New York, Paris oder München spielen. Die Botschaft ist also recht universell: Es geht um das, was das Glück im Leben ausmacht, dieses flüchtige, fragile Etwas, das Paradies auf Erden.